Papst Franziskus am 4. Mai 2022 in Rom.
Vatikan

Kyrill als Putins Ministrant, bellende Nato: Diplomatie-Experte erklärt Franziskus' Klartext-Interview

«Der Papst erklärt sich öffentlich. Er möchte nicht als Zauderer wahrgenommen werden», sagt Diplomatie-Kenner Jörg Ernesti über Franziskus’ Klartext-Interview. Offenbar wollte der Vatikan 50 Busse für eine Evakuierung nach Mariupol schicken – doch Moskau verhinderte das.

Raphael Rauch

Ein Artikel des «Corriere della Sera» mit brisanten Äusserungen von Papst Franziskus schlägt hohe Wellen. Hatte Franziskus sein flottes Mundwerk nicht im Griff?

Jörg Ernesti*: Nein, so ein Interview wird genau geplant und vorbereitet. Franziskus hatte im Vorfeld die Fragen der Journalisten. Auch das Staatssekretariat war informiert. Am Ende konnte Franziskus’ Apparat die Zitate autorisieren. Der Papst hat nicht salopp dahergeredet, sondern genau gewusst, was er sagt.   

Jörg Ernesti, Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg
Jörg Ernesti, Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg

Was überrascht Sie an dem Interview?

Ernesti: Wir erfahren, wie das Video-Gespräch am 16. März zwischen Papst Franziskus, Ökumene-Minister Kurt Koch, Patriarch Kyrill und Metropolit Hilarion in etwa abgelaufen ist. Es war aus Sicht des Vatikans kein gutes Gespräch. Franziskus musste Kyrill daran erinnern, dass hier Männer Gottes reden und nicht Politiker. Franziskus beklagt sich darüber, dass der Patriarch 20 Minuten lang mit einem Papier herumgewedelt hat, auf dem die ukrainische Landkarte zu sehen war. Kyrill hat ihm eine regelrechte Vorlesung darüber gehalten, warum es den Krieg braucht. Doch es gab ein «missing link», das ein Reporter des Magazins «L’Espresso» enthüllt hat.

«Franziskus hat sich an Patriarch Kyrill gewandt und ihn gebeten, die Aktion gemeinsam zu verantworten.»

Worum geht’s da?

Ernesti: Der «L’Espresso» stützt sich auf Angaben des Nuntius in Kiew. Demnach hat es Verhandlungen über einen humanitären Korridor für Mariupol gegeben. Es standen schon 50 Busse bereit, die der Vatikan schicken wollte. Aber in letzter Minute hat Moskau die Aktion gestoppt. Als es Schwierigkeiten gab, hat sich Franziskus an Patriarch Kyrill gewandt und ihn gebeten, die Aktion gemeinsam zu verantworten. Sie wurde dann aber doch in letzter Minute von der Militärführung gestoppt.

Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.
Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.

Macht der Papst nun seine Enttäuschung öffentlich, weil die diskreten Verhandlungen nichts gebracht haben?

Ernesti: So kann man das sehen. Der Papst erklärt sich öffentlich. Er möchte nicht als Zauderer wahrgenommen werden und nicht wie Pius XII. enden, der sich aus Sicht der Nachwelt zu passiv und zu diskret verhalten hat. 

Wladimir Putin bekreuzigt sich in der Osternacht 2022.
Wladimir Putin bekreuzigt sich in der Osternacht 2022.

Was gewinnt der Papst durch das Interview?

Ernesti: Er zeigt, dass der Heilige Stuhl nicht untätig ist. Und er erhöht den Druck auf Putin. Franziskus hat ja gesagt, dass er gerne nach Moskau reisen würde – aber auf eine Einladung wartet. Normalerweise lädt ein Staatsoberhaupt ein anderes Staatsoberhaupt ein. Dass der Papst bislang vergebens auf eine Antwort wartet, ist ein Affront.

«Ein Besuch in Kiew würde nichts bringen.»

Warum reist Franziskus stattdessen nicht einfach nach Kiew?

ErnestI: Ein Besuch in Kiew würde nichts bringen – der Schlüssel zur Lösung des Krieges liegt in Moskau. Eine einseitige Solidarisierung mit der Ukraine würde dem Papst Handlungsspielraum nehmen. 

Putin 2015 bei Papst Franziskus
Putin 2015 bei Papst Franziskus

Wird Putin Franziskus einladen?

Ernesti: Nein, davon ist nicht auszugehen. Der moralische Druck würde auf ihn dann noch höher. Für Putin ist eine Papst-Reise ein Risiko: Es ist nicht auszumalen, wie die Öffentlichkeit darauf reagieren würde, wenn er eine Bitte des Papstes zurückweisen müsste. Einen Papst stösst man schwerer vor den Kopf als den französischen Präsidenten oder den UN-Generalsekretär.

«Es geht um die Spirale der Gewalt und um die Hochrüstungsindustrie.»

Fällt Franziskus dem Westen in den Rücken, indem er sagt, die Nato habe vor den Türen Russlands gebellt?

Ernesti: Ich ordne das Zitat ein in Franziskus’ Kritik am Wettrüsten, wie er es auch in «Fratelli tutti» darlegt. Es geht um die Spirale der Gewalt und um die Hochrüstungsindustrie. Kritik daran ist eine Konstante in der vatikanischen Aussenpolitik.

Der russische Patriarch Kyrill in der Osternacht.
Der russische Patriarch Kyrill in der Osternacht.

Franziskus sieht Patriarch Kyrill als Putins Messdiener. Was sagen Sie dazu?

Ernesti: Hier sieht man die Enttäuschung, ja das Entsetzen des Papstes über Kyrills Haltung. Aber der Papst hat die Formulierung etwas abgeschwächter gesagt. Er hat gesagt: »Der Patriarch kann sich nicht einfach zum Messdiener Putins machen.» Dieser Unterschied ist zwar nur eine Nuance, aber eine nicht unwichtige Nuance. 

«Franziskus hat den Aggressor nicht verurteilt.»

Ist Franziskus bei Kyrill jetzt unten durch?

Ernesti: Nein. Es ist nicht zum Bruch gekommen. Eine Begegnung, die im Libanon geplant war, hat der Vatikan zwar abgesagt. Aber das war schon vor dem Interview. Franziskus hat den Aggressor nicht verurteilt. Von daher kann Kyrill mit dem Messdiener-Zitat gut leben.

Kardinal Kurt Koch an einem Gottesdienst 2021 in Rom.
Kardinal Kurt Koch an einem Gottesdienst 2021 in Rom.

Kurienkardinal Kurt Koch hat über die Video-Konferenz mit Moskau gesagt, Franziskus habe gesagt: «Wissen Sie, wir sind doch nicht Kleriker des Staates, sondern wir sind Hirten des Volkes und haben deshalb keine andere Botschaft als diejenige, diesen Krieg zu beenden. Das war eine sehr klare Botschaft. Ob sie so beim Patriarchen angekommen ist, kann ich nicht beurteilen.» Gibt der Schweizer Kurt Koch das Gespräch hier zu diplomatisch wieder?

Ernesti: Naja, die Video-Konferenz war ja nicht undiplomatisch. Das Ergebnis des Gesprächs war, dass die Brücken nicht abgebrochen wurden. Kyrill hat Franziskus explizit dafür gedankt, dass er ihn nicht verurteilt habe. Papst Franziskus hält seine Überparteilichkeit durch. Er äussert sich mit seinem Temperament anders als andere Päpste, bleibt aber in der Tradition der vatikanischen Aussenpolitik: Er verurteilt keine Staatsführer, schon gar nicht ein ganzes Volk, und macht nicht unbedingt das, was die Massen von ihm fordern, zum Beispiel nach Kiew zu reisen. Der Papst will alle Gesprächskanäle offenhalten. 

Papst Franziskus bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz, am 4. Mai 2022
Papst Franziskus bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz, am 4. Mai 2022

Also «courant normal» in der Vatikan-Diplomatie?

Ernesti: Was mir neu erscheint: Die fieberhafte Hektik, mit der im Vatikan gerade eine Aktion nach der anderen folgt. Für vatikanische Verhältnisse geht es gerade sehr eng getaktet zu.

«Eine gewisse Zurückhaltung hat der Vatikan sich also vorbehalten.»

Warum hat Franziskus den «Corriere della Sera» ausgewählt?

Ernesti: Auch das hat historische Gründe. Das erste richtige Interview, das ein Papst einer Zeitung gegeben hat, war Paul VI. am Vorabend seiner Reise zur UNO nach New York 1965. Dieses Interview hatte Paul VI. dem «Corriere della Sera» gegeben. Damals war es ein Wortlaut-Interview. Das jetzige Interview ist nur in einem Fliesstext wiedergegeben. Eine gewisse Zurückhaltung hat der Vatikan sich also vorbehalten. Trotzdem bin ich mir sicher, dass dieses Interview in die Kirchengeschichte eingehen wird.

* Jörg Ernesti (55) ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg. 2022 ist von ihm Herder-Verlag das Buch erschienen «Friedensmacht: Die vatikanische Aussenpolitik seit 1870».


Papst Franziskus am 4. Mai 2022 in Rom. | © Oliver Sittel
5. Mai 2022 | 16:09
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