Lukáš Jirsa ist Präsident der Ökumenischen Jury.
Schweiz

«Kunst ist ein Werkzeug des Friedens»: Libanon-Film gewinnt den Preis der Ökumenischen Jury

Der Dokumentarfilm «Tales of the Purple House» von Abbas Fahdel erhält den Preis der Ökumenischen Jury von Locarno. Er thematisiert die Krise im Libanon, geht auf den Ukraine-Krieg ein – und strahlt trotzdem Hoffnung aus, sagt Jury-Präsident Lukáš Jirsa.

Raphael Rauch

Warum erhält «Tales of the Purple House» den Preis der Ökumenischen Jury?

Lukáš Jirsa*: Wir haben über jeden Film mindestens 30 Minuten lang diskutiert. Aber bei «Tales of the Purple House» waren wir uns schnell einig. Der Film beeindruckt auf allen Ebenen: Er ist filmisch gut gemacht. Er setzt künstlerische Akzente. Und er passt zum Profil der Ökumenischen Jury: Der Film strahlt Hoffnung in einem Umfeld voller Verzweiflung aus.

Lukáš Jirsa ist Präsident der Ökumenischen Jury.
Lukáš Jirsa ist Präsident der Ökumenischen Jury.

Der Film ist drei Stunden und vier Minuten lang. Hat Sie das nicht abgeschreckt?

Jirsa: Der Film verlangt den Zuschauenden etwas ab. Aber genau darum geht es: Er widerspricht unseren Sehgewohnheiten, wo wir im Fernsehen das Elend der Welt in 30 Sekunden erklärt bekommen. Die Protagonistin reflektiert das im Film mit einer Anekdote: «Ich sehe im Fernsehen ein Erdbeben – und laufe zum Kühlschrank und stopfe mir ein Eis rein.»

Demonstration im Libanon – zu sehen in "Tales of the Purple House".
Demonstration im Libanon – zu sehen in "Tales of the Purple House".

Wovon handelt der Film «Tales of the Purple House»?

Jirsa: Es ist ein Dokumentarfilm über eine Familie im Libanon. Der Film beginnt kurz vor Beginn der Corona-Pandemie und endet nach Beginn des Ukraine-Krieges. Auch ein Flüchtlingskind aus Syrien kommt vor. Alle wesentlichen Ereignisse und Katastrophen dieser Zeit werden im Film verarbeitet: die wirtschaftlichen Schwierigkeiten wegen der Corona-Krise, die Explosion im Hafen von Beirut, die sozialen und politischen Krisen. Die Schwester der Protagonistin lebt in der Ukraine. So gibt es eine Verbindung zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

«Im Nahbereich kommen die Menschen bestens miteinander aus – egal ob sie Christen oder Muslime sind.»

Ist die Familie ein Ort der Idylle – inmitten von Chaos und Krieg?

Jirsa: Genau. Wir sehen Bilder aus einem krisengebeutelten Land. Obwohl das Land im Chaos versinkt, geht das alltägliche Leben weiter. Im Nahbereich kommen die Menschen bestens miteinander aus – egal ob sie Christen oder Muslime sind.

Hoffnungsvoller Horizont in "Tales of the Purple House".
Hoffnungsvoller Horizont in "Tales of the Purple House".

Inwiefern macht der Film Hoffnung?

Jirsa: Schon das erste Bild des Filmes macht Hoffnung: zu sehen ist ein sanftes Bild der Sonne, die über dem Libanon aufgeht. Dieser Hoffnungsschimmer zieht sich durch den ganzen Film. Es gibt einen berührenden Moment, als die Protagonistin ihren Vater besucht. Sie erinnert sich an ihr Elternhaus, das vor Jahrzehnten bombardiert worden war. Plötzlich gibt es eine Parallele zu den Menschen in der Ukraine und in Syrien.

«Toxisch wird es, wenn es um Politik geht.»

Der Libanon ist ein multireligiöses Land. Macht der Film das zum Thema?

Jirsa: Der Film zeigt sich wiederholende Aufnahmen über eine kleine Stadt, wo man eine Moschee und gleich daneben eine Kirche sieht. Ein Nachbar erzählt einer Frau, dass man hier immer friedlich zusammengelebt hat. Das zeigt erneut: Das Alltagsleben funktioniert und ist friedlich. Toxisch wird es, wenn es um Politik geht.

Schnee im Libanon - zu sehen in "Tales of the Purple House".
Schnee im Libanon - zu sehen in "Tales of the Purple House".

Und künstlerisch: Was hat Sie am Film überzeugt?

Jirsa: Besonders gut gefällt mir, wie Filme im Film gezeigt werden: Zu sehen ist ein Fernseher, der Filme von Tarkowski, Bergman und Ozu zeigt. Diese Momente verdeutlichen, dass Kunst omnipräsent ist. Kunst gibt uns Hoffnung, auch wenn die Welt mitten in einer Krise steckt. Die Kunst kann zum Werkzeug der Hoffnung werden.

«Tengo sueños eléctricos» in Locarno.
«Tengo sueños eléctricos» in Locarno.

Der Film «Tengo sueños eléctricos» hat eine lobende Erwähnung erhalten. Warum?

Jirsa: Er berührt einige ernste soziale und familiäre Probleme. Es geht um eine junge Frau in Costa Rica. Es geht um ihr Erwachsenwerden, auch in Bezug auf ihre Sexualität. Doch sie lebt in einem schwierigen Umfeld: Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, ihr Vater ist gewalttätig. Er hat starke psychische Probleme – deswegen hat er sich nicht im Griff.

«Es gibt auch dann Hoffnung, wenn es schwierig oder sogar unmöglich erscheint.»

Strahlt auch dieser Film eine Hoffnung aus?

Jirsa: Nicht der Kreislauf der Gewalt hat das letzte Wort, sondern es gibt auch dann Hoffnung, wenn es schwierig oder sogar unmöglich erscheint.

BDSM-Sex vor laufender Kamera: "Regra 34" ist der Gewinnerfilm von Locarno.
BDSM-Sex vor laufender Kamera: "Regra 34" ist der Gewinnerfilm von Locarno.

Den Goldenen Leoparden erhält der brasilianische Sex-Film «Regra 34». Enthält dieser Film zu viele Sadomaso-Szenen, um für die Ökumenische Jury interessant zu sein?

Jirsa: Auch über diesen Film haben wir in der Jury mindestens 30 Minuten lang diskutiert. Er ist gut gemacht und ich kann mir gut vorstellen, ihn in Prag zu zeigen – dort betreue ich eine Kino-Reihe über Film und Spiritualität. Aber letztlich muss der Preis der Ökumenischen Jury an einen Film gehen, der bedenkenlos gezeigt werden kann. «Regra 34» hingegen ist einer der wenigen Filmen, der am Anfang einen Warnhinweis enthält. 

Die Ökumenische Jury: Anne Dagallier, Lukáš Jirsa, Anne-Béatrice Schwab und Linde Fröhlich.
Die Ökumenische Jury: Anne Dagallier, Lukáš Jirsa, Anne-Béatrice Schwab und Linde Fröhlich.

Kann das Kino einen Beitrag zum Frieden leisten?

Jirsa: Auf jeden Fall! Das beweist ja auch die Libanon-Krise, die in »Tales of the Purple House» gezeigt wird. Kunst ist ein Werkzeug des Friedens. Sie ist ein Werkzeug der Hoffnung – und auch ein Weg zu Gott. Diesen Geist des Friedens und der Hoffnung spüre ich auch hier auf dem Festival in Locarno: Menschen aus aller Welt kommen zusammen, tauschen sich aus, diskutieren und streiten über Filme. Und sie reden nicht nur über Konflikte, sondern suchen nach Lösungen.

Salman Rushdie
Salman Rushdie

Gestern Abend ist der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie in New York angegriffen worden. Beschäftigt Sie das?

Jirsa: Die Nachricht macht mich sehr, sehr traurig. Ich habe ihn persönlich erlebt, als er nach Tschechien kam, und schätze seine Bücher sehr. Der Angriff von gestern ist ein weiterer Versuch, die Kunst zum Schweigen zu bringen. Dabei ist Kunst nicht etwas, was gefährlich ist. Sie ist nur für diejenigen gefährlich, die Angst vor der Freiheit haben. Wir sollten Kunst und Meinungsfreiheit uneingeschränkt schützen. Leider war die katholische Kirche in diesem Bereich nicht immer Vorreiterin. 

* Der Katholik Lukáš Jirsa (40) ist ein tschechischer Filmjournalist. Er wurde mit einer Arbeit über «Soziologische Phantasie und Film in kultureller Perspektive» promoviert. Beim 75. Filmfestival in Locarno war er Präsident der Ökumenischen Jury.

Die Begründung der Ökumenischen Jury

«Die von «Interfilm» und «Signis» berufene Jury verleiht ihren Preis, dotiert mit 20000 CHF von den Reformierten Kirchen und der Katholischen Kirche in der Schweiz, an: 

«Tales Of The Purple House» von Abbas Fahdel, Libanon, Irak, Frankreich 2022

Der Film eröffnet uns einen persönlichen und poetischen Blick eines Künstlerpaares auf die Geschichte und Gegenwart eines zerrissenen Landes. Gleichzeitig zeigt er, dass das Alltagsleben weitergeht und die Kunst und die Schönheit daran teilhaben.

Die Jury verleiht eine Lobende Erwähnung an 

«Tengo sueños eléctricos» von Valentina Maurel, Belgien, Frankreich, Costa Rica 2022

Der Film begleitet den Weg eines jungen Mädchens in einem familiären Umfeld, das geprägt ist von Brüchen, Gewalt, aber auch von Liebe.» (kath.ch)


Lukáš Jirsa ist Präsident der Ökumenischen Jury. | © Locarno Film Festival
13. August 2022 | 15:50
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