Adrian Holderegger, emeritierter Professor für Moraltheologie und Ethik
Schweiz

Kapuziner Holderegger: «Die freie und verantwortliche Person verdient Achtung, nicht deren Handlung»

Die Walliserinnen und Walliser haben vor kurzem per Abstimmung festgelegt, dass Freitodbegleitungen in öffentlichen Institutionen erlaubt sei. Das passe zum hohen Wert, den wir dem selbstbestimmten Leben zuschreiben, sagt Adrian Holderegger. Theologisch sei die Situation aber keineswegs geklärt. Holderegger ist Kapuziner und emeritierter Ethik-Professor der Universität Freiburg.

Stephan Leimgruber*

Adrian Holderegger, warum löst der assistierte Suizid Irritationen aus?

Adrian Holderegger: Hier müssen wir unterscheiden zwischen einer generellen ethischen Frage und verschiedenen Situationen, in denen jemand das eigene Leben beenden will. Denn es macht einen Unterschied, ob jemand in den Tod geht, weil er aus psychischen und anderen Gründen nicht mehr in der Lage ist, am Leben zu bleiben, obwohl noch eine grössere Lebensspanne vor ihm liegt, oder ob sich jemand am Ende des Lebens, von Krankheit und Lebenseinbussen gezeichnet, den Tod herbeiwünscht. Bei einem Jugendlichen, der unter starker Suizidalität leidet, dem die inneren Kräfte nicht ausreichen, mit Schwierigkeiten wie psychischer Überforderung, Beziehungs- und Schulstress produktiv umgehen zu können, drängt sich die ethische Frage in den Hintergrund; vielmehr schiebt sich in den Vordergrund die Problematik nach der angemessenen Hilfe, damit die Betroffenen zu einer freien und eigenständigen Lebensführung finden können.

«Bei Menschen am Ende des Lebens stellen sich Fragen der Autonomie.»

Schwer kranken Menschen ist die eigenständige Lebensführung aber oft versagt.

Holderegger: Deshalb ist die Situation eines Menschen anders zu beurteilen, der sich am Ende seines Lebens den Tod unter Inanspruchnahme der Hilfe Dritter wünscht. Hier drängen Fragen nach der legitimen Selbstbestimmung, der Autonomie und der Freiheit in den Vordergrund. Doch nach wie vor stossen wir an die Grenze des Begreifbaren, des Nachvollziehbaren, wenn ein Mensch seinen Tod herbeiführt, weil dies letztlich sein unauslotbares Geheimnis bleibt.

Testament
Testament

Kann Hilfe zum Suizid am Lebensende eine Lösung sein?

Holderegger: In der Schweiz ist im Gesetz die grundsätzliche Möglichkeit des assistierten Suizids schon viel länger festgehalten als in den umliegenden Ländern (seit 1937). Im Strafgesetzbuch ist lediglich die Hilfe zur Selbsttötung aus «selbstsüchtigen Beweggründen» (Artikel 115) verboten. Alle anderen Formen der Hilfe zur Selbsttötung sind wegen unterschiedlicher ethischer Einschätzungen und wegen der komplexen Situationen politisch ungeklärt.

«Im rechtlich ungeregelten Raum der Schweiz konnten Selbsthilfeorganisationen entstehen.»

Gerade in diesem rechtlich ungeregelten Raum konnten im 20. Jahrhundert die verschiedenen Sterbehilfeorganisationen wie Exit, Dignitas oder Pegasus entstehen, die Unterstützung bei der Herbeiführung des eigenen Todes anbieten. Diese Organisationen – wie kontrovers deren Aktivitäten auch diskutiert werden – können sich bei den vielen ungeklärten ethischen und juristischen Fragen auf das öffentliche Meinungsbild berufen.

Vereins-Logo von Exit
Vereins-Logo von Exit

Die Gesellschaft akzeptiert den assistierten Suizid zunehmend.

Holderegger: Die öffentliche Einschätzung der Suizidhilfe hat sich in der Schweizer Gesellschaft seit den Neunzigerjahren in Richtung einer breiten Akzeptanz entwickelt. Nach einer jüngst erschienenen Studie zeigt sich, dass von den über 55-Jährigen vier Fünftel die Suizidhilfe gutheissen; zwei Drittel können sich vorstellen, selbst einmal Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Diese hohe Akzeptanz der Bevölkerung erstaunt wenig angesichts des hohen Werts einer selbstbestimmten, von der individuellen Freiheit geprägten Lebensführung. Schliesslich wird diese Sicht ja auch vom Bundesgericht unterstützt, das festhält, dass «die Selbstbestimmung auch das Recht (umfasst), über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden».

«Die theologischen Vorbehalte sind gesellschaftlich an ihre Grenzen gestossen.»

Das widerspricht doch der Lehrmeinung der Kirche. Was heisst das für Sie als katholischen Moraltheologen?

Holderegger: Zunächst nehme ich diese bundesgerichtliche Position wie auch die öffentliche Meinung zur Kenntnis. Natürlich hat man als Theologe kritische Vorbehalte anzubringen, vor allem da sich alle christlichen Kirchen gegen ein generelles und uneingeschränktes Verfügungsrecht des Menschen aussprechen. Dies ist aber im Detail differenziert zu betrachten. Die theoretische Diskussion scheint mir allerdings wenig hilfreich, gerade wenn die dramatischen Veränderungen des öffentlichen Meinungsbildes betrachtet werden. Die theologischen Vorbehalte sind hier gesellschaftlich an ihre Grenzen gestossen und verpufft, wie jüngste Abstimmungen zeigen.

Was meinen Sie damit?

Holderegger: Angesichts des unüberbrückbar scheinenden Gegensatzes haben wir als Akteure dieser Gesellschaft die Diskussion gleichsam auf einer zweiten Ebene zu führen: Unter der Voraussetzung, dass die zivile Gesellschaft die Suizidhilfe in ihren Institutionen wie Heimen und klinischen Einrichtungen weiter etablieren will, haben Kirchen und Theologie diese Prozesse kritisch zu begleiten. Denn es steht keineswegs fest, dass es für Sterbewillige eine kompetente, professionelle Begleitung gibt, die auch mögliche Alternativen wie Palliative Care oder Sterbefasten aufzeigt. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass der Suizidentscheid einem subtilen gesellschaftlichen und ökonomischen Druck entzogen ist, und dass hier die nötigen Vorkehrungen getroffen werden. Es ist keineswegs entschieden, wer Zugang zu staatlich legitimierten Suizidhilfen erhalten soll: nur terminal Kranke, schwer psychisch Traumatisierte, junge Menschen? Und vor allem ist nicht gesichert, dass der Rechtsanspruch auf Palliativ- und Hospizversorgung gewährleistet wird. In diese Debatten haben wir uns einzumischen.

Provinzrat der Kapuziner (v.l.n.r.): Benno Zünd, Josef Haselbach, Inna Reddy Allam; Niklaus Kuster, Adrian Müller.
Provinzrat der Kapuziner (v.l.n.r.): Benno Zünd, Josef Haselbach, Inna Reddy Allam; Niklaus Kuster, Adrian Müller.

Das sind gesellschaftspolitische Argumente. Wie argumentieren Sie als Ordensangehöriger und Moraltheologe?

Holderegger: Wenn man sich als Theologe die Frage stellt, ob der Mensch das Recht hat, über sich zu verfügen, dann kommt das wichtige Argument der Überlieferung ins Spiel, dass sich das menschliche Leben einem Schöpfer verdankt. Und weil sich der Mensch einem Schöpfer verdankt, hat er grundsätzlich kein Recht, radikal über sich selbst zu verfügen. Denn dies wäre ein Eingriff in die Hoheitsrechte Gottes. Das ist die Argumentation, die sich während Jahrhunderten – seit Augustinus über Thomas von Aquin bis in unsere Zeit – durch hält, eine Argumentation, die wir in ähnlicher Form in allen fünf grossen Schriftreligionen finden. Der Kern des Arguments lautet: Gott ist Schöpfer des Lebens und, weil er der letzte Grund dieses Lebens ist, hat der Mensch kein Recht, über sich selbst radikal zu verfügen.

«Theologisch kann man argumentieren, dass auch die Freiheit dem Menschen gegeben ist.»

Theologischerseits gibt es hierzu verschiedene Meinungen. Denn man kann auch andersherum argumentieren, dass auch die Freiheit dem Menschen gegeben ist und dass die Freiheit letztlich auch darin besteht, über sich selbst verfügen zu können. Es muss dann darüber entschieden werden, ob es ein grösseres Gut als das geschenkte Leben oder ein Übel gibt, das die Beendigung des Lebens rechtfertigen kann. Die eigentliche Botschaft der Religionen besteht darin, dass die Selbsttötung einen aggressiven Akt gegenüber dem Leben darstellt und die Achtung, Achtsamkeit und die Ehrfurcht vor dem Leben in gewisser Weise unterläuft.

Was bedeutet das für einen Betroffenen in einer ausweglosen Situation?

Holderegger: Die theologische Tradition hat immer gewusst, dass in Grenz- und Extremsituationen Lebensumstände mit einer derart fundamentalen, existenziellen Bedrohung eintreten können, dass nach menschlichem Ermessen ein würdiges Weiterleben kaum mehr möglich ist. Hier – so wird gesagt – hat man sich eines ethischen Urteils zu enthalten und den Gewissensentscheid zu respektieren. Der Philosoph und gläubige Christ Robert Spaemann hat einmal formuliert: Einem Freund, der sich in einer äusserst prekären Situation nach langen ernsthaften Überlegungen zum Suizid entschieden hat, würde er bis zum Letzten beistehen, ihn unterstützen und die daraus entstehenden Konsequenzen auf sich nehmen. Ich selbst würde genauso handeln. Denn in erster Linie verdient die freie und verantwortliche Person Achtung, und nicht deren Handlung, auch wenn ich anderer Überzeugung sein sollte.

Wären Sie bereit, als Seelsorger bei einer Selbsttötung dabei zu sein und der betreffenden Person beizustehen? Was wäre hier eine christliche Grundhaltung?

Holderegger: Ob sich Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Prozess des assistierten Suizids einlassen sollen, kann ich nicht abschliessend beantworten. Einerseits ist Seelsorge ein Dienst im Auftrag der Kirchen. Damit ist der innere Bereich des kirchlichen Lebens betroffen. Jede seelsorgerliche Tätigkeit wird daher in der Öffentlichkeit zu Recht als repräsentatives Handeln der Kirche als Institution wahrgenommen, die in der Regel das Suizidverbot restriktiv auslegt. Auf der anderen Seite bedeutet Seelsorge Begleitung, Unterstützung und Hilfe besonders in schwierigen Lebenssituationen.

Die Gedanken und Gefühle teilen - die Spitalseelsorgerinnen und -Seelsorger hören zu.
Die Gedanken und Gefühle teilen - die Spitalseelsorgerinnen und -Seelsorger hören zu.

Gilt das auch für die seelsorgliche Begleitung bei der Hilfe zum Suizid?

Holderegger: Zunächst gilt es zu betonen, dass es hier in erster Linie nicht um ein moralisches Urteil der Suizidhandlung und nicht um ein moralisches Urteil eines Gewissensentscheids geht, sondern um die Frage, wie sich die in der Seelsorge Tätigen gegenüber Suizidwilligen verhalten sollen. Doch auch dies kann in ein Dilemma führen. Ich meine aber – vorausgesetzt man kann diese Hilfe im eigenen Gewissen verantworten – , dass aus einer Haltung der Barmherzigkeit und Solidarität im Leiden Hilfe geleistet werden kann und soll, in Respektierung eines subjektiven Entscheids, den man unter Umständen nicht teilen kann. Der einzelne Seelsorgende muss hier eine Entscheidung in seinem eigenen Gewissen im Lichte der geschuldeten Solidarität und der realen Nächstenliebe vornehmen.

Bedeutet eine Präsenz bei Suizidwilligen automatisch, dass der Vorgang der Selbsttötung unterstützt wird?

Holderegger: Ich schicke voraus und betone: Die Hilfe zum Suizid sollte nicht zum gesellschaftlichen Normalfall werden. Die Hilfe zum Suizid darf nicht zu einem Anspruchsrecht werden, das sich an den Staat oder Dritte richtet, die gezwungenermassen die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen haben. Es gibt aber notgedrungen einen Grenz- und Graubereich, der zu tolerieren ist, in dem Sinne, dass ein Spielraum der Gewissensentscheidungen im Bereich der Hilfe zum Suizid offengehalten wird. Die Seelsorge partizipiert an diesem Grenzbereich. Und diesem Konfliktfeld sollte man sich grundsätzlich nicht entziehen, sondern es seelsorgerlich gestalten.

* Stephan Leimgruber (74) ist emeritierter Professor für Religionspädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Priester des Bistums Basel und Chorherr von St. Leodegar in Luzern. Die Publikation erfolgt mit Einverständnis des Autors. Das Interview ist zuerst in der Wochenzeitschrift «Sonntag» erschienen, dann in den «Freiburger Nachrichten».


Adrian Holderegger, emeritierter Professor für Moraltheologie und Ethik | © zVg
13. Dezember 2022 | 15:47
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