SEBASTIAN SCHAFER
Theologie konkret

Katholische Friedensethik: Auf der Suche nach Antworten in Zeiten des Krieges

Der Krieg in der Ukraine geht ins dritte Jahr. In Nahost droht ein Flächenbrand. Dazu kommen Konflikte in Afrika und wachsende Spannungen in Asien. Welche Antworten kann die christliche Friedensethik auf hochkomplexe und reale Bedrohungen geben? Ein theologischer Gastbeitrag von Sebastian M. Schafer.

Sebastian M. Schafer*

Die deutsche Theologin Dorothee Sölle begann einen Vortrag über nukleare Abrüstung mit den Worten: «Dies sind Überlegungen zum Verhältnis von persönlichem Glauben und der Aufrüstungspolitik. Was bedeutet es, ein Christ zu sein in einer sich zunehmend militarisierenden Gesellschaft?» Diese Frage stellte Sölle vor über 40 Jahre. Es wäre schön, sagen zu können: Sie hat ihren Aktualitätsbezug verloren. Das Gegenteil ist der Fall.

Dorothee Sölle
Dorothee Sölle

Die Menschheitsgemeinschaft findet sich heute, mehr als noch vor einigen Jahren, in Konflikten wieder, welche Sölles Überlegungen aktuell machen. Ob wir wollen oder nicht, wir als Christen und Christinnen müssen uns fragen: Was gehen uns die Konflikte in der Ukraine, in Israel und in Palästina ganz persönlich an?

Wege zum Frieden finden

In Sölles Text geht es um Frieden im Angesicht eines ausweglosen Konflikts. Eines Konflikts, dessen Eskalation scheinbar nur durch Aufrüstung verhindert werden kann. Oder, sollte der Ausbruch erfolgen, die totale Vernichtung der Menschheit droht. An diesem Punkt, so Sölle, ist die christliche Friedensethik gefragt.

Bombardierte katholische Schule in Gaza.
Bombardierte katholische Schule in Gaza.

Die Friedenethik muss sich zentralen Fragen der Friedensförderung stellen: Wie können Wege zum Frieden geschaffen werden, die mit der Logik der Eskalation brechen? Welche militärischen oder wirtschaftlichen Massnahmen können aus friedensethischer Perspektive bejaht werden – vorausgesetzt, sie führen zum Frieden? Kann eine Eskalation friedensfördernd sein? Und wann dürfen Christen und Christinnen die Forderung nach Vergebung in den Diskurs einbringen, ohne verharmlosend, anmassend und naiv zu sprechen?

Gewalt ist biblisch

Die Bibel setzt Gewalt bereits ganz zu Beginn ins Zentrum ihrer Erzählung. Die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain in Kapitel 4 der Genesis bezeichnet aus theologischer Sicht die Urform der zwischenmenschlichen Gewalt. Auf die Frage Gottes, wo Abel sei, antwortet Kain: «Ich weiss es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?» Der Brudermord und die Ablehnung von Verantwortung ist die Blaupause für menschliche Gewalt und die Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern.

Brudermord. Hauptportal des Doms von Speyer
Brudermord. Hauptportal des Doms von Speyer

Dementsprechend und dem gegenüber stellt die katholische Lehre das Friedensstreben ins Zentrum ihrer Überlegungen. Die katholische Kirche hat sich durch ihre Geschichte hindurch intensiv mit der Frage nach den Bedingungen und den Voraussetzungen für Frieden befasst. Der Aspekt der Gerechtigkeit des Friedens stand und steht dabei immer im Zentrum der Überlegung.

Ein katholisches Friedensverständnis

Die Überzeugung, dass Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg meint, ist zentral für die christliche Friedensethik. Oberstes Ziel des katholischen Friedensstrebens ist: Die Aufrechterhaltung des Friedens und die Vermeidung des Krieges. Die Grundlage für dieses Verständnis liegt in der christlichen Überzeugung, dass jedem Menschen eine unveräusserbare Würde – begründet in seiner Gottebenbildlichkeit – und damit einhergehend Menschenrechte zukommen.

Papst Johannes XXIII. beim Zweiten Vatikanischen Konzil - eine vorsichtige Annäherung an die Moderne.
Papst Johannes XXIII. beim Zweiten Vatikanischen Konzil - eine vorsichtige Annäherung an die Moderne.

Die Formulierung dieser Menschenrechte erfolgte in lehramtlicher Hinsicht unter anderem in der Enzyklika «Pacem in terris» von Papst Johannes XXIII. Dieser hält fest: Jeder Mensch «hat eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen. Weil sie allgemein gültig und unverletzlich sind, können sie auch in keiner Weise veräussert werden».

Fehlende Perspektiven

Eine katholische Friedensethik stellt auch heute deutliche Anfragen an die schwelenden Konflikte. Im allgemeinen Bewusstsein sind vor allem der Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie der Krieg in Gaza. Aber auch die zahlreichen anderen Konflikte, welche die momentane weltpolitische Situation prägen, dürfen nicht vergessen gehen. Dazu gehören unter anderem die kürzlich erfolgte Bombardierung jemenitischer Gebiete durch die USA und ihrer Verbündeten und der Krieg der türkischen Regierung gegen das autonome Gebiet Rojava.

Die Gräber gefallener Soldaten in Lemberg sind mit Fahnen geschmückt.
Die Gräber gefallener Soldaten in Lemberg sind mit Fahnen geschmückt.

Den Konflikten ist ein Aspekt gemein: Ihnen fehlt die Perspektive, wie Frieden gestaltet werden kann. Der Krieg zwischen Israel und der Hamas macht dies besonders deutlich. Ein gerechter Frieden liegt in weiter Ferne. Sowohl dem palästinensischen Volk als auch der von verschiedenen Seiten akut bedrohten israelischen Bevölkerung fehlt jede Perspektive, eine menschenwürdige, von Angst und Leid unberührte Existenz zu führen.

Die Antwort der christlichen Friedensethik ist struktureller Art: Nur, wenn eine Gesellschaft geschaffen wird, in der jeder Mensch sich im Sinne seiner Existenz verwirklichen kann, kann ein nachhaltiger Boden für Frieden geschaffen werden. Dies erfordert konkrete politische Massnahmen. Aus friedensethischer Perspektive müssen zwei Faktoren im Zentrum der Überlegungen stehen: Was sind die Bedingungen, welche ein friedliches Zusammenleben der betroffenen Parteien ermöglichen? Und: Inwiefern können Massnahmen zur Wiederherstellung dieses friedlichen Zusammenlebens gerechtfertigt werden, welche Gewalt einschliessen oder zumindest legitimieren?

Waffenlieferungen als Friedensförderung?

Die zweite Frage ist im Kontext des Ukrainekonflikts zentral: Sind Waffenlieferungen, die zum Tod russischer Soldaten führen, ein legitimes Mittel der Friedensförderung? Die Pflicht der Bewahrung menschlichen Lebens steht in allen Situationen an erster Stelle. Und sie macht ein Dilemma sichtbar: Der Einsatz von Gewalt zur Verhinderung eskalierender Gewalt. Dieser Umstand wird erschwert durch die Undurchsichtigkeit komplexer Konfliktsituationen und der Unmöglichkeit, abzuschätzen, welches das kleinere Übel darstellt.

Beten für die Ukraine
Beten für die Ukraine

Man könnte sagen: Die christliche Friedensethik ist an diesem Punkt zu Handlungsunfähigkeit verdammt. Der Rekurs auf die Forderung, eine Politik und gesellschaftliche Zustände zu schaffen, welche eine solche Zwickmühle gar nicht erst zulassen, erscheint als hilfloser und nur scheinbar befriedigender Ausweg zu sein, fernab der politischen Realitäten.

Das Prinzip Vergebung – zynisch und geboten

Die einzige Möglichkeit, aus der Zwickmühle der Frage nach Gewalt zur Verhinderung von Gewalt zu entkommen, stellt das Prinzip der Vergebung dar. Katholisches Engagement für Frieden hat durch die Geschichte hindurch immer das Prinzip der Vergebung ins Zentrum ihres Diskurses gestellt. Nur, wenn die Möglichkeit des Verzeihens eröffnet wird, ist der Weg zu einem friedlichen Zusammenleben gesichert. Allerdings bietet diese Forderung viel Angriffsfläche, um als weltfremd, anmassend oder zumindest kaltblütig verabschiedet zu werden.

Wie schwierig es ist, für eine Friedensethik zu argumentieren, welche die Vergebung betont, ist offensichtlich. Gerade im Kontext des Ukrainekriegs, der durch einen völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine ausgelöst wurde, stellt sich die Frage nach Vergebung erneut in voller Schärfe. Vom ukrainischen Volk zu fordern, im Falle eines Kriegsendes dem russischen Volk für das widerfahrene Leid zu vergeben, ist zynisch.

Ungeachtet dessen ist es die Pflicht aller Getauften, sich immer und immer wieder die Worte Jesu ins Gedächtnis zu rufen, mit denen er das Liebesgebot von seinen Nächsten auf seine Feinde ausweitet: «Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für eure Verfolger und Verleumder» (Mt 5,43-44).

*Sebastian Schafer (28) ist Theologe. Er doktoriert an der Universität Freiburg zu prophetischer Gesellschaftskritik und Identität. Bis Ende Januar 2024 war Schafer für den Kommunikationsdienst der Schweizer Bischofskonferenz tätig. Aktuell arbeitet er beim Grünen Bündnis Stadt Bern.


SEBASTIAN SCHAFER | © photosphere/Ueli Hiltpold
25. Februar 2024 | 07:00
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