Johanna Beck
Schweiz

Johanna Beck: «Die Botschaft an die Kirche lautet: Jetzt lernt draus!»

«Die Welt draussen ist vom Satan durchdrungen», lernte Johanna Beck als Pfadfinderin. Gestern erhielt sie den Herbert-Haag-Preis, heute hat sie ihren 39. Geburtstag. Was sie antreibt? «Ich möchte die gravierenden Folgen von sexualisiertem und geistlichem Missbrauch aufzeigen.»

Raphael Rauch

Wie war Ihre Kindheit?

Johanna Beck*: Ich wurde in eine ultrakonservative Pfadfinder-Gruppe hineingeboren. Meine Mutter war mit mir schwanger, als sie bei der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE) eine höhere Position hatte. Das heisst: Die KPE hat in meiner Familie eine wichtige Rolle gespielt mit allem, was dazugehört. Heute ist mir klar: Das ist eine fundamentalistische, toxische Gruppierung. Das Zeit-Verbringen draussen in der Natur wird als Köder benutzt, um möglichst viele junge Menschen an sich zu binden und ideologisch zu formen.

«Die Katholische Pfadfinderschaft Europas lebt von einem klaren Freund-Feind-Schema.»

Was ist das für eine Ideologie?

Beck: Mit normalen Pfadfindern hat die KPE nichts zu tun. Die KPE ist eine Gegenbewegung zum Zweiten Vatikanischen Konzil und wehrt sich zum Beispiel gegen gemischte Pfadfindergruppen. Die KPE lebt von einem klaren Freund-Feind-Schema, wie bei den meisten problematischen geistlichen Gemeinschaften: Die Welt draussen ist vom Satan durchdrungen, wir müssen uns abgrenzen. Es herrscht eine toxische Theologie mit einem strafenden Gott. Und das Pfadfinder-Leben wird mit einem militärisch-religiösen Drill vermischt.

Johanna Beck
Johanna Beck

Sie haben sich als Opfer von spirituellem und sexuellem Missbrauch geoutet. Was ist Ihnen passiert?

Beck: Es kam zu sexuellen, spirituellen und verbalen Übergriffen. Bei einer Beichte im Zeltlager im Wald hat mich ein Ordensmann offensiv ausgefragt: Er wollte während einer endlos langen Beichte alles über Vergehen gegen die Keuschheit wissen. Er hat dabei Wörter verwendet, die ich als braves katholisches Mädchen noch nie gehört hatte – und dabei laut geatmet. Damals war ich elf Jahre alt. Ein anderes Mal sass ich bei einer Beichte mit geschlossenen Vorhängen im Gruppenraum und kniete vor dem Priester. Der berührte mich mit seinen Oberschenkeln und seinen Händen – und wollte wieder nur laut schnaufend über meine Keuschheitsvergehen sprechen sowie andere ähnliche Vorfälle. Am Ende der Beichte schärfte er mir ein, meine Sinne und meinen Körper abzutöten. Abends mussten wir uns im Zeltlager im Dunkeln waschen. Der Ordensmann ist oft vorbeigeschlichen, wenn wir Mädchen uns wuschen. 

«Der Priester ist nach wie vor als Seelsorger tätig.»

Was ist mit dem Täter passiert? 

Beck: Bisher nicht viel. Strafrechtlich waren die Übergriffe knapp verjährt. Das kirchenrechtliche Verfahren läuft noch. Was mich empört: Der Priester ist nach wie vor als Seelsorger tätig. Er hat lediglich die Auflage, nicht mehr mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Ansonsten ist nicht viel passiert, obwohl es auch andere Betroffene gibt. Ich weiss, dass der Täter nach wie vor die Beichte abnimmt – und da wird natürlich nicht die Altersgrenze kontrolliert.

Heute erscheint ein Buch von Ihnen.

Beck: Ich hoffe, dass ich so auch ein Sprachrohr für andere Betroffene sein kann. Es kann helfen, wenn jemand das Wort ergreift und sagt, was passiert ist. Das kann anderen Mut machen, ebenfalls ihre Geschichte zu erzählen – und nicht länger schweigen zu müssen. Und ich möchte die gravierenden Folgen von sexualisiertem und geistlichem Missbrauch aufzeigen. Das hat auch noch Jahrzehnte später Folgen. Ich lege dar, was mir passiert ist. Die Botschaft an die Kirche lautet: Jetzt lernt draus! Macht, was ihr als Verantwortliche machen müsst! Es liegt jetzt an euch, daraus zu lernen und zu handeln! 

Doris Reisinger (zweite von rechts) erhielt nach ihrer Rede in Luzern Standing Ovations.
Doris Reisinger (zweite von rechts) erhielt nach ihrer Rede in Luzern Standing Ovations.

Doris Reisinger sagte gestern an der Preisverleihung: «Diese Krise ist bodenlos. Sie hört nicht auf. Sie ist das Ende der katholischen Kirche.» Haben Sie sich überlegt, aus der katholischen Kirche auszutreten?

Beck: Ich bin aber-katholisch: Ich frage mich jeden Tag neu, ob ich noch bleiben kann oder nicht. Momentan bin an dem Punkt: Ja, aber – deswegen aber-katholisch. Ich will alles versuchen, um in der katholischen Kirche etwas zu verändern. Aber wenn ich irgendwann merke, dass die Betonwände zu fest sind und wir alle nicht mal einen Haarriss reinbekommen, dann wird meine Antwort anders ausfallen. 

Der Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes.
Der Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes.

Was hat Sie motiviert, nach Jahren wieder in die Kirche zu gehen und sich auch im Kirchengemeinderat der Konkathedrale St. Eberhard zu engagieren?

Beck: Es war Zufall: Ich habe die Kirche St. Eberhard besucht – und bin in einem Gottesdienst gelandet, der mich angesprochen hat. Der Pfarrer Christian Hermes hat verstanden, was die Missbrauchskrise bedeutet – und mich bei meiner Aufarbeitung sehr unterstützt. Solange ich das Gefühl habe, etwas bewegen zu können, bleibe ich dabei.

Was empört Sie in der Missbrauchsdiskussion am meisten?

Beck: Es gibt zu wenig Gerechtigkeit. Wir Betroffene können nicht einfach damit abschliessen. Das Thema kommt immer wieder hoch, wir sind da machtlos. Und der Umgang der Kirche ist skandalös. Viele Betroffene setzen sich einem strapaziösen Verfahren aus – und müssen sehen: Der Täter bleibt im Amt oder wird versetzt, darf aber Priester bleiben. Da kommen schon Ohnmachtsgefühle und das Gefühl, gegen eine Wand zu sprechen. Und natürlich ist die Befürchtung dabei: Was ist, wenn jetzt weitere Opfer von Missbrauch entstehen? Was passiert, wenn der Täter weitermacht – und nichts passiert?

«Es macht mir keinen Spass, über meine Vergangenheit zu sprechen. Ich mache das, damit sich das System ändert.»

Am 9. Dezember 2021 hat die Deutsche Bischofskonferenz die Katholische Pfadfinderschaft Europas als privaten kanonischen Verein anerkannt. Wie sehen Sie das?

Beck: Für mich ist das ein Schlag ins Gesicht! Wir haben den Synodalen Weg, wir diskutieren über Missbrauch, ich sitze im Betroffenenbeirat der Bischofskonferenz – und dann erfahre ich, dass die KPE aufgewertet wird. Man fragt sich dann schon: Warum mache ich das überhaupt mit? Es macht mir keinen Spass, über meine Vergangenheit zu sprechen. Ich mache das, damit sich das System ändert und anderen das nicht mehr passiert. Aber so eine Aktion der Bischofskonferenz stellt schon Vieles wieder infrage.

Vielleicht hat sich die KPE verändert?

Beck: Offiziell hat man das so begründet: Die Satzung wurde geändert, es gibt Präventionsarbeit und so weiter. Aber nach all dem, was ich in der KPE erlebt habe, kann ich nur sagen: Da steckt der Missbrauch tief im System drin. Ich habe kein Vertrauen, dass sich die KPE ernsthaft verändert hat.

* Johanna Beck (39) ist Literaturwissenschaftlerin und lebt in Stuttgart. Als Mitglied des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz wirkt sie seit Anfang 2021 beim Synodalen Weg mit und engagiert sich öffentlich für die Aufarbeitung des sexuellen und geistlichen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Ihr Buch «Mach neu, was dich kaputt macht: Warum ich in die Kirche zurückkehre und das Schweigen breche» ist im Herder-Verlag erschienen. Am Sonntag hat sie den Herbert-Haag-Preis erhalten.


Johanna Beck | © Heinz Heiss
14. März 2022 | 11:43
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