Ausschnitt aus dem Kirchenfenster "Isaaks Opferung" von Sigmar Polke im Zürcher Grossmünster.
Schweiz

Die Gewaltspirale durchbrechen: Warum Kirchenräume in Krisenzeiten Halt geben

Menschen gehen in Kirchen und zünden Kerzen an. Ein Gespräch mit dem Zürcher Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist über die Kraft von sakraler Architektur – und wie er ein interreligiöses Gebet «ohne nationalistische Instrumentalisierung» organisiert.

Raphael Rauch

Welche Rolle hat das Zürcher Grossmünster in Krisenzeiten?

Christoph Sigrist*: Das Grossmünster hat drei Frequenzen: Das Gedächtnis, immer der Stadt zu dienen als Resonanzraum von Frieden und Gewaltlosigkeit. Das Gewissen: Es gibt eine Verantwortung, egal wie komplex eine Situation ist. Und es geht um Hoffnungsgeschichten: Schon Stunden nach dem Kriegsausbruch am Donnerstag haben wir im Grossmünster ein Gebetbuch aufgeschlagen. Hier schreiben Fromme und Nicht-Fromme Gedanken rein. Die Menschen zünden eine Kerze an. Wir brauchen Räume, um mit unserer Ohnmacht und Hilflosigkeit umzugehen.

"In lieben Gedanken für Frieden." Fürbitten im Grossmünster Zürich.
"In lieben Gedanken für Frieden." Fürbitten im Grossmünster Zürich.

Was spricht Menschen in Krisenzeiten in einer Kirche an?

Sigrist: Kirchenräume sind Resonanzräume für die Seele. Hier werden wir gehört, wenn die Welt um uns verstummt. Ganz Europa ist in einem Bad der Überforderung. Wir wissen nicht, wie wir mit der Situation umgehen können.

Kerzen im Zürcher Grossmünster.
Kerzen im Zürcher Grossmünster.

Was ändert sich, wenn man eine Kirche betritt?

Sigrist: Kirchen sind ein Resonanzraum in drei Richtungen: nach oben, in die Vertikale, dass Gott unsere Klagen, unser Weinen, unsere Not hört. In der Horizontalen: Niemand hat mehr Boden unter den Füssen. Und in der Diagonalen, im Einsatz von Mitteln, die gewaltlos sind: Kerzen, Gebete – hier entwickelt sich ein Raum, der entlastet und für alle wieder Kraft gibt.

Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist
Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist

Wirkt sakrale Architektur anders als andere Gebäude?

Sigrist: In einem Gotteshaus gibt es bestimmte Schwingungen – egal ob Synagoge, Moschee oder Kirche. Die Schwingung in diesen Räumen zieht die Menschen an. Es spielt keine Rolle: Bin ich gläubig oder nicht, bin ich Mitglied der Institution oder nicht. Die Atmosphäre des Ortes geht durch die Herzfrequenzen durch, man fühlt sich angezogen. Neulich war ein hinduistisches Paar im Grossmünster und hat sich von mir segnen lassen, weil es mit dem Kinderwunsch bislang nicht geklappt hat. In City-Kirchen wie dem Grossmünster haben alle Funktionen von Religiosität und Ritualen einen Platz. Ich bin hier Beichtvater, Seelsorger und Sozialarbeiter.

«In Krisenzeiten zahlt sich ein gutes interreligiöses Netzwerk aus.»

Am Montag ist im Grossmünster ein interreligiöses Friedensgebet. Wie organisiert man so einen Anlass?

Sigrist: In Krisenzeiten zahlt sich ein gutes interreligiöses Netzwerk aus. 2003, beim Irak-Krieg, hatten wir ein Friedensgebet. Das war am 20. März 2003, ich war erst 20 Tage Grossmünster-Pfarrer. Damals war das eine reformierte Veranstaltung. Bei den Anschlägen im November 2015 in Paris haben wir zusammen mit einem Rabbiner und einem Imam zu einem interreligiösen Gebet mit Taizé-Liedern eingeladen.

Und am Montag?

Sigrist: Wir beten für den Frieden. Wir beten für die Gewaltlosigkeit und das Durchbrechen der Gewaltspirale. Im Grossmünster gibt es ein Fenster von Sigmar Polke, hier ist Isaaks Opferung zu sehen, hier wird die Gewaltspirale durchbrochen. Unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine, die nun unter dem Krieg leiden und auf der Flucht sind.

"Isaaks Opferung" von Sigmar Polke im Zürcher Grossmünster.
"Isaaks Opferung" von Sigmar Polke im Zürcher Grossmünster.

Die Orthodoxe ist tief zerstritten. Werden am Montag auch Vertreter der russisch-orthodoxen und der ukrainisch-orthodoxen Kirche anwesend sein?

Sigrist: Der serbisch-orthodoxe Priester Branimir Petkovic ist im Vorstand aller orthodoxer Kirchen im Kanton Zürich. Er wird eine neutrale Stimme erheben können – ohne nationalistische Instrumentalisierung. Und orthodoxe Glaubende von allen Gemeinden sind eingeladen. Das Grossmünster eignet sich auch gut als Ort: Es war ja Felix und Regula gewidmet, dem Patron der Orthodoxen. Nun ist Friedensarbeit unter den orthodoxen Gemeinden angesagt.

Wie läuft der Montagabend ab?

Sigrist: Es wird eine einfache Architektur des Miteinander-Betens, nichts Aufgeregtes – mit Musik aus der orthodoxen Tradition und der Taizé-Tradition. Wir sind eine grosse Familie von Brüdern und Schwestern. Darum geht es.

* Christoph Sigrist ist reformierter Pfarrer am Grossmünster in Zürich. Am Montag findet um 18 Uhr im Grossmünster ein interreligiöses Gebet der Religionen um Frieden statt, an der auch der katholische Dekan Marcel von Holzen mitwirkt. Eine Übersicht über weitere Friedensgebete finden Sie hier.


Ausschnitt aus dem Kirchenfenster «Isaaks Opferung» von Sigmar Polke im Zürcher Grossmünster. | © Keystone
25. Februar 2022 | 19:26
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