Papst Franziskus begrüsst einen indigenen Vertreter in Kanada, im Jahr 2021.
Schweiz

Kam der Rüffel aus Rom bewusst vor Franziskus' Kanada-Reise?

In Kanada und in Deutschland steckt die Kirche in einer schweren Krise. Der Theologe Josef Sayer vermutet, die römische Kritik am Synodalen Weg wurde bewusst vor der Kanada-Reise veröffentlicht: um zu verhindern, dass der Synodale Weg sich auf Franziskus’ Aussagen in Kanada berufen kann.

Raphael Rauch

An einer Pressekonferenz der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Bogotá wurden Sie gefragt, welche Bedeutung Franziskus’ Kanada-Reise hat. Warum ist diese aus Ihrer Sicht historisch?

Josef Sayer*: Ich habe zwei Gedanken ausgeführt: Erstens stellt sich Papst Franziskus der kirchlichen Verantwortung und will seinen Schmerz über das Versagen von Mitgliedern der Kirche den Indigenen Kanadas gegenüber direkt und persönlich ausdrücken. Er liess es nicht bei einer Begegnung in Rom. Mit den Betroffenen an ihrem Ort des Leidens von Angesicht zu Angesicht zusammenzukommen, kann die Tiefe der christlichen und humanen Schuldverstrickung anders kennzeichnen und daher auch die Tiefe der Bitte um Versöhnung zeigen. Wie bereits vor der Amazonas-Synode bei seinem Besuch in Puerto Maldonado wird wiederum deutlich: Franziskus ist den Opfern und Vulnerablen wirklich zugetan. 

Josef Sayer war früher Professor in Freiburg. Anschliessend leitete er das Hilfswerk "Misereor", das Pendant zur Fastenaktion.
Josef Sayer war früher Professor in Freiburg. Anschliessend leitete er das Hilfswerk "Misereor", das Pendant zur Fastenaktion.

Und was war Ihr zweiter Gedanke?

Sayer: Aufgrund meiner persönlichen pastoralen Arbeit als Pfarrer mit Indigenen in Peru habe ich konkret erfahren, wie sehr hinter dem Schicksal und den Leiden von Indigenen ein grundlegendes strukturelles Problem steckt: nämlich das eines fatalen weissen Rassismus und Kolonialismus gegenüber den Indigenen.

Josef Sayer bei einem Bergbauer in Cuzco/Peru.
Josef Sayer bei einem Bergbauer in Cuzco/Peru.

Was meinen Sie damit?

Sayer: Die Indigenen sind die Opfer! Sei es in Kanada, sei’s in Peru oder in Amazonien. Der peruanische Staat zum Beispiel agierte eindeutig rassistisch. Er schützte die Indigenen während des schmutzigen Krieges in den 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre mit über 70’000 Toten nicht. Die übergrosse Mehrheit der Toten und Gefolterten waren Indigene, keineswegs die Weissen oder Mestizen.

«Das Problem des weissen Rassismus muss grundlegend angegangen werden.»

Sie sehen also nicht nur die Kirche in der Verantwortung?

Sayer: Genau. Um diese strukturelle Perspektive geht es, damit das Problem in seiner Tiefe erkannt und angegangen werden kann. Es gilt zu begreifen, dass bestimmte abscheuliche Vorkommnisse nicht einfach von den Regierungen und Gesellschaften auf dem Rücken der Kirche weggedrückt werden dürfen. Das Problem des weissen Rassismus gegenüber der Indigenen muss grundlegend angegangen werden – und zwar insbesondere von der Kirche, aber auch genauso von der Politik, der Ökonomie und im sozialen Bereich der Gesellschaft. 

Papst Franziskus begrüsst eine Vertreterin einer indigenen Delegationen in Kanada.
Papst Franziskus begrüsst eine Vertreterin einer indigenen Delegationen in Kanada.

Was schlagen Sie vor?

Sayer: Es bedarf endlich einer integralen Vorgehensweise. Von der Kirche gerade auch deshalb, weil nach ihrer Lehre der «Mensch nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen» ist. Und zwar jeder Mensch! Und auch das deutsche Grundgesetz sieht vor: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Es geht um die Würde eines jeden Menschen, nicht einfach nur derer mit einem deutschen Pass. 

Die Ordensfrau Daisy Panikulam Sabs und der Weihbischof in Trier, Jörg Michael Peters, im Gespräch.
Die Ordensfrau Daisy Panikulam Sabs und der Weihbischof in Trier, Jörg Michael Peters, im Gespräch.

Franziskus hat zur Gewalt und zum Missbrauch von Indigenen in Kanada klare Worte gefunden. Kurz vor Franziskus’ Kanada-Reise ist ein römisches Dokument aufgetaucht, das den Synodalen Weg in Deutschland kritisiert. Dabei ist der Synodale Weg eine Antwort auf die verheerende Missbrauchskrise. Wie passt das zusammen?

Sayer: Ihre Frage verstehe ich völlig. Mir geht es da ähnlich wie Ihnen. Irgendwie hinterhältig – man könnte ja fast unterstellen, als wollte da von gewissen Leuten verhindert werden, dass der Synodale Weg in Deutschland sich auf Aussagen von Franziskus in Kanada berufen könnte. Abgesehen von einer solchen Vermutung wegen des zeitlichen Zusammenhangs habe ich eine grundlegende Kritik an diesem «Dokument», das in den Medien oft als «von Rom», «vom Vatikan» bezeichnet wird.

«Das Papier sollte direkt im Papierkorb landen.»

Was kritisieren Sie?

Sayer: Das Papier entspricht in keinster Weise dem Geist und Text der neuen Konstitution, die der Papst an Pfingsten in Kraft gesetzt hat – weder was die Präambel, noch die Prinzipien, noch verschiedene Artikel der generellen Normen betrifft. Wenn nicht einmal ein betreffendes Dikasterium als Absender genannt wird oder eine Unterschrift unter ein solches Dokument erfolgt, sowie kein Anlass genannt und keine Einladung zum Dialog ausgesprochen wird, dann müsste es meines Erachtens das Schicksal aller anonymen Schreiben gehen: nämlich direkt im Papierkorb landen. Das mag etwas scharf ausgedrückt sein, aber wer die neue Konstitution gelesen hat und sich nach deren Geist richten will – und das müsste die Kurie ja wohl tun –, kann mit der Verfahrensweise eines solchen Dokuments nicht einverstanden sein.

Brainstorming zur Synodalität beim RKZ-Fokus in Bern im September 2021.
Brainstorming zur Synodalität beim RKZ-Fokus in Bern im September 2021.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der Kanada-Reise und dem Synodalen Weg?

Sayer: Wie die Kirche in Kanada mit Unterstützung von Papst Franziskus ihren Weg der Aufarbeitung ihrer Geschichte gehen muss und soll, um der Verkündigung des Evangeliums gerecht zu werden, so muss es auf ihre Weise auch die Kirche in Deutschland tun. Vor allem aufgrund des riesigen Vertrauensverlusts von Bischöfen und Amtsträgern in der Gesellschaft oder der enormen Austrittszahlen ist von ihr dies zu erwarten analog der kanadischen Kirche. Meines Erachtens hat die Kirche in Deutschland mit dem Synodalen Weg sich an ein Instrument herangetastet, und zwar von Seiten der Bischöfe und der Laien, das es geeignet erscheinen lässt, das grundlegend erschütternde Vertrauen Schritt für Schritt wieder herstellen zu können. 

«Der Synodale Weg ist das, was wir in der Apostelgeschichte vorfinden.»

Trotzdem gibt es Kritik am Synodalen Weg. Gibt es Alternativen?

Sayer: Es werden gezielt Gerüchte gestreut, zum Teil von ausländischen Kreisen, die den Synodalen Weg kaum kennen dürften. Sie sprechen von einer drohenden Spaltung der Kirche und gar einer eigenen deutschen Kirche. Diese Kampagnen erscheinen höchst interessengeleitet, um nicht zu sagen bösartig. Denn was die Bischöfe und die Vertreter der Laien versuchen, ist nichts anderes, als das, was wir in der Apostelgeschichte vorfinden: auf entstehende Probleme hat sich die Gemeinde zusammengefunden, aufeinander gehört, beraten und bewegt durch den Heiligen Geist nach Antworten gesucht.

"Wenn ich gross bin, werde ich Päpstin". Drei Frauen demonstrieren in Frankfurt, am 4. September 2020
"Wenn ich gross bin, werde ich Päpstin". Drei Frauen demonstrieren in Frankfurt, am 4. September 2020

Und jetzt?

Sayer: Genau dieses Aufeinander-Hören im Volk Gottes und als Volk Gottes erfolgt in dem Prozess des Synodalen Weges. Dieser lässt sich zudem sehr gut mit dem allgemeinen synodalen Prozess verbinden. Wenn argumentiert wird, hier kämen nur irgendwelche Intellektuelle zusammen, so verkennt dies ganz eindeutig, dass zum Beispiel dabei die Vertreterinnen der gut organisierten Frauengemeinschaften die Stimmen ihrer Mitglieder einbringen – eine Gemeinschaft mit über 400’000 Mitgliedern. Oder etwa die Vertreterinnen und Vertreter der Jugendverbände mit zig Tausenden von Mitgliedern. Ähnliches gilt auch für die Schweiz mit ihren herausragenden Organisationen. Über diesen Reichtum der Kirche kann man sich freuen und dankbar sein. 

Josef Sayer in Zentralamerika
Josef Sayer in Zentralamerika

Sie halten also am Synodalen Weg fest?

Sayer: Unbedingt! Er ist kreativ und gehaltvoll – hier kann sich die Vielfalt der Weltkirche ausdrücken. In ihm eröffnet sich ein Raum, um sich den jeweiligen Herausforderungen von den jeweiligen kulturellen und sozialen Bedingungen her angemessen zu stellen.

* Josef Sayer (80) war Entwicklungshelfer in Peru. 1988 folgte ein Ruf auf die Professur für Pastoraltheologie in Freiburg i.Ü. 1997 wurde er Hauptgeschäftsführer von Misereor, der deutschen Fastenaktion.


Papst Franziskus begrüsst einen indigenen Vertreter in Kanada, im Jahr 2021. | © KNA
25. Juli 2022 | 07:56
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