Moderatorin Ella Gremme und der pensionierte Klinikseelsorger Andreas Imhasly bei der Podiumsdiskussion über autonomes Sterben in Baden.
Schweiz

Katholischer Theologe: «Wir brauchen mehr Schutzräume zum Sterben in Heimen»

Die Sterbehilfe-Organisation Exit breitet sich immer weiter aus. Sie wirbt in Berner Trams und mit Prospekten in Altersheimen. Der pensionierte katholische Klinikseelsorger und Theologe Andreas Imhasly möchte Palliative Care stärken: Alters- und Pflegeheime bräuchten mehr «Schutzräume» zum Sterben.

Wolfgang Holz

Die Frau im Publikum war sichtlich erregt. «Exit dürfte es als Option für das Sterben gar nicht geben, höchstens in absoluten Ausnahmefällen», richtete sich die Besucherin an die «Exit»-Präsidentin Marion Schafroth auf dem Diskussionspodium. «Vor allem sollte es keine Werbung für Exit geben dürfen – denn dann machen sich Seniorinnen und Senioren in den Heimen nur gegenseitig Druck, weil sie plötzlich meinen, ihr Leben sei ja nicht mehr lebenswert.»

Assistierter Suizid unterliegt Regeln

Die «Exit»-Präsidentin Marion Schafroth, von Beruf Narkoseärztin, erwiderte, dass die Schweizer Bevölkerung mehrheitlich der Legalität der Sterbehilfeorganisation zugestimmt habe.

Sterben
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In der Realität unterliege die Möglichkeit des assistierten Suizids aber strengen Regeln. Ein beurteilender Arzt und eine Begleitperson seien obligatorisch.

«Wie autonom sind wir im Sterben?»

«Jedes Sterben ist individuell und beinhaltet eine subjektive Entscheidung», rief Schafroth zu Toleranz auf. Letztlich sei es eine Minderheit von gerade mal 1,8 Prozent aller Todesfälle pro Jahr, die aufgrund einer schweren Krankheit mittels «Exit» aus dem Leben scheidet. «Auch die 155’000 Mitglieder von Exit schätzen das Leben sehr – es handelt sich ja nicht um eine todessüchtige Gemeinschaft.»

Doch «wie autonom sind wir wirklich, wenn es um das Sterben geht?» Dieser konkreten Frage ging die Podiumsveranstaltung des Katholischen Frauenbunds Baden und Ennetbaden im Saal Roter Turm am Donnerstag in Baden nach.

Illustres Podium

Pfarreiseelsorgerin und Moderatorin Ella Gremme hatte verschiedene Referenten eingeladen: den Publizisten Matthias Ackeret, «Exit»-Präsidentin Marion Schafroth, den pensionierten Klinikseelsorger Andreas Imhasly, die Pflegefachfrau Ankica Coric und den Orthopäden Jürg Knessl. Der meinte süffisant: «Der Preis für langes Leben ist das Alter.»

Nebeneinander am Podium, aber nicht auf einer Linie: Exit-Präsidentin Marion Schafroth und Publizist Matthias Ackeret.
Nebeneinander am Podium, aber nicht auf einer Linie: Exit-Präsidentin Marion Schafroth und Publizist Matthias Ackeret.

Ein illustres Podium, das kontroverse Meinungen versprach. Ein unterm Strich friedliches Podium, an dem es nie hitzig oder ganz emotional zuging.

«Das Sterben gehört zum Leben.»

Andreas Imhasly, katholischer Theologe

Dabei gelang es insbesondere dem katholischen Theologen und pensionierten Seelsorger Andreas Imhasly, früher im Schweizer Paraplegiker Zentrum Nottwil beschäftigt, humanitäre Gesichtspunkte des Sterbens aufzuzeigen. Also klarzumachen, dass «das Sterben zum Leben gehört». Es gehe deshalb um die Gestaltung eines humanen Sterbens. Menschen, «die Sterbende in diesem Sinn im Tod begleiten, sind eigentlich wie Hebammen».

«Würde des Menschen ist unantastbar»

Ein schönes Bekenntnis zum Leben in all seinen Facetten. Zum Leben im Sterben. Was laut Imhasly auch damit zu tun hat, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. So wie es im deutschen Grundgesetz verankert ist.

Andreas Imhasly war früher Klinikseelsorger im Paraplegikerzentrum in Nottwil.
Andreas Imhasly war früher Klinikseelsorger im Paraplegikerzentrum in Nottwil.

«Denn die Würde eines Menschen ist unabhängig von seinen Erfolgen und seinen Leistungen. Menschliche Existenz kann ihre Würde eigentlich nicht verlieren.»

«Exit ist keine Sterbehilfe»

Im Gegensatz dazu sieht Imhasly die Sterbehilfeorganisation Exit lediglich als «Hilfe zum Sterben» an. «Exit ist keine Sterbehilfe.» Für den Theologen ist und bleibt ein assistierter Suizid letztlich «etwas Gewaltsames». Man sollte sich deshalb nicht zu Helfershelfern des Todes machen, sondern vielmehr zu Vertretern des Lebens im Sterben.

Palliativstation in einem Krankenhaus.
Palliativstation in einem Krankenhaus.

Deshalb ist es für Imhasly auch zentral, dass von staatlicher Seite die Palliative Care und Hospizeinrichtungen finanziell stärker unterstützt werden. Alters- und Pflegeheime bräuchten mehr «Schutzräume» zum Sterben.

Autonomie und Freiheit sind begrenzt

«Es wird oft nur gefragt, wie die Gastronomie in einem Heim ist, aber weniger, ob man dort auch in Würde sterben kann», so der Theologe. Wobei für ihn grundsätzlich die Autonomie und die persönliche Freiheit des Menschen nicht nur im Sterben begrenzt sind. «Der Mensch ist immer verwiesen auf Situationen, Abhängigkeiten und Bedürftigkeiten.»  

Pflegefachfrau Ankica Coric
Pflegefachfrau Ankica Coric

In der Tat scheint die Phänomenologie der heutigen Gesellschaft, in der viele Menschen einsam sind, mit dem Phänomen «Exit» viel zu tun zu haben. Wie Pflegefachfrau Ankica Coric aus ihrer Erfahrung auf dem Podium erzählte, sterben heute in der Schweiz nur noch 20 Prozent der Kranken zu Hause. Im Kreis der Angehörigen. In einer geborgenen Atmosphäre.

Das demütige Sterben im Dorf

«Es gibt aber auch das Sterben in anderen Ländern», erzählt sie und beschreibt, wie im früheren Jugoslawien Frauen in verlassenen Dörfern in verlassenen Gegenden in ihren Gärten in Demut einfach ihren Tod abwarteten.

Orthopäde Jürg Knessl
Orthopäde Jürg Knessl

Sie hat auch miterlebt, wie ihr kranker Sohn Antonio zuhause auf dem Sterbebett früh aus dem Leben geschieden ist. «Die ganze Familie hat sich im Verlauf von drei Tagen von ihm verabschiedet – das war nicht nur schrecklich, sondern es war auch ein schöner Prozess. Das Sterben gehört einfach zum Leben.» Berührende Eindrücke.

Das Gesicht auch nicht im Tod verlieren?

Andererseits hat Coric erfahren, wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, der alles im Leben unter Kontrolle hatte, sich in seiner schweren Krankheit dann dazu entschieden habe, per Exit zu sterben. «Man hatte den Eindruck, er wollte eben auch im Tod nicht sein Gesicht verlieren.»

«Die Sterbenslust unter älteren Menschen ist eigentlich gar nicht so gross.»

Matthias Ackeret, Publizist

Publizist Matthias Ackeret, der seine Mutter im Heim mit Demenzkranken immer wieder besucht, ist aufgefallen, «dass die Sterbenslust unter älteren Menschen eigentlich gar nicht so gross ist». Mit der Sterbehilfeorganisation Exit hat er eine spezielle Erfahrung gemacht.

Exit-Werbung: «Dekadent»

In seinem Buch «Die Glückssucherin» schrieb er über die Autorin Margrit Schäppi. Als er erfuhr, dass diese 2018 per Exit aus dem Leben scheiden wollte, versuchte Ackeret vergeblich, sie von diesem Ansinnen abzuhalten.

Im Nachwort seines Buchs setzte er sich kritisch mit der Schweizer Sterbehilfepraxis auseinander, die für ihn zu einem «unkontrollierten Geschäftsmodell» geworden ist. «Es bräuchte mehr staatliche Kontrolle», forderte Ackeret.

Publizist Matthias Ackeret
Publizist Matthias Ackeret

Er forderte auch ein Legat-Verbot. Sprich: «Sterbehilfeorganisationen sollen nicht auch noch von Verstorbenen etwas erben dürfen. In Altersheimen liegen auch «Exit»-Broschüren aus», kritisiert er. Er findet es zudem «dekadent, wenn Zigarettenwerbung eingeschränkt wird, Exit-Werbung dagegen nicht.»

Absolute Ausnahmefälle: «Exit» kann helfen

Und doch kann offensichtlich auch «Exit» Menschen in absoluten Notsituationen helfen. Theologe Andreas Imhasly räumte bei der Podiumsdiskussion ein, dass es «existenzielle Ausnahmefälle» von Schmerz- und Schwerstkranken gebe, bei denen ein Einsatz von «Exit» ethisch gerechtfertigt sein könne.

Andererseits stellte «Exit»-Präsidentin Marion Schafroth am Ende der Veranstaltung klar, dass sie selbstverständlich – wenn möglich – eines natürlichen Todes sterben wolle. Also nicht per Tod bringender Tablette. «So natürlich, wie ich auch meine Geburten erlebt habe.»


Moderatorin Ella Gremme und der pensionierte Klinikseelsorger Andreas Imhasly bei der Podiumsdiskussion über autonomes Sterben in Baden. | © Wolfgang Holz
10. März 2023 | 17:00
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