Delegation der indigenen Völker Kanadas am 1. April 2022 im Vatikan.
Analyse

Keine Angst vor der Wahrheit – zur römischen Erklärung über die «Entdeckungsdoktrin»

Der Vatikan verabschiedet sich von der «Entdeckungsdoktrin». Diese Wende sei zwar sehr zu begrüssen, meint Mariano Delgado. Sie ist aber von der üblichen kurialen Sophisterei geprägt. Ein kritischer Blick auf die Kolonialgeschichte und was der Vatikan noch nicht begriffen hat.

Mariano Delgado*

Am 30. März haben das Dikasterium für die Kultur und die Bildung (Präfekt ist der portugiesische Dominikaner Kardinal José Tolentino de Mendonça) und das Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen (Präfekt ist der kanadische Jesuit Kardinal Michael Czerny) eine gemeinsame Erklärung über die «Entdeckungsdoktrin» verabschiedet, die Teil des europäisch geprägten Völkerrechts wurde, um die Territorien zu unterwerfen, die bisher nicht unter «christlicher» Herrschaft waren.

Mariano Delgado leitet die Theologische Fakultät Freiburg
Mariano Delgado leitet die Theologische Fakultät Freiburg

Die Entdeckungsdoktrin und die heutigen Erwartungen

Um 1800 wurde diese Doktrin in den USA juristisch abgesegnet, um die eigene Expansion in den Wilden Westen zu rechtfertigen. Ebenso dachten später die imperialistischen Mächte Europas bei der Aufteilung Afrikas in der Berliner Kongokonferenz 1885. Immanuel Kant hatte sie klarsichtig kritisiert, als er «das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils … in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern desselben für einerlei gilt)», beklagte: «Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts.»

Die neuentdeckten Völker betrachteten die Europäer also gleichsam als «res nullius», und sie massten sich das Recht auf Herrschaftsübernahme und Ausbeutung ihrer natürlichen und menschlichen Ressourcen an. Bereits im 16. Jahrhundert wurde diese Doktrin von katholischen Theologen aus der Schule von Salamanca kritisiert. Die Länder der Heiden der Neuen Welt, sagte der Dominikaner Francisco de Vitoria in der Tradition des Thomas von Aquin, seien nicht herrenlos, denn die Herrschaftslegitimation sei im Naturrecht begründet, nicht im Glauben.

Papst Niklaus V. gewährt das Recht auf Unterwerfung und Versklavung

Päpstliche Dokumente, in denen das Papsttum weitgehende Entdeckungsrechte gewährte, spielten bei den Katholiken, jedenfalls bei den iberischen Weltreichen Spanien und Portugal, eine wesentliche Rolle. Gemeint sind vor allem die Bullen von Nikolaus V. «Dum Diversas» (1452) und «Romanus Pontifex» (1455), in dem der Papst den Portugiesen Herrschaftsrechte über die entdeckten oder noch zu entdeckenden Territorien sowie das Recht auf Unterwerfung und Versklavung der Ungläubigen und Sarazenen in den bereits eroberten und noch zu erobernden Inseln, Städten und Ländern Afrikas und Asiens gewährt.

Papst Franziskus spricht zu den Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Völker Kanadas.
Papst Franziskus spricht zu den Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Völker Kanadas.

Dazu gehört auch die Bulle «Inter caetera» (1493) von Alexander VI., in der dieser den Spaniern ebenso Herrschaftsrechte westlich der Azoren sowie das Recht zur «Unterwerfung» der dortigen Völker gewährt. Anders als in den Bullen Nikolas’ V. enthält die alexandrinische Bulle jedoch keine explizite Ermächtigung der Spanier zur Versklavung der Heiden (der Indios), sondern einen eindringlichen Evangelisierungsauftrag – was implizit die Versklavung ausschliesst, da Getaufte nicht versklavt werden durften. Aus diesem Grund hatte es Kolumbus nicht eilig mit der Evangelisierung der Indios, die ab 1511 aber systematisch vorangetrieben wurde.

Bei den Protestanten hingegen genügte das Bewusstsein der göttlichen Auserwählung, weil sie dachten, sie hätten das Recht auf die neuen Länder von Gott direkt erhalten, wie einst das Volk Israel das Gelobte Land. Nachdem die Puritaner an der nordamerikanischen Ostküste gelandet waren, formulierten sie 1640 folgendes Selbstverständnis: «Die Erde gehört Gott, dem Herrn. Der Herr kann die Erde oder einen Teil davon seinem auserwählten Volk schenken. Wir sind das auserwählte Volk.»

Was indigene Völker heute von den Kirchen erwarten

Nicht nur die indigenen Völker erwarten von den Kirchen, dass erstens die Entdeckungsdoktrin aufgearbeitet wird, und dass zweitens der Papst sich dafür entschuldigt bzw. sich explizit von den genannten Bullen seiner Vorgänger distanziert oder diese für «null und nichtig» erklärt. Das Papsttum hat zwar seit den 1980er Jahren wiederholt um Verzeihung für die Unterdrückung und Versklavung von Schwarzen und Indianern sowie die Verachtung ihrer Kulturen durch «Christen» gebeten, aber nicht für die eigene «institutionelle» Verstrickung; auch nicht in der jetzigen Erklärung.

Richtiger Schritt, aber nicht frei von Sophisterei

Ähnlich wie die vielen kirchlichen Erklärungen über die Entdeckung Amerikas anlässlich des Jahres 1992 entspricht die jetzige nicht dem Stand der historischen Forschung, so sehr sie auch als einen weiteren zaghaften Schritt in die richtige Richtung zu begrüssen ist. Vielmehr ist sie von der üblichen kurialen «Sophisterei» geprägt. Diese besteht darin, für Fehlentwicklungen in der Geschichte der Kirche nicht so sehr Päpste und Klerus verantwortlich zu machen, die offenbar die Kunst beherrschen, «es nicht gewesen zu sein», sondern böse Laien und «die politischen Mächte, die die indigenen Kulturen ausrotten wollten».

Wohlbedacht ist in der Erklärung immer nur von den indigenen «Kulturen», nicht jedoch von ihren «Religionen» die Rede. Denn für die vielfache Verstrickung von Mission und Kolonialismus oder die Zerstörung der Tempel, Bilder und Schriften fremder Religionen im Namen kirchlicher Heilsausschliesslichkeit kann man wohl nicht «die politischen Mächte» verantwortlich machen.

Den Papstkult als Pathologie verstehen

Sophistisch klingt auch, wenn die Erklärung feierlich betont, dass «die Entdeckungsdoktrin nicht Teil des katholischen Lehramtes» sei; denn diese politischen Sachen wurden nie als Teil des katholischen «Glaubens» betrachtet. Gehört also zum katholischen Lehramt nur das, was den Glauben und die Sitten betrifft? Wie steht es dann mit dem «Dictatus papae»von 1075? Darin heisst es, dass nur der Papst «universaler Bischof» des gesamten Erdkreises sei und daher universale Jurisdiktion habe; dass nur er Bischöfe absetzen und wieder einsetzen könne; dass nur er Kaiser absetzen könne und dass alle Fürsten ihm zu huldigen haben.

Menschenschlange zum Petersdom
Menschenschlange zum Petersdom

Der Papalismus, eine Pathologie wenn nicht sogar «die Häresie» des Papsttums im Zweiten Jahrtausend, hat darin eine seiner Grundlagen. Von dort zur Beanspruchung der universalen Jurisdiktion über den gesamten Erdkreis ist der Weg nicht mehr weit – ebenso zur Rede von der «Heilsnotwendigkeit» der völligen Unterwerfung unter die Autorität des Papstes, wie sie Bonifaz VIII. in der Bulle «Unam sanctam» (1302) vertrat und das Konzil von Florenz 1402 gegenüber Heiden, Juden «und» Schismatikern mit dem Dogma des «ausserhalb der (Papst-)Kirche kein Heil» als «Glaubenslehre» formulierte.

Der «Dictatus papae» und ähnliche Texte über die «Zwei-Schwerter-Theorie» ebneten den Weg für die kuriale Lehnspolitik des mittelalterlichen Papsttums, wonach nur der Papst die Königswürde (z.B. an die Normannen in Sizilien 1130) verleihen oder Territorien verteilen und Eroberungen legitimieren konnte. In dieser Tradition stehen die eingangs genannten Bullen aus dem 15. Jahrhundert. Sie wurden von einem Papsttum verlautbart, das sich im Hoch- und Spätmittelalter von papalistischen Theologen schmeicheln liess, während es sich als Lernresistent gegenüber der guten scholastischen Theologie erwies.

Gute Theologie: Francisco de Vitoria und Bartolomé de Las Casas

In der Tradition der guten Theologie konnte Francisco de Vitoria 1539 deutlich sagen, dass der Papst keine zivile oder zeitliche Gewalt über den gesamten Erdkreis habe: «Papa non est dominus civilis aut temporalis totius orbis». Daher könne er über die Territorien der Heiden nicht verfügen, sondern lediglich bestimmte Christen mit ihrer Evangelisierung beauftragen.

Bartolomé de Las Casas, dieser edle Christ, der im 16. Jahrhundert auch die Entdeckungsdoktrin kritisierte, versuchte, die Bulle Alexanders VI. im Sinne des auf dem Boden des Evangeliums einzig möglich «Gemeinten»und nicht im Sinne des wörtlich Gesagten zu interpretieren. Es scheine, dass der Papst wörtlich den Spaniern das Recht auf «Unterwerfung» der neuen Länder und Menschen gewähre. Da kein Papst aber gegen das Evangelium etwas verfügen könne und nirgendswo zu lesen sei, dass der Herr seinen Jüngern erlaubt oder befohlen habe, die ganze Welt mit Waffen zu unterwerfen, sondern lediglich wie Schafe unter Wölfen zu wandeln und für die Frohe Botschaft friedlich zu werben, könne mit dem Wort «unterwerfen» in der Bulle wohl nur die friedliche Evangelisierung gemeint sein.

Mehr christlichen Menschenverstand – weniger Wille zur Macht

Diesem «hermeneutischen Malabarismus» im Zeichen des gesunden Menschenverstands auf dem Boden des Evangeliums zum Trotz haben sich die Spanier bis zur Unabhängigkeit der Länder Spanisch-Amerikas um 1800 immer auf die Konzessionsbulle von 1493 berufen – und das Papsttum hat nie widersprochen. Papst Franziskus hätte heute weniger Probleme mit der deutlichen Distanzierung von der Entdeckungsdoktrin seiner Vorgänger, wenn das Papsttum damals auf die guten Theologen gehört hätte, nicht auf die Schmeichler, und wenn es in der Papstgeschichte mehr gesunden, christlichen Menschenverstand nach Art des Las Casas gegeben hätte – und weniger Willen zur Macht!

Sophistisch klingt schliesslich auch das Zitat aus der Bulle «Sublimis Deus» (1537) von Paul III., das als Beweis für die damalige Verteidigung der Rechte und Menschenwürde der Heiden durch das Papsttum angeführt wird. Diese Bulle entstand auf Druck indianerfreundlicher Missionare, die Probleme mit der Krone dafür riskierten, nicht als Motu proprio seitens des Papsttums. Es stimmt, dass Paul III., der Lehre der guten Theologen und Missionare nun folgend, darin schreibt: «Wir erklären […] dass die oben genannten Indios und alle anderen Völker, die künftig mit den Christen bekannt werden, auch wenn sie noch ausserhalb des christlichen Glaubens stehen, dennoch ihrer Freiheit und ihres Besitzes nicht beraubt werden dürfen; vielmehr sollen sie ungehindert und erlaubterweise das Recht auf Besitz und Freiheit ausüben und sich dessen erfreuen können. Auch ist es nicht erlaubt, sie in den Sklavenstand zu versetzen. Alles, was diesen Bestimmungen zuwiderläuft, sei null und nichtig.»

Verurteilung des Sklavenhandels «zur rechten Zeit» fehlte

US-Amerikanischer Sklave, der seinem Meister entronnen ist, 1863
US-Amerikanischer Sklave, der seinem Meister entronnen ist, 1863
Aber auch hier muss man zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten unterscheiden. Während die Autoren der jüngsten Erklärung die Bulle zugunsten des Papsttums als eine Art universale Menschenrechtserklärung Roms interpretieren und meinen wohl, das «null und nichtig» schliesse auch die Ermächtigung der Portugiesen im 15. Jahrhundert zur Versklavung der Schwarzen ein, ist die historische Forschung eher der Meinung, dass die Worte des Papstes nur die Sklaverei der Indios und ähnlicher Heiden, nicht jedoch die der Schwarzen verbietet.

De facto ging diese weiter, ja, sie kam erst recht in Fahrt im 17. Jahrhundert … und eine explizite Verurteilung des transatlantischen Sklavenhandels «zur rechten Zeit» fehlt leider in der Geschichte des Papsttums; genauso wie die deutliche Verurteilung des Holocausts fehlte, als sie nötig gewesen wäre.

Keine Angst vor der Wahrheit

Die jüngste römische Erklärung ist als Anfang eines Umdenkens zu begrüssen, aber sie geht nicht weit genug. Bei der sukzessiven Öffnung von Teilen der vatikanischen Archive seit Leo XIII. pflegen die Päpste zu sagen, dass die Kirche keine Angst vor der Wahrheit habe. Das ist ein gutes Motto, denn nur die Wahrheit wird uns «frei machen» (Jn 8,32) – frei von der Last des Papalismus des Zweiten Jahrtausends, die das Papsttum nicht ins Dritte Jahrtausend mitschleppen sollte.

Das Ganze lehrt uns auch unter anderen dies: hätte das Papsttum des Mittelalters und der Renaissance auf die guten Theologen statt auf die Schmeichler gehört, wäre es mit der «Irrlehre» der universalen Macht des Papstes und der Gewährung von Herrschaftsrechten über die Territorien der Heiden nicht so weit gekommen. Und würde es heute auf die seriöse historische und theologische Forschung mehr hören statt auf diejenigen, die in Rom sagen, was man hören möchte, wäre es im Umgang mit der Entdeckungsdoktrin und anderen Themen besser beraten.

*Mariano Delgado ist seit 1997 Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Freiburg sowie Dekan der Klasse VII (Weltreligionen) in der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).


Delegation der indigenen Völker Kanadas am 1. April 2022 im Vatikan. | © KNA
31. März 2023 | 14:37
Lesezeit: ca. 7 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!