Kajo Gäs, Priester des Bistum Basel und Vater
Story der Woche

Kajo Gäs: Priester, Vater, Grenzgänger

Kajo Gäs (80) war Priester des Erzbistums Köln. Weil er seiner Tochter Vater sein wollte, wechselte er ins Bistum Basel. Priestersein und Vatersein? Kein Problem, findet Kajo Gäs: «Ich wollte im Geist Jesu dienen, für die Menschen und für meine Tochter da sein.»

Eva Meienberg

Wann haben Sie sich zum ersten Mal nicht an das Zölibats-Versprechen gehalten?

Kajo Gäs*: Bei meiner zweiten Arbeitsstelle in Köln-Chorweiler habe ich in einem Team von einem Pfarrer, zwei Kaplänen, einem Diakon und einer Sozialarbeiterin zusammengearbeitet. Sie wurde meine erste Partnerin und die Mutter meiner Tochter.

Katharina Arzt, die Tochter von Kajo Gäs, in "Anders aufgewachsen – 11 Kindheiten im Porträt"
Katharina Arzt, die Tochter von Kajo Gäs, in "Anders aufgewachsen – 11 Kindheiten im Porträt"

Ihre Tochter hat kürzlich ihre Geschichte öffentlich gemacht. Darin sagt sie: «Mein Vater sieht den Katholizismus sowieso kritisch. Das war schon immer so.» Stimmt das?

Gäs: Nach dem Abitur fing an der Uni Bonn mein kritisches Denken an. Das war übrigens bei Joseph Ratzinger. Der war damals der jüngste Professor und zu dieser Zeit noch fortschrittlich. Später studierte ich in München bei Karl Rahner. Ich hatte viele Fragen, saugte das Wissen auf und wollte eine universitäre Laufbahn einschlagen. Ich wollte damals nicht Priester werden.

Haben Sie Erinnerungen an den Glarner Moraltheologen Franz Böckle, der damals ebenfalls in Bonn lehrte?

Gäs: Professor Franz Böckle war einer meiner besten Lehrer in Bonn. Ich habe ihn sehr geschätzt und viel gelernt bei ihm. Als Fachperson, als Professor, als Priester und Mensch war er vorbildlich und beeindruckend.

(v.li) Robert Scherer, Karl Rahner, Iring Fetscher, Franz-Xaver Kaufmann und Franz Böckle.
(v.li) Robert Scherer, Karl Rahner, Iring Fetscher, Franz-Xaver Kaufmann und Franz Böckle.

War sein Vorbild mit ein Grund, warum sie dennoch Priester geworden sind?

Gäs: Ich habe einige Priester gekannt, die mir gefielen. Sie waren mit den Menschen in der Gemeinde verbunden. Ihre Predigten kamen an. Die Menschen waren begeistert. Das hat mir gefallen. Es schien mir, als Priester könne man vieles machen: Lehrer sein, Erzieher, Menschen begleiten und ihnen helfen. Der Priester habe nicht nur ein Herz, sondern auch etwas zu sagen, dachte ich mir. Diesen ganzheitlichen Beruf wollte ich ausüben.

Dazu mussten Sie aber versprechen, zölibatär zu leben.

Gäs: Ja, das musste ich, obwohl ich das nicht wollte. Ich habe mit meinem Vorgesetzen diskutiert. Ich hatte «gehorsamst» zu unterschreiben. Ich habe meinem Vorgesetzen erklärt: gehorsam kann man nicht steigern. Doch ich wurde gezwungen, das Versprechen zu unterschreiben, um meiner Berufung zu folgen, Priester zu werden.

«Das Heil der Seele muss immer das oberste Gesetz in der Kirche sein.»

Woran wollten Sie sich denn halten, wenn nicht an die vorgeschriebenen Versprechen?

Gäs: Ich habe immer versucht, meinem Gewissen und dem Gemeinwohl zu genügen. Das hat mich zu einem Grenzgänger werden lassen. Aus diesem Grund haben mich am Kirchenrecht mit seinen vielen Gesetzen die Lücken am meisten interessiert. «Salus animarum suprema lex» ist mein liebster Satz im Kirchenrecht. Er bedeutet, dass das Heil der Seele immer das oberste Gesetz in der Kirche sein muss. Mit diesem Gesetz kann ich mein Handeln begründen.

Haben Sie auch andere Grenzen überschritten?

Gäs: Ich war dabei, als 2006 die erste Frau auf dem Bodensee zur katholischen Priesterin geweiht wurde. Auch ich habe ihr damals aus tiefster Überzeugung meinen Segen gegeben. Ich habe gleichgeschlechtliche Paare gesegnet und mich dafür eingesetzt, dass eine Frau die Gemeindeleitung übernehmen kann.

«Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat.»

Hatten Sie kein schlechtes Gewissen, gegen das Kirchenrecht verstossen zu haben?

Gäs: Nein, das hatte ich nicht. Für mich stehen die Menschen im Mittelpunkt. Es geht nicht um ein Gesetz. Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat. «Als einer, der dient, bin ich bei euch», hat Jesus gesagt. Wir sollten das auch so machen.

Haben Sie sich innerlich zerrissen gefühlt?

Gäs: Nein, weil ich mich selbst immer gefragt habe, ob mein Handeln im Sinne von Jesus ist.

War dem Erzbistum Köln bekannt, dass Sie mit einer Frau zusammen waren?

Gäs: Nein. Irgendwann hat es meine Partnerin dem Pfarrer erzählt, ohne dass ich es gewusst habe. Aber der Pfarrer hat uns in Ruhe gelassen.

Wie haben Sie zusammengelebt?

Gäs: Nach der Geburt unserer Tochter haben wir gemeinsam in einer kleinen Wohngemeinschaft gelebt.

«Ich war in China, als meine Partnerin starb. Das war die grösste Katastrophe meines Lebens.»

Wie war das für Ihre Partnerin? Hatte sie nie den Wunsch zu heiraten und ein konventionelles Familienleben zu führen?

Gäs: Heiraten wollten wir nicht. Aber als meine Tochter auf der Welt war, überlegten wir uns, wie sie ein gutes Verhältnis zu mir haben konnte. Damals haben wir beschlossen, dass ich mir eine andere Arbeit suche. Ich wollte in den Journalismus einsteigen. Ich interessierte mich sehr für China und war mehrmals dort. Um meine Berufschancen zu steigern, beschloss ich chinesisch zu lernen. Dazu machte ich ein Sabbat-Jahr. Ich packte meine Sachen und flog ins Land. Doch dann wurde meine Partnerin ganz plötzlich krank. Ich war in China, als sie starb. Das war die grösste Katastrophe meines Lebens.

Wer hat sich dann um Ihre Tochter gekümmert?

Gäs: Meine Partnerin hatte eine beste Freundin. Mit ihr hatte sie die Abmachung, dass sie sich gegenseitig um die Kinder kümmern würden, wenn einer von ihnen etwas zustossen sollte. Diese Abmachung entstand, nachdem der Mann der Freundin bei einem Verkehrsunfall auf der Stelle starb. Ihr gemeinsames Kind war damals drei Wochen alt.

Warum haben Sie Ihre Tochter nicht zu sich genommen?

Gäs: Ich wollte den Willen meiner Partnerin erfüllen. Meine Tochter sollte in einer familiären Gemeinschaft aufwachsen. Dort lebte sie mit ihrem Stiefbruder, mit dem sie sich heute noch sehr gut versteht, und vielen anderen Kindern. Sie wohnten damals in einer Kommune im Jura. Da war ich oft, manchmal monatelang. Meine Tochter hat mich regelmässig gesehen. Darum bin ich auch von Deutschland in die Schweiz gezogen.

Hat Ihnen Ihre Tochter Vorwürfe gemacht?

Gäs: Während Ihrer Pubertät hat sie mich manchmal spüren lassen, dass sie mit mir nicht zufrieden ist. In dieser Phase ist uns beiden der Abschied immer wieder schwer gefallen.

Kardinal Joseph Ratzinger (l.), Erzbischof von München und Freising, und Kardinal Joseph Höffner (r.), Erzbischof von Köln, 1980.
Kardinal Joseph Ratzinger (l.), Erzbischof von München und Freising, und Kardinal Joseph Höffner (r.), Erzbischof von Köln, 1980.

Haben Sie bei Ihrem Stellenwechsel in die Schweiz erzählt, dass Sie wegen Ihrer Tochter ins Bistum Basel wollen?

Gäs: Nach dem Tod meiner Partnerin ging ich zu meinem Bischof, Kardinal Joseph Höffner. Ich habe ihm gesagt, dass ich in einer traurigen Angelegenheit käme. Ich hatte einen Packen Fotos meiner Tochter in der Tasche. Die hätte ich ihm vor die Füsse geworfen, hätte er sich abschätzig geäussert und mich sanktioniert.

«Tun Sie, was Sie möchten. Sie können gehen und jederzeit zurückkommen.»

Kardinal Joseph Höffner

Wie war das Gespräch?

Gäs: Ich habe ihm alles erzählt und er hat schweigend zugehört. Höffner hat mich gut gekannt. Als Studentenpfarrer während der RAF-Zeit war ich öfters bei ihm. Ich habe ihm gesagt, dass ich in der Nähe meiner Tochter sein will. Der Generalvikar wollte, dass ich meine Tochter zur Adoption freigebe. Das kam für mich überhaupt nicht in Frage. Kardinal Höffner hat das nicht verlangt. Er sagte: «Tun Sie, was Sie möchten. Sie können gehen und jederzeit zurückkommen.»

Wie lief das Anstellungsgespräch im Bistum Basel?

Gäs: Die Pflegemutter meiner Tochter hat sich persönlich im Ordinariat um eine Stelle für mich eingesetzt. Daraufhin wurde ich vom Personalchef, Hermann Schüepp, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Ich habe ihm meine ganze Geschichte erzählt. Ich war erstaunt, wie unkonventionell und offen der Bischofsvikar war.

Hat Ihnen die Doppelmoral nicht auch zu denken gegeben?

Gäs: Nein, sie hat mich darin bestärkt, meinen Weg weiterzugehen. Man kann diese Situation als Heuchelei oder als Pharisäertum abtun. Für mein persönliches Leben sehe ich das nicht so. Ich wollte im Geist Jesu dienen und für die Menschen und für meine Tochter da sein.

Kleber der Schifferseelsorge auf dem Auto
Kleber der Schifferseelsorge auf dem Auto

Haben Sie nicht den Respekt verloren vor Ihren Vorgesetzten?

Gäs: Im Bistum Basel habe ich eine fortschrittliche und menschenfreundliche Kirche erlebt. Ich habe damals als Pfarrer auf das Amt des Gemeindeleiters verzichtet. Und ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Pastoralassistentin die Gemeindeleitung übernehmen konnte. Das war im Bistum Basel möglich. Ich konnte dort leben und arbeiten.

Gibt es auch andere Priester im Bistum Basel, die Kinder haben?

Gäs: Ich weiss, dass es diese Priester gibt – aber ich kenne selbst kaum jemanden. Das ist erstaunlich. Es wird gesagt, dass sich gegen 50 Prozent der Priester nicht an den Zölibat halten. Wir haben in der Priestergewerkschaft AGP in Deutschland schon in den 1970er-Jahren Umfragen gemacht. Rund 20’000 Briefe haben wir verschickt, in denen wir bei Katholikinnen und Katholiken unter anderem die Meinung zum Zölibat abgeholt haben. Die Mehrheit war dagegen. Die Ergebnisse haben wir den Bischöfen präsentiert. Die sind sofort in den Panzerschränken verschwunden.

«Für mich war klar: Das Kirchenrecht kann man jederzeit ändern.»

Warum haben Sie Ihre Beziehung nicht öffentlich gemacht und sind politisch gegen den Zölibat vorgegangen?

Gäs: Weil ich dann als Priester abgesetzt worden wäre. Das haben Kollegen von mir gemacht. Ich habe selbst einige von Ihnen in der Sakristei getraut. Für mich war klar: Das Kirchenrecht kann man jederzeit ändern. Ich wollte Priester bleiben. In früheren Zeiten wäre ich verbrannt worden. Meine Partnerin wäre als Hexe auf dem Scheiterhaufen gelandet.

Was muss sich ändern?

Gäs: Die Kirche muss glaubwürdig werden. Sie muss sich an der Botschaft und am Leben Jesu und an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Dafür braucht es Offenheit und Transparenz. Ich wurde immer wieder von meinen Vorgesetzten angewiesen, über dieses und jenes zu schweigen. Ich habe mich oft geweigert und dennoch gesprochen. Das habe ich gemacht, weil es mir nicht in erster Linie um die Kirche als System und Institution geht, sondern darum, dass die Sache Jesu weiterlebt.

Aber über Ihre Tochter haben Sie bis jetzt nicht öffentlich gesprochen.

Gäs: Ich wollte in jedem Fall meine Tochter vor der Öffentlichkeit schützen. Zudem wollte ich nicht meine persönliche Geschichte in den Mittelpunkt stellen. Wenn mich jemand zur Sache befragt hätte, hätte ich gerne Auskunft gegeben.

Bereuen Sie etwas in Ihrem Leben?

Gäs: Ich bereue nichts. Ich würde es wieder so machen, wäre vermutlich noch radikaler. Ich würde noch mehr vom Leder ziehen.

Kajo Gäs hat seine Stola abgelegt
Kajo Gäs hat seine Stola abgelegt

Warum haben Sie an Ihrem Abschiedsgottesdienst die Priesterstola vor der Osterkerze abgelegt?

Gäs: Die brennende Osterkerze ist das Symbol für den auferstandenen Christus. Sie verpflichtet uns, lebendige Kirche zu sein. Als Begründung habe ich damals im Gottesdienst Folgendes gesagt: «In unserer Kirche haben seit 40 Jahren 100’000 Priester die Kirche verlassen, verlassen müssen wegen der Kirchengesetzte. Aus Solidarität mit diesen Menschen, die nicht mehr Priester sein dürfen und aus Solidarität mit denen die noch nicht Priester sein dürfen, weil sie verheiratet sind, weil sie Frauen sind, aus Solidarität und Protest möchte ich an dieser Stelle meine Stola ablegen. Sie ist auch ein Zeichen des Amtes, das manchmal zu sehr im Vordergrund steht. Ich lege meine Stola zur Osterkerze und hoffe, dass ein neuer Aufbruch entsteht. Darauf hoffe ich, daran glaube ich und deshalb kann ich leben.» Die Gemeinde stand auf und verabschiedete mich mit einem minutenlangen Applaus.

«Meine Familie gibt mir Halt. Ich fühle mich geborgen und nicht alleine.»

Vor drei Jahren sind Sie Grossvater geworden.

Gäs: Die Geburt meines Enkels war für mich ein grosses Ereignis und hat meine Lebensfreude vergrössert. Ich war kürzlich mit meiner Familie in den Ferien. Das gibt mir Halt. Ich fühle mich geborgen und nicht alleine.

* Kajo Gäs (80) ist in Düsseldorf (D) geboren. 1968 wurde er im Kölner Dom von Kardinal Josef Frings zum Priester geweiht. Während 17 Jahren war er für das Erzbistum Köln als Priester tätig und wechselte dann in die Schweiz. Am 24. Februar 1992 wurde er in das Bistum Basel inkardiniert. Kajo Gäs war auch Schifferpfarrer in Basel. Er feierte am 25. September 2005 seinen letzten Gottesdienst in Allschwil (BL), wo er während 15 Jahren in der Pfarrei tätig war.


Kajo Gäs, Priester des Bistum Basel und Vater | © Eva Meienberg
23. September 2022 | 05:00
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