Podiumsgespräch mit Professor Erik Petry (l.), Politikwissenschafterin Dina Wyler und der Maturandin Adina Feigel.
Schweiz

Jüdische Vision: Künftige Holocaust-Erinnerungskultur soll vielfältig sein

Bald werden keine Holocaust-Zeitzeugen mehr leben und von ihren schrecklichen Erlebnissen berichten können. Wie geht es danach weiter mit dieser Erinnerungskultur? Darüber sprachen am Sonntag Urenkel von Überlebenden, Wissenschaftler und Journalistinnen am Tag der Jüdischen Kultur in Basel.   

Boris Burkhardt

Die Podiumsdiskussion über Familienforschung in der dritten und vierten Generation von Holocaust-Betroffenen stiess am Sonntag auf grosses Interesse. Sie fand im Jüdischen Museum der Schweiz in Basel statt – anlässlich des Tags der Jüdischen Kultur.

Auf der Spur der eigenen Urgrosseltern

Zwei Maturanden hatten das Leben ihrer Urgrosseltern erforscht: Louis Epelbaum (19) vom Berner Gymnasium Neufeld spürte in vielen Dokumenten und Unterlagen dem 20 Jahre dauernden Einbürgerungsprozess seines Urgrossvaters nach, der aus Polen in die Schweiz gekommen war.

Gesprächsrunde über Erinnerung in der dritten und vierten Generation (v.l.): Dina Wyler, Adina Feigel, Louis Epelbaum und Barbara Häne.
Gesprächsrunde über Erinnerung in der dritten und vierten Generation (v.l.): Dina Wyler, Adina Feigel, Louis Epelbaum und Barbara Häne.

Adina Feigel (20) vom Basler Gymnasium am Münsterplatz hatte für ihre Arbeit über die Kriegspropaganda des Dritten Reichs das Privileg, noch persönlich mit ihrer Urgrossmutter zu sprechen, die 1926 in Berlin geboren wurde und 1943 in die Schweiz flüchtete.

Eigene Identität finden

Für beide junge Menschen war es eine eindrückliche Erfahrung, sich derart intensiv mit ihrer Familiengeschichte zu befassen. «Ich war überrascht, wieviel Neues ich von meiner Urgrossmutter erfahren konnte», sagte Feigel auf die Frage des Moderators Erik Petry, Professor für Jüdische Studien an der Universität Basel. Und Epelbaum meinte, er habe durch die Forschungen einen «grossen Teil seiner eigenen Identität» gefunden. Er bedauere es sehr, seinen Urgrossvater nicht persönlich kennengelernt zu haben.

Dina Wyler analysiert die Situation - daneben Maturandin Adina Feigel.
Dina Wyler analysiert die Situation - daneben Maturandin Adina Feigel.

Dina Wyler (30) wies darauf hin, dass die Generation, die nun keine Zeitzeugen des Holocausts mehr haben werde, «neue Formen finden müsse, um Geschichten zu erzählen». Die Politik- und Religionswissenschaftlerin ist Stiftungsrätin in der Paul-Grüninger-Stiftung für eine zeitgemässe und zukunftsorientierte Schweizer Erinnerungskultur.

Forschung, Zeugnis, Kunst

Sie habe «enormen Respekt» vor den Originalaussagen der Zeitzeugen. Aber die heutige Generation schüttle die Schockstarre ab, die das Thema Holocaust in den ersten Nachfolgegenerationen in vielen Familien noch zum Tabu erklärt habe. Der zukünftige Weg müsse deshalb bestehen aus einem «Zusammenspiel von historischer Forschung, persönlicher Stimme und Kunst».

Unsagbare Emotionen ausdrücken

Wyler nannte das die «Pluralisierung der Erinnerung». Kunst sei ein «toller Weg, seine Emotionen zu kanalisieren» und könne ausdrücken, «was unsagbar ist». In der aktuellen Diskussion um die «Selbstermächtigung», um das Bemühen, sich gerade im Thema Holocaust seine Geschichte wieder zurückzuholen, zu eigen zu machen, sei Kunst gleichzeitig ein Weg, «sich selbst nicht aufzugeben» in der Erinnerungskultur und dem notwendigen Mahnen.    

Maturand Louis Epelbaum und Barbara Häne vom jüdischen Museum Basel.
Maturand Louis Epelbaum und Barbara Häne vom jüdischen Museum Basel.

Barbara Häne (41) Mitarbeiterin im Jüdischen Museum mit Promotion am Zentrum für Jüdische Studien an der Universität Basel, berichtete von ihrer Dissertation über das Engagement von Otto H. Heim in der Jüdischen Flüchtlingshilfe von 1936 bis 1978. Obwohl sie im Gegensatz zu Epelbaum und Feigel nicht über ihre eigene Familiengeschichte geschrieben habe, sei es «unmöglich, keine emotionale Verbindung zu entwickeln».

Urenkel haben grössere Distanz

Generell gelte für Familiengeschichten, dass die Kinder oft noch «zu nahe dran» seien, sei ihre Erfahrung. Bei den Enkeln und Urenkel sei der Abstand jedoch oft gross genug, um die Scheu vor dem Thema zu verlieren.

Auf Einladung der Liberalen Jüdischen Gemeinde Basel «Migwan» und der Basler Jüdisch-Christlichen Akademie las die Ethnologin, Germanistin und Journalistin Simone Müller aus ihrem 2022 erschienen Buch «Bevor die Erinnerung Geschichte wird». Darin porträtierte sie 15 in der Schweiz lebende Personen, die von den Nazis verfolgt worden waren.

Autorin Simone Müller liest aus Porträt-Buch

Auch Müller stand vor der Frage, wie mit den Erinnerungen umgehen in einer Zeit, in der es sehr bald keine Zeitzeugen mehr geben wird. 14 der Porträtierten, die in der ganzen Schweiz verteilt wohnen, sind jüdischer Abstammung; eine Person ist Zeuge Jehovas. Sie hätte gerne eine grössere Bandbreite gehabt, sagt Müller im Gespräch mit kath.ch: «Ich habe auch nach Roma und politischen Gefangenen gesucht; aber ich habe keine mehr gefunden.»

Simone Müller schrieb Portraits von 15 Menschen in der Schweiz, die den Holocaust miterlebten.
Simone Müller schrieb Portraits von 15 Menschen in der Schweiz, die den Holocaust miterlebten.

Auch seien unter den Porträtierten keine Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs. Die meisten seien aus osteuropäischen Ländern direkt nach dem Krieg oder nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in die Schweiz gekommen, einige der Arbeit oder der Liebe wegen. 

Erzählende haben unterschiedliche Strategiern

Müller interessierte in ihren Gesprächen mit diesen Menschen vor allem, wie sie im hohen Alter mit ihren Kindheitserinnerungen und -erfahrungen umgehen. «Zahlen etwa von Toten bei Massakern wie 1941 in Babi Jar in der Ukraine sind wichtig», sagt Müller: «aber sie bleiben distanziert. Am nächsten geht immer eine persönliche Geschichte.»

Simone Müller schrieb Portraits von 15 Menschen in der Schweiz, die den Holocaust miterlebten.
Simone Müller schrieb Portraits von 15 Menschen in der Schweiz, die den Holocaust miterlebten.

Sie habe dabei erlebt, dass jede Geschichte «total anders» gewesen sei; jeder Portraitierte habe eine andere Strategie gewählt. Eine Frau habe fünfzehn Jahre lang geschwiegen: «Ihre Kinder wussten nicht einmal, dass die Familie jüdisch war.» Andere hätten nicht aufhören können, von ihren Erlebnissen zu erzählen, dass es den Angehörigen fast zum Überdruss geworden sei.

Wenn Emotionen fehlen

Am schwierigsten sei für sie persönlich der Umgang gewesen mit den Porträtierten, die sehr emotionslos (Müller nennt es «abgespalten») über ihre schrecklichen Erlebnisse gesprochen hätten. Andere hätten sie wiederum beeindruckt durch ihre Stärke: «Sie haben aus Trümmern etwas aus ihrem Leben gemacht.» Und noch etwas hat Müller bemerkt: «Vielen sind die Erinnerungen heute präsenter als vor 30, 40 Jahren», sagt Müller: «Sie träumen wieder mehr von ihren Erlebnissen.» 

Tag der Jüdischen Kultur in der Schweiz

Als zentrale Stelle für jüdische Geschichte im Land koordiniert das Jüdische Museum der Schweiz in Basel jedes Jahr die Veranstaltungen des europäischen Tags der Jüdischen Kultur am ersten Septembersonntag. Jüdische Gemeinden und Einrichtungen in Bern, Delémont, Endingen-Lengnau, Genève, Lausanne, La Chaux-de-Fons, Zürich und im elsässischen Hegenheim widmeten sich dieses Jahr dem Thema «Erinnerung», das europaweit ausgewählt wurde. (bob)


Podiumsgespräch mit Professor Erik Petry (l.), Politikwissenschafterin Dina Wyler und der Maturandin Adina Feigel. | © Boris Burkhardt
4. September 2023 | 15:30
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