Menschen vor der Haltestation Castel Gandolfo am 22. Juli 2023 in Castel Gandolfo (Italien).
Theologie konkret

Italien, Land der traurigen Leidenschaften

Die Säkularisierung schreitet auch in Italien voran. Doch der Befund ist nicht so eindeutig. Das Land verfügt über eine vitale katholische Kultur. Die katholische Kirche hat zwar den direkten Draht zu den Parteien verloren, dennoch bleibt sie ein gesellschaftlich bestimmender Faktor. Die Gefahr besteht, dass sie und die Werte, die sie vertritt, politisch instrumentalisiert werden.

Francesco Papagni

Vor kurzem hat das Umfrageinstitut Demos im Auftrag der Zeitung «La Repubblica»  eine neue Studie über die Leidenschaften der Italienerinnen und Italiener veröffentlicht. Die Religion sackt von 54 auf 39 Prozent ab verglichen mit der Umfrage von 2016.

Calcio, calcio: Eine konstante Liebe

Auffallend ist nicht nur das geringere Interesse bei den Jungen, sondern auch die Abnahme bei den Frauen. Zum Vergleich: 31 Prozent geben an, eine Leidenschaft für Fussball zu hegen – ein Wert der sich seit 2016 nicht signifikant verändert hat. Im Fussball verrückten Italien bleibt Religion wichtiger als Fussball.

Die Spielerinnen der Fussball-Damenmannschaft aus dem Vatikan halten die vatikanische Flagge in die Höhe.
Die Spielerinnen der Fussball-Damenmannschaft aus dem Vatikan halten die vatikanische Flagge in die Höhe.

Enzo Bianchi, Publizist, Laienmönch und Gründer der Kommunität von Bose, die bis in den Kanton Schwyz ausstrahlt, kommentiert diese Resultate unter dem Titel «La messa è finita» (Die Messe ist zu Ende).

Kirche nicht mehr «Sauerteig des Reiches Gottes»

Er zeichnet ein deprimierendes Bild des italienischen Katholizismus, der keine grossen spirituellen Figuren wie Carlo Maria Martini  mehr hervorzubringen vermag. Gläubige würden sich von der Kirche abwenden, weil sie in ihr nicht mehr den «Sauerteig des Reiches Gottes oder das Salz der Weisheit» finden würden.

Nun scheint dieser Befund aber zu pessimistisch.  Ja, stimmt, es mangelt an grossen Figuren, aber ist das ein spezifisch italienisches Phänomen?

Kathedrale von Brindisi, Italien
Kathedrale von Brindisi, Italien

Wo sind in Deutschland die Nachfolger der Lehmanns oder der Kamphaus? Religiöses Leben darf überdies nicht nur am Gottesdienstbesuch gemessen werden: Auffallend ist in Italien das breite Feld des ehrenamtlichen Engagements, das wegen der traditionellen Schwäche des Sozialstaates viele wesentliche Aufgaben übernimmt. Zwar gibt es auch säkulare Freiwilligenvereinigungen, aber die katholischen sind bedeutender.

Katholische Kultur Italiens ist bei uns kaum bekannt

Zudem existiert in unserem südlichen Nachbarland eine vitale katholische Hochkultur, die Zeitschriften, Verlage, Forschungsinstitute und Universitäten umfasst. Sie produziert ausgezeichnete Sachbücher, Filme, Belletristik. Leider kommt davon nur sehr wenig zu uns.

Gianfranco Ravasi
Gianfranco Ravasi

Diese katholische Kultur findet auch in säkularen Medien Beachtung. So schreibt der vor kurzem emeritierte «Kulturminister» des Vatikans, Gianfranco Kardinal Ravasi, regelmässig in der Wirtschaftszeitung (!) Il Sole24Ore, wo er vor allem theologische und spirituelle Literatur bespricht.

Volkskatholizismus

Und da ist natürlich der Volkskatholizismus. Wer je ein Stadtfest in Süditalien erlebt hat, weiss, welch intensives Erlebnis das ist. Ein Feuerwerk gehört dazu und ist ein Spektakel, aber eines zu Ehren des oder der Heiligen. Solches  als «Folklore-Katholizismus» abzutun, wird dem Phänomen jedenfalls nicht gerecht. Es sind gerade diese religiös-säkularen, hybriden Feste, die der Säkularisierung zu trotzen scheinen.

Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, eine Mutter, eine Christin!

Etwas anderes ist das Verhältnis Kirche-Politik. Nach dem Ende der stolzen «Democrazia Cristiana» hatte es die katholische Kirche in Italien geschafft, ihren politischen Einfluss im Wesentlichen zu behalten. Die Christdemokraten spalteten sich in mehrere Strömungen auf, die in linke wie rechte Parteien eingingen. Die Lage wurde unübersichtlicher, aber die neuen, schwächeren Parteien suchten den Support der Kirche aus Eigeninteresse.

Italiens Premierministerin Giorgia Meloni zu Besuch bei Papst Franziskus
Italiens Premierministerin Giorgia Meloni zu Besuch bei Papst Franziskus

Traditionelle Familie und christliche Werte, aber…

Mit den nationalen Wahlen von 2023, die eine rechte Koalition unter Giorgia Meloni an die Regierung brachten, veränderte sich die Situation nochmals. Meloni machte Wahlkampf mit dem Schlachtruf: «Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin eine Christin!» Ihre Partei Fratelli d›Italia tritt  für die traditionelle Familie und für christliche Werte ein, wobei sie Christentum – in Italien mit Katholizismus gleichgesetzt –  vor allem als Identitätsmarker versteht.

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Gleichzeitig distanzieren sich Meloni und die Exponenten des rechten Parteienbündnisses von der migrantenfreundlichen Haltung der Kirche. Diese Entwicklung ist  verschiedenen Ländern Europas zu beobachten: das christliche Bekenntnis dient zur Abgrenzung gegen den Islam, das Kreuz kennzeichnet nun «unser Territorium», das verteidigt werden muss. Der Papst und die Bischöfe predigen gegen diese Verzweckung des Christentums an, mit mässigem Erfolg.

Papst nicht an italienischer Politik interessiert

Was Papst Franziskus selbst angeht, so schenkt er der italienischen Innenpolitik nicht die gleiche Aufmerksamkeit, die alle seine Vorgänger an den Tag gelegt haben. Er verfolgt eine andere Agenda. Und die italienische Bischofskonferenz?

Kardinal Matteo Zuppi
Kardinal Matteo Zuppi

Sie wird nach blassen Figuren von Matteo Maria Zuppi präsidiert – just  jener Mann, den Franziskus als Gesandten im Ukrainekonflikt ausgesucht hat. Kardinal Zuppi ist im jetzigen Episkopat der Fähigste, aber die diplomatische Mission lenkt ihn von Italien ab.

Die Gefahr der Instrumentalisierung

Fazit: die katholische Kirche hat jenen direkten Draht zu den Parteien verloren, die sie noch vor wenigen Jahren besass. Ihr gesellschaftliches Gewicht bleibt aber erheblich. Das rührt nicht zuletzt davon her, dass sie überall im Land präsent ist. Namentlich in den heruntergekommenen Vorstadtquartieren stellen Pfarreien oft die einzig verbliebenen sozialen Strukturen dar. Das muss die Politik einkalkulieren.

Der italienischen Politiker und Lega-Chef Matteo Salvini
Der italienischen Politiker und Lega-Chef Matteo Salvini

Hankherum muss die Kirche verhindern, dass sie und der Katholizismus insgesamt instrumentalisiert werden. Der Auftritt Matteo Salvinis von der rechten Lega mit dem Rosenkranz in der Hand ist in Italien unvergessen. Es hat ihm jedoch eher geschadet als genützt, denn die fromme Pose haben ihm wenige abgenommen. Bei den Meisten hat er sich damit als Heuchler entlarvt.

Katholizismus allein auf weiter Flur

Italien ist heute ein Land der «traurigen Leidenschaften» (Ilvo Diamanti), weil die Zuversicht in die Zukunft abhandengekommen ist. Der Katholizismus stellt den einzigen ernstzunehmenden Gegenentwurf zu einer konsumistischen  Massenkultur dar, die in Italien besonders krasse Blüten treibt.


Menschen vor der Haltestation Castel Gandolfo am 22. Juli 2023 in Castel Gandolfo (Italien). | © KNA
7. April 2024 | 06:00
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