Susanne Hirsch
Porträt

Kunst, Kirche, «Out in Church»: Was Susanne Hirsch beschäftigt

Lange Zeit dachte Susanne Hirsch (56), sie sei beziehungsunfähig. Mit den Männern wollte es nicht klappen. Vor zwei Wochen war sie mit ihrer Partnerin beim «Segen für alle». Die katholische Theologin arbeitet für die Zürcher Spitalseelsorge. Und schwärmt für Chagalls Nachtblau.

Wolfgang Holz

Frühlingsbegrünte Platanen. Regenreste auf den Tischen. Beruhigendes Geplopp von Tennisspielern in der Nachbarschaft. Nachdem Susanne Hirsch im Biergarten des Gasthauses Albisgüetli Platz genommen hat, lässt sie den Blick in Richtung Zürichsee schweifen. «Hier oben befindet man sich oberhalb der Schneegrenze­ – im Winter bleibt hier nämlich der Schnee liegen, während er unten im Tal wegtaut. Ich mag es einfach ein bisschen kälter.»

Es ist Sommer geworden

Die Theologin überrascht vom ersten Augenblick des Gesprächs an. Denn gefühlt ist es nun Sommer geworden und ein fast laues Lüftchen weht durch den Garten des Albisgüetli.

Susanne Hirsch
Susanne Hirsch

Einige Männer trinken nebenan genüsslich Wein. Popsängerin Adele presst ihre Stimme lyrisch durch den Lautsprecher. Susanne Hirsch trägt eine helle olivgrüne Hose.

Theologie und Kunstgeschichte

«Ich habe nach meinem Theologiestudium mit dem Studium der Kunstgeschichte begonnen», findet Susanne Hirsch. Ein ungewöhnlicher Weg. Und doch für die damalige Theologiestudentin eine schlüssige Entscheidung – wählte sie doch 1996 für ihre Lizenziatsarbeit das Thema «Jakobs Kampf am Jabbok – die Geschichte einer Begegnung». 

Chagalls Jakobsfenster im Zürcher Fraumünster
Chagalls Jakobsfenster im Zürcher Fraumünster

Das Aussergewöhnliche am Lebensweg der gebürtigen Ostdeutschen erscheint ihr geistiges Doppelleben – ein Leben zwischen theologischer Sehnsucht nach Gotteserfahrung und kunsthistorischen Ausdrucksformen. Eine Suche nach Sinn und Sinnlichkeit, die zwischen dem Glauben an Gott und seiner sinnlichen Wiedergabe durch die Kunst oszilliert. 

Jakobs Kampf am Jabbok

«In meiner Liz habe ich anhand von Chagalls Darstellungen zur Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok untersucht, wie sich Chagalls Deutung dieses Kampfes im Laufe seines Lebens ändert – von einem unnahbar fernen übermächtigen Gott zu einem nahen und sehr angreifbaren Gott», erklärt sie. 

Chagalls Jakobsfenster im Zürcher Fraumünster
Chagalls Jakobsfenster im Zürcher Fraumünster

Gemeint sind die Darstellungen auf dem Jakobsfenster im Zürcher Fraumünster, das sie nicht zuletzt wegen seines «tiefen Nachtblaus» in den Bann gezogen haben. Noch heute strahlt dieser Andachtsraum etwas Magisches für sie aus. Kein Wunder, dass sie ihr Wissen über die farblichen und biblischen Geheimnisse der Fenster auch gerne mit anderen Menschen teilt: «Es ist immer wieder beglückend zu erleben, wie Menschen aufgrund einer Führung die Bildfenster ganz neu erfassen.»

Fresken in Müstair

Susanne Hirsch ist nicht nur von den Glasmalereien in Zürich oder in der Klosterkirche Kappel am Albis fasziniert. 1997 begann sie mit dem Studium der Kunstgeschichte zunächst in Basel, später wechselte sie nach Zürich. Ihr Schwerpunkt: die mittelalterliche christliche Kunst. 

Fresken in Müstair
Fresken in Müstair

In ihrer Abschlussarbeit beschäftigte sie sich mit den karolingischen Fresken in der Klosterkirche St. Johann in Müstair in Graubünden. «Mit Hilfe eines Zeichnungsprogramms habe ich das Gliederungssystem der Fresken aufgezeichnet und erarbeitet, wie sich das Rahmensystem auf die Erzählstruktur der Bildgeschichten auswirkt», sagt sie. 

Kunst und Glaube

«Religiöse Kunst soll den Glauben vermitteln helfen und Heiliges vergegenwärtigen», findet Susanne Hirsch, und richtet ihre Augen ab und zu in den Zürcher Abendhimmel, als ob sie dort Formulierungen findet, wenn sie Schwieriges in Worte zu fassen sucht. Ihre Sätze sind dabei stets eingetaucht in das warme Timbre ihres ostdeutschen Akzents. 

Chagall-Motiv im Katholischen Gesangbuch der Schweiz.
Chagall-Motiv im Katholischen Gesangbuch der Schweiz.

«Die Sehnsucht des Menschen nach Zugang zum Überirdischen findet eine Ausdrucksform in der bildenden Kunst», fasst die Theologin und Kunsthistorikerin zusammen. Am eindrücklichsten zeige sich dies gerade in den farbigen Fenstern – wenn unsichtbares Licht aus dem Jenseits hinein in den irdischen Raum fällt und durch die Kunst der Bilder zum Leben erweckt wird. «Ins Diesseits quasi», sagt sie und nimmt einen genussvollen Schluck alkoholfreien Biers, das der Kellner ihr inzwischen gebracht hat. 

Auf der Suche nach Sinn und Sinnlichkeit

Wie wird man eigentlich Seelsorgerin angesichts solch geistig-leidenschaftlicher Sehnsucht nach Sinn und Sinnlichkeit? Die Antwort von Susanne Hirsch klingt verblüffend einfach: «Weil ich damals nichts anderes gefunden habe, um Geld zu verdienen.» Nach insgesamt acht Jahren Leben und Arbeiten in der Archegemeinschaft «Im Nauen» in Hochwald SO suchte sie eine neue Arbeit. 

Adam und Eva im Paradies: Glasfenster der Kapelle am Zürcher Unispital.
Adam und Eva im Paradies: Glasfenster der Kapelle am Zürcher Unispital.

Als während eines dreimonatigen Praktikums in der Klinikseelsorge am Unispital in Zürich eine Stelle als Seelsorgerin in der Langzeitpflege ausgeschrieben wurde, entschied sie sich für diesen Weg. 19 Jahre lang übte sie diese Tätigkeit dann in den städtischen Pflegeeinrichtungen Käferberg und Gehrenholz aus. Seit kurzem ist sie neue Regionalverantwortliche für die kantonale Spitalsseelsorge in zehn Spitälern.

Der Tod ist in der Spitalseelsorge gegenwärtig

«Die Spitalseelsorge ist extrem wichtig für die Menschen», sagt Susanne Hirsch. «Gerade die Begegnungen mit dementen Menschen und Menschen am Lebensende haben mich viel gelehrt über den Zugang zum Jenseits.» 

Die Würde des Menschen ist in der Palliative Care zentral.
Die Würde des Menschen ist in der Palliative Care zentral.

Warum ich? Was passiert mit meiner Familie? Mit solchen Fragen existenzieller Not ist Susanne Hirsch oft konfrontiert worden in den Gesprächen mit Langzeitpatientinnen und -patienten. Gespräche, die oft nur zwischen zehn bis zwanzig Minuten dauern, weil die Betroffenen von ihrer Krankheit und von ihrem Alter gezeichnet und erschöpft seien. «Oftmals habe ich auch einfach einen Rosenkranz mit oder für die Personen gebetet oder nur ihre Hand gehalten, damit sie sich nicht alleine fühlen», sagt Susanne Hirsch. Wobei der Tod stets gegenwärtig sei.

Demenzkranke können mit einer Kommunion oft nichts anfangen

Inzwischen ist es merklich kühler geworden im Biergarten. Die 56-Jährige holt aus ihrem Rucksack eine warme Jacke und zieht sie sich über. «Seelsorge läuft nur über Beziehungen zu Menschen – indem man zum Beispiel einfach Grüezi sagt, Zeit hat, sich der anderen Person zuwendet, Interesse am Gegenüber zeigt.» 

Flur in einem Krankenhaus.
Flur in einem Krankenhaus.

In der Zuwendung zu ihren Patientinnen und Heimbewohnern habe sie dann irgendwann herausgefunden, dass diese es schätzen würden, gesegnet zu werden. Denn mit Wortgottesdiensten und Kommunion habe sie nicht alle erreicht – etwa weil Demenzkranke teilweise nichts mehr mit einer Hostie in ihrer Hand anfangen können. Oder weil Menschen nicht mehr schlucken können.

«Out in Church» – «Segen für alle»

«Berührt zu werden und etwas Gutes gesagt zu bekommen, ist bei vielen gut angekommen», sagt die Spitalsseelsorgerin. «Denn Segen kommt von benedicere, etwas Gutes sagen. Und ich habe gemerkt, wie viele Menschen bedürftig sind, eine solch sinnliche Berührung als Zuspruch von und Verbindung zu Gott erhalten zu dürfen.» 

Die Regenbogenbank für den "Segen für alle" in der Zürcher Kirche St. Peter und Paul am 11. Mai.
Die Regenbogenbank für den "Segen für alle" in der Zürcher Kirche St. Peter und Paul am 11. Mai.

Diese sinnliche Gotteserfahrung hat Susanne Hirsch auch vor zwei Wochen an sich selbst erfahren – indem sie sich mit ihrer Partnerin beim Gottesdienst «Segen für alle» in Zürich segnen liess. «Ich habe gemerkt, wie bedürftig ich selbst nach einer Berührung mit Gott gewesen bin. Diese Berührung war wichtig für mich.» 

Coming-Out vor zehn Jahren

Susanne Hirsch ist überzeugt: «Wir Menschen sind einfach sinnliche Wesen.» Lange Zeit dachte, sie, dass sie beziehungsunfähig sei. Denn mit den Männern wollte es nicht klappen. «Als mich eine Frau tröstete und mir über die Wange strich, als ich einmal sehr traurig war, legte sich bei mir plötzlich ein Schalter um. Ich habe gemerkt: Ich bin nicht beziehungsunfähig, sondern lesbisch.» Vor zehn Jahren hatte sie ihr Coming-Out.

Susanne Hirsch
Susanne Hirsch

Diskriminierungen habe sie seither aufgrund ihrer sexuellen Neigung nicht erfahren, versichert die gläubige Katholikin – die in ihrer Freizeit übrigens gerne wandert und in Romanen von John Irving schmökert. Aber sie hätte sich bisher auch immer sehr zurückgehalten und sei nicht an die Öffentlichkeit getreten, wenn man das nicht auch als Diskriminierung bezeichnen will.

Lesbisch und katholische Kirche – geht das?

Langsam ist es ungemütlich kalt geworden unter den Platanen des Albisgüetli. Die Männer am Nebentisch bechern indes weiter unerschrocken ihren Wein. Doch eine Frage steht noch im Raum.

Lesbisch sein und für die katholische Kirche arbeiten – geht das? Und noch einmal eine überraschende Antwort: «Eine sehr gute Frage. Es ist wirklich herausfordernd, Frauen im Allgemeinen und speziell Lesben begreiflich zu machen, wieso ich in der katholischen Kirche arbeiten kann.»


Susanne Hirsch | © Wolfgang Holz
21. Mai 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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