Stephan Pfuertner und Roland Trauffer (rechts) 1972 in Freiburg i.Ü.
Schweiz

Stephan Pfürtner war den Bischöfen und dem «Pillen-Paul» um ein Vielfaches voraus

Vor 100 Jahren kam Hubert Pfürtner auf die Welt. Er trat in den Dominikanerorden ein und wurde als Stephan Pfürtner der mutigste Professor der Schweiz. Studierende wie Roland Trauffer gingen für ihn auf die Strasse. Der synodale Prozess zeigt: Pfürtners Anliegen sind nach wie vor aktuell und nicht gelöst. 

Stephan Leimgruber*

Am 23. November 2022 jährt sich der Geburtstag von Hubert Pfürtner zum 100. Mal. Er wuchs in Danzig auf und wurde im Zweiten Weltkrieg wegen Aufmüpfigkeit inhaftiert. Als Dominikaner erhielt er den Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Freiburg i.Ü., wo er aber bald mit dem Lehramt und mit Bischof Pierre Mamie in Konflikt geriet. 

Mit den Fingern den Rosenkranz beten

Infolge unüberbrückbarer Differenzen reichte er 1974 den Rücktritt ein, doch wurde er umgehend von der Evangelischen Fakultät Marburg zum Professor ad personam für Sozialethik berufen. 13 Jahre lang konnte er weiterlehren. Er heiratete die Ärztin Irmgard Bloss, mit der er zwei Kinder bekam. 2012, im Alter von 89 Jahren, starb Stephan Pfürtner mit geläutertem Herzen. 

Stephan Leimgruber ist emeritierter Professor für Religionspädagogik und Priester des Bistums Basel.
Stephan Leimgruber ist emeritierter Professor für Religionspädagogik und Priester des Bistums Basel.

Zurück zu seinen spirituellen Wurzeln. Zum Priesterberuf fand er in der Einzelhaft während des Zweiten Weltkriegs. Nach langer Isolation, die ihn an ungeahnte Grenzen brachte, erhielt er das Neue Testament. Er las darin, begegnete Christus und erinnerte sich an den Ratschlag der Mutter, mit den Fingern den Rosenkranz zu beten. 

Promotion über Triebleben und reflektierte Sittlichkeit

Arzt oder Pfarrer? Hubert Pfürtner entschied sich für die theologische Existenz und das Mönchtum. Er trat 1945 in den Dominikanerorden ein, wo er den Namen Stephan erhielt. Er studierte Theologie und Philosophie in Walberberg, Freiburg i.Ü. und Rom, wo er aufgrund einer Arbeit zur Spannung zwischen Triebleben und reflektierter Sittlichkeit promoviert wurde.

Stephan Pfürtner als Jugendseelsorger in jungen Jahren (links) und später als Professor. Auch er eckte in Rom an.
Stephan Pfürtner als Jugendseelsorger in jungen Jahren (links) und später als Professor. Auch er eckte in Rom an.

Er wurde Lehrer an der Dominikanerhochschule in Walberberg (1954–1966) und wurde 1966 Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät in Freiburg i.Ü. (1966–1974). Hier widmete er sich mit ganzer Kraft dem anspruchsvollen Lehr- und Forschungsauftrag.

Heisses Eisen Sexualmoral

In der neueren Moraltheologie gibt es grob zwei Schulen. Die eine Schule betont die Tradition, argumentiert naturrechtlich und verbindet schlechte Handlungen mit schweren Sünden. Die andere Schule orientiert sich mehr am persönlichen Gewissensentscheid und an der Verantwortung des Einzelnen. In diese Schule lassen sich etwa der Glarner Moraltheologe Franz Böckle und eben auch Stephan Pfürtner einordnen.

"Love is Love"
"Love is Love"

Früher wie heute ist die kirchliche Sexualmoral ein heisses Eisen. Während die traditionelle Moraltheologe in der ehelichen Sexualität die Gewährleistung der Nachkommenschaft gemäss dem späteren Augustinus sieht, geht die moderne Moraltheologie von mehrerer Sinnrichtungen der Sexualität aus: Liebe, Fortpflanzung, Identitätsfindung, Lebensfreude, Lust. 

«Sexualität braucht Liebe und Vernunft»

Stephan Pfürtner wusste sich eindeutig der zweiten Konzeption verpflichtet: «Sexualität braucht Liebe und Vernunft.» Dabei war er weit entfernt davon, einer Zügellosigkeit das Wort zu reden. Stattdessen vertrat er eine subjektorientierte, anthropologisch gewendete und interdisziplinär denkende Ethik der Verantwortung. Doch damit überforderte er den Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, Pierre Mamie.

Pierre Mamie war Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg.
Pierre Mamie war Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg.

Der Konflikt mit Bischof Mamie und der römischen Behörde hatte sich bereits früh angekündigt. Schon in seiner Antrittsvorlesung «Geburtenkontrolle – ein lösbares Problem» (1967) erblickte Pierre Mamie inakzeptable Meinungen. 

Konflikt mit Bischof Pierre Mamie

Doch weil sich Papst Paul VI. in der Frage der Geburtenregelung noch nicht festgelegt hatte, griff er vorerst nicht ein. 1968 erfolgte dann die Festlegung in der Enzyklika «Humanae vitae», die naturrechtlich argumentiert und künstliche Empfängnisverhütung als in sich schwere Sünde betrachtet.

Studierende der Freiburger Universität ergreifen 1972 Partei für Stephan Pfürtner.
Studierende der Freiburger Universität ergreifen 1972 Partei für Stephan Pfürtner.

Auch nach 50 Jahren wurde sie von den Gläubigen nicht mehrheitlich rezipiert, vom Lehramt indessen auch nicht korrigiert. Der Eklat ereignete sich im November 1971 beim Berner Vortrag im Kursaal zum Thema: «Moral – was gilt heute noch?» 

Streitfrage Abtreibung

In diesem Vortrag relativierte Stephan Pfürtner offizielle Moralvorschriften. Er verstand Sexualität als wichtige Dimension menschlicher Selbstverwirklichung und befürwortete freiheitliche Positionen der Gewissenentscheidung. Geschlechtsverkehr vor der Ehe verurteilte er nicht ausnahmslos als schwere Sünde, was für damalige Katholikinnen und Katholiken wie auch für den Ortsbischof «ungeheuerlich» war. 

Solidarität mit Stephan Pfürtner: "Wir sind nicht taub bei Professorenraub."
Solidarität mit Stephan Pfürtner: "Wir sind nicht taub bei Professorenraub."

Mit diesen Aussagen brachte er die Bischöfe und den Ordensoberen auf den Plan. Da er auch noch betreffend Abtreibung kein absolutes Verbot aussprach, sondern differenzierte und den Embryo als Leben bezeichnete, nicht aber bereits als Menschen, war das Mass voll. 

Roland Trauffer demonstriert für Stephan Pfürtner

Bischof Pierre Mamie und der Ordensobere baten im Auftrag Roms Stephan Pfürtner darum, infolge unüberbrückbarer Lehrdifferenzen entweder seine Positionen öffentlich zu widerrufen oder den Rücktritt einzureichen. Daraufhin gab es eine grosse Welle der Solidarität – angeführt unter anderem von Roland-Bernhard Trauffer, dem späteren Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz und Generalvikar des Bistums Basel.

Roland Trauffer (Mitte) solidarisiert sich mit Stephan Pfürtner.
Roland Trauffer (Mitte) solidarisiert sich mit Stephan Pfürtner.

Pater Pfürtner konnte und wollte seine persönlichen Überzeugungen nicht verraten und wählte trotz grosser persönlicher Risiken die Bitte um Entpflichtung von der Professur für Moraltheologie, wie Ludwig Kaufmann in seiner Dokumentation rekonstruiert hat.

Professur in Marburg

Dem Rücktritt folgte der Austritt aus dem Orden, was er später bedauerte, denn diese Ordensfamilie gab ihm immensen Reichtum. Er stellte sich einen idealen Dominikanerorden als Kombination von Zölibatären und Verheirateten vor. 

Der angesehene Fachvertreter konnte aber den Bruch in der Biographie und die damit erlittenen Wunden bald aufarbeiten und erhielt unverhofft eine neue Perspektive. Denn bereits ein Jahr später bekam er den Ruf auf die Professur für Sozialethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Marburg. 

Missbrauchsfälle haben mit der zölibatären Lebensform zu tun

Hier konnte er seine fundierten Meinungen weitervertreten, ohne dass seine Freiheit beschnitten worden wäre. Zahlreiche Projekte im Fach und dazu Kooperationen im ökumenischen Bereich gelangen ihm. Noch in seinem Ruhestand (1988–2012) konnte er Bücher verfassen, unter anderem den ersten Teil seiner Biografie. 

Solidarität mit Stephan Pfürtner.
Solidarität mit Stephan Pfürtner.

Er behielt durchaus Humor und gab sich nicht verbittert, aber doch voller Sehnsucht nach vermehrten Kontakten mit seinen Ordensbrüdern. Angesprochen auf die sexuellen Missbrauchsfälle in einem Interview kurz vor seinem Tod sagte er, dass diese nicht monokausal zu erklären seien, etwa mit dem Zölibat. Aber er meinte, dass die Missbrauchsfälle durchaus mit der zölibatären Lebensform zu tun hätten.

Seine Anliegen sind immer noch nicht gelöst

Geehrt wurde Stephan Pfürtner mit dem Preis «Gerechter unter den Völkern» (2003), weil er vier Juden das Leben gerettet hatte. Auch erhielt er den Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche. Wer die Debatten im Synodalen Weg und die Themen des synodalen Prozesses verfolgt, merkt: Stephan Pfürtner war seiner Zeit um ein Vielfaches voraus. Seine Anliegen sind nach wie vor aktuell – und immer noch nicht gelöst.

* Stephan Leimgruber (74) ist emeritierter Professor für Religionspädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Priester des Bistums Basel und Chorherr von St. Leodegar in Luzern.


Stephan Pfuertner und Roland Trauffer (rechts) 1972 in Freiburg i.Ü. | © Keystone
23. November 2022 | 15:56
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