Junge Muslime setzen kaum auf Internetprediger

Luzern, 17.1.17 (kath.ch) Junge Muslime suchen gezielt und kritisch ihren eigenen Weg im Umgang mit ihrer Religion. Das zeigt die aktuelle Studie «Imame, Rapper, Cybermuftis» auf, an der auch die Religionswissenschafterin Silvia Martens mitgewirkt hat. Die Studie entstand unter der Leitung von Martin Baumann, Professor für Religionswissenschaft an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern.

Regula Pfeifer

An der Studie am meisten überrascht hat Silvia Martens die Feststellung, wie wenig wichtig Internetprediger für die muslimischen Jugendlichen in der Schweiz sind. «Viel wichtiger sind Personen aus dem Nahbereich, also Eltern, Freunde oder Bekannte, die sich im Islam auskennen.» An sie wendeten sich Jugendliche bei Fragen in erster Linie. Die am Forschungsprojekt beteiligte Martens bezeichnet diese Erkenntnis beruhigend, gerade in Bezug auf den Einfluss radikaler Prediger. Nicht alle Internetprediger seien aber als problematisch einzuschätzen, relativiert sie.

Nicht nur ein Ratgeber

Noch beruhigender ist für Martens aber eine weitere Erkenntnis: Die Jugendlichen ziehen bei offenen Fragen nicht nur eine Person zu Rate. Vielmehr konsultieren sie verschiedene Informationsquellen, vergleichen sie und entscheiden dann, was für sie gut ist. Das verringere den Einfluss einer einzigen Person auf die Jugendlichen, betont die Wissenschafterin.

Radikale Positionen sind in der Studie vereinzelt aufgetaucht. «Doch das ist eine Randerscheinung,» so Martens. Oft handle es sich um eine alterstypische Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft, wenn einzelne Muslime radikale Prediger attraktiv fänden. Vielleicht wolle der oder die Jugendliche damit provozieren, so Martens. Doch das könne sich schnell ändern.

Zur religiösen Auseinandersetzung gedrängt

Muslimische Jugendliche sehen sich laut der Studie stärker als ihre nicht-muslimischen Kollegen zur Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Identität gedrängt. Dies insbesondere, weil sie ihre Position in einem nicht-muslimischen und islamkritischen Umfeld aktiv rechtfertigen müssen.

Dementsprechend misst die Mehrheit der befragten Jugendlichen der Religion eine hohe Bedeutung zu. Die Auseinandersetzung mit der Religion sei aber nicht kontinuierlich. Phasen der Hinwendung wechselten sich mit Phasen geringen Interesses ab. Die Auseinandersetzung beginne bei den einen bereits in ihrer Kindheit – im Rahmen von Familie und religiöser Gemeinschaft -, bei anderen erst in der Jugend.

Eine bewusste Distanzierung wird gemäss Studie häufig durch islamkritische Haltungen im Freundeskreis oder den negativen Islam-Diskurs in den Medien angestossen. Auch Einschränkungen im Vergleich zu nicht-muslimischen Peers (Gleichaltrigen) – etwa beim Alkoholkonsum oder ausserehelichen Sexualbeziehungen – führen teilweise zur Distanzierung.

Grundwerte oder Regelwerk

Die Jugendlichen integrieren den Islam auf unterschiedliche Weise in ihr Leben, wie die Untersuchung zeigt. Für die einen ist der Islam eine Richtschnur für ein moralisches Leben mit Grundwerten, an denen sie sich orientieren. Für andere ist der Islam ein Regelwerk, das genaue Handlungsanweisungen vorgibt. Die unterschiedliche Herangehensweise hat aber laut Einschätzung von Martens nichts mit der Fähigkeit zur Integration in die Gesellschaft zu tun.

Die meisten Muslime sind bereit, Kompromisse einzugehen.

Die Orientierung an Grundwerten erscheine zwar zeitgemässer in unserer liberalen Gesellschaft, so die Religionswissenschaftlerin. Aber auch das Einhalten islamischer Regeln sei in unserer Gesellschaft durchaus möglich. Die meisten Muslime seien bereit, diesbezüglich Kompromisse einzugehen. So würden sie etwa Gebetszeiten verschieben oder zusammenlegen, wenn der Arbeitgeber dies während der Arbeitszeit nicht erlaube.

Die Hinwendung zur Religion hat Folgen für jungen Muslime. Insbesondere in der Schule, am Arbeitsplatz und im Freundeskreis müssen sie mit negativen Reaktionen rechnen. Die Familie reagiere hingegen meist positiv auf die Veränderung.

Pragmatisch bei religiösen Praktiken

«Die muslimischen Jugendlichen sind im Allgemeinen pragmatisch bei der Umsetzung ihrer religiösen Praktiken», sagt Martens. Sie empfänden das Leben als Muslime in der Schweiz gelegentlich als Herausforderung, suchten aber nach Lösungen – und fänden diese meist auch. «Ihre Zukunft sehen sie in der Schweiz», so Martens. Denn sie schätzten das Land aus vielen Gründen, auch wegen der persönlichen Freiheiten und der beruflichen Möglichkeiten.

Für die Studie wurden 61 muslimische Frauen und Männer zwischen 15 und 30 Jahren befragt, deren religiöses Profil von nicht praktizierend bis hin zu umfassend praktizierend reicht. Neben Silvia Martens und Martin Baumann beteiligten sich auch Jürgen Endres und Andreas Tunger-Zanetti am Forschungsprojekt. Dieses wurde von der Stiftung Mercator Schweiz mit 412’000 Franken unterstützt. Die Erkenntnisse aus der Studie bieten die Forscher in Form von Weiterbildungen für Fachleute an.

Bericht «Hallo, es geht um meine Religion!»

18. Januar 2017 | 06:59
Lesezeit: ca. 3 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!