Kurt Koch warnt vor Verdrängung des Religiösen aus der Öffentlichkeit

Basel, 23.7.12 (Kipa) Eigentlich sei Europa der säkularisierteste Kontinent, sagt Kardinal Kurt Koch in einem ausführlichen Interview mit der Basler Zeitung (23. Juli). Die Regel sei, dass die Menschen auf den anderen Kontinenten religiös sind, so Koch. Er sieht auf die Gesellschaft eine grosse Herausforderung zukommen: Wer das Religiöse aus der Öffentlichkeit verdrängt, wird interreligiös nicht dialogfähig sein.

In Europa gebe es zwar noch starke «konstantinische Restbestände» im Verhältnis von Kirche und Staat, aber eine weitgehende Verdrängung der Religion aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dies stelle für ihn eine «eigenartige Ungleichzeitigkeit» dar, sagt der Kardinal. Im Vergleich dazu habe Amerika eine totale Trennung von Kirche und Staat, aber eine starke Präsenz der Religion in der Öffentlichkeit.

Eine zentrale Wurzel für die weit fortgeschrittene Säkularisierung sieht Koch in der Kirchenspaltung der Reformationszeit. Durch die blutigen Konfessionskriege im 16. und 17. Jahrhundert stand die Religion bei der Neubegründung des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht mehr für Einheit, sondern für Zwiespalt und Krieg: Da habe sich der neuzeitliche Staat vom religiösen Fundament lösen müssen, so Koch.

«Mensch ist unheilbar religiös»

Für Koch ist die Säkularisierung nicht ein Phänomen der letzten dreissig Jahre, sondern sie hat schon viel früher eingesetzt. Er verstehe unter Säkularisierung die gesellschaftliche Erklärung der Religion zur Privatsache des Einzelnen. Neuzeitlich sei dies schon ein sehr frühes Phänomen. Es schliesse aber nicht aus, dass die Gläubigen im Privatleben religiös seien. Jedoch sei die Tendenz neu, die wir nun erleben und mit der die Religion auch aus dem Privatleben verschwinde. Er würde aber nicht erst das als Säkularisierung bezeichnen, sagte Koch.

Für ihn befindet sich die Kirche nicht auf dem Rückzug: «Nein, ich bin überzeugt, dass der Mensch unheilbar religiös ist. Unheilbar aber nicht im Sinne einer Krankheit, von der man befreit werden müsste.»

«In Frankreich habe ich manchmal den Eindruck, dass die Laizität eine neue Religion geworden ist», so der Präsident des päpstlichen Einheitsrates auf die Frage nach neuen Formen der Religiosität. Wenn dort ein Minister sagt, dass es keine Probleme mit Muslimen gebe, weil diese ja auch die französische «Religion», die Laizität, teilten, dann seien dies «ganz gefährliche Erscheinungen einer religiösen Aufladung politischer Entwicklungen».

Personale Glaubensweitergabe

Man müsse sich auch bewusst sein, dass Europa nicht mehr der Mittelpunkt der Kirche sei. «Zentral sind schon längst Afrika und Lateinamerika und werden es auch in Zukunft sein.» Die Gründe für die heutige Krise lägen viel tiefer, und man könne sie «nur ökumenisch» angehen: «Wie gelingt es uns heute, den Glauben so zu verkünden, dass der Mensch merkt: Ja, da geht es um mich und mein Leben?» Koch wäre manchmal froh, wenn in der katholischen Kirche wenigstens so oft über Gott geredet würde wie über den Zölibat.

Der Auftrag zur Neuevangelisierung ist ein Auftrag an jeden Getauften, so Koch – und dies «gerade in der heutigen Situation, in der der Glaube nicht mehr so sehr amtlich weitergegeben wird, sondern durch personale Beziehung – also eigentlich durch Mund-zu-Mund-Beatmung.» Hier sei es wichtig, immer wieder neu aufzuzeigen, welchen grundlegenden Wert die Familie in Gesellschaft, Kirche und Staat hat.

«Nicht besonders einladend»

Betreffend die Streitkultur in der Kirche sieht Koch noch Verbesserungspotenzial: «Ich denke einfach, die öffentliche Auseinandersetzung, die wir über die Kirche haben, ist nicht besonders einladend. Mir kommt es manchmal so vor, als ob wir sagen: Wir sind zwar der letzte Verein, aber möchtest du nicht auch zu uns kommen?»

In seinen Augen widerspiegelten die Medien sehr oft das, was in der Kirche geschieht und dass die Auseinandersetzungen in der Kirche nicht gerade vorbildlich sind. Er möchte aber keineswegs damit sagen, dass Konflikte nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen werden dürfen. «Aber in der Art und Weise, wie wir dies tun, sind wir nicht besonders einladend.»

Koch sieht die Ursachen darin, dass «wir bei innerkirchlichen Positionen oft so sehr miteinander im Streit liegen, dass wir beim Anderen nur noch das Negative sehen und nicht auch die positiven Seiten, die man auch stärken sollte». Die Reformierten hätten auch ihre Probleme, aber sie würden ihre schmutzige Wäsche nicht derart in der Öffentlichkeit waschen wie manchmal die Katholiken. Die Juden täten dies schon gar nicht.

«Nicht tierisch ernst nehmen»

Auf «Vatileaks» angesprochen meinte Koch, man müsse einen grossen Unterschied zwischen dem machen, was geschehen sei und den medialen Geschichten, die daraus gemacht würden. Was wirklich vorgefallen sei, wisse man noch nicht, weil der Abschlussbericht noch nicht vorliege, so der Kardinal. «Deshalb kann ich nichts dazu sagen. Alles, was ich heute sagen würde, provoziert ja nur neue Geschichten.» Er glaube auch nicht, dass es sich hier um einen Machtkampf im Vatikan handle.

Schön findet Koch die «gewisse Gelassenheit» am Katholizismus: «Wir nehmen zwar den Glauben und die Religion sehr ernst, jedoch nicht tierisch ernst. Die Gelassenheit schenkt uns Freude am Glauben und am Leben.»

(kipa/am/job)

23. Juli 2012 | 17:51
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