Mary McAleese war von 1997-2011 Präsidentin der Republik Irland.
Schweiz

Irische Ex-Präsidentin kritisiert die Kirche: «Tsunami» von Missbrauch und sexueller Gewalt

Die Theologische Fakultät der Universität Luzern hat Mary McAleese (71) mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Die Juristin und frühere irische Staatspräsidentin kritisierte den Vatikan für seine inkonsequente Haltung gegenüber dem Kinderschutz. Sie sprach mit kath.ch auch über die politische Situation in ihrer Heimat.

Wolfgang Holz

Kann man sich Jesus Christus mit einer Rute vorstellen, der Kinder schlägt? Wohl kaum. Und doch werden Körperstrafen als Lehrgegenstand der katholischen Weltkirche vom Heiligen Stuhl nach wie vor stillschweigend unterstützt.

Dabei hat der Vatikan sich 1989 gegenüber den Vereinten Nationen dazu verpflichtet, das umfassende Verbot der Gewaltausübung gegen Kinder einzuhalten.

«Körperstrafen historisch akzeptiertes Phänomen»

«Körperstrafen sind ein weit verbreitetes und historisch akzeptiertes Phänomen, vor allem dort, wo starke religiöse Einflüsse wirken, sodass der Heilige Stuhl immer übersehen hat, dass sie bei der Schaffung und Aufrechterhaltung von Kulturen ein wesentlicher Faktor sind, wenn Kinder zum Schweigen gebracht werden», bringt es Mary McAleese auf den Punkt.

Queen Elizabeth - hier mit Mary McAleese.
Queen Elizabeth - hier mit Mary McAleese.

Der 71 Jahre alte frühere irische Staatspräsidentin und Rechtsprofessorin erhielt am Donnerstag vom Kirchenrechtler Adrian Loretan die Ehrendoktorwürde verliehen.

Mary Mc Aleese, seit 2018 als «Professor of Children Law and Religion» an der Universität Glasgow tätig, legt in ihrer Forschung den Fokus auf die durchsetzbaren Schutzrechte von Kindern und die Freiheitsrechte aller Gläubigen. Sie fragt dabei nach den Rechten von Kindern im Kirchenrecht, wobei sie die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 ins Zentrum stellt.

«In keinem einzigen Fall des sexuellen Missbrauchs war das Kirchenrecht in der Lage, etwas für die Opfer zu tun.»

Mary McAleese, Rechtsprofessorin

Die Motivation dazu bot der Missbrauchsskandal, der Irlands Gesellschaft erschütterte. «In keinem einzigen Fall des sexuellen Missbrauchs war das Kirchenrecht in der Lage, etwas für die Opfer zu tun.»

Die Musikgruppe Lar Ban sorgte mit irischen Melodien fast für eine Pub-Stimmung während des Festvortrags.
Die Musikgruppe Lar Ban sorgte mit irischen Melodien fast für eine Pub-Stimmung während des Festvortrags.

Ja, in den letzten Jahrzehnten sei ein regelrechter «Tsunami» von nachgewiesenem körperlichem und sexuellem Missbrauch von Kindern in katholischen Einrichtungen über die Kirche hinweggerollt – von Kirchenmitarbeitenden verübt und von Kirchenbehörden vertuscht, so die Juristin in ihrem Vortrag. «Der für die Glaubwürdigkeit der Kirche entstandene Schaden ist unermesslich, möglicherweise stellt er, insbesondere im Westen, eine existenzielle Bedrohung für die Kirche dar.»

In Belfast geboren

Die im nordirischen Belfast geborene Katholikin, die von 1997 bis 2011 Staatsoberhaupt der Republik Irland war, stellte dem Vatikan und insbesondere auch Papst Franziskus in ihrem Vortrag kein gutes Zeugnis aus. Dabei habe der Heilige Stuhl die Kinderrechtskonvention des UN-Kinderrechtsausschusses 1989 unterschrieben. «Inzwischen ist er in der Fortschrittsgeschichte wieder zurückgefallen», so Mary McAleese.

60 Millionen Kinder in 200’000 katholischen Schulen

Will heissen: Im Jahr 2015 besuchten rund 60 Millionen Kinder weltweit die rund 200’000 katholischen Schulen, die auf fünf Kontinente verteilt sind: «Die katholische Kirche ist weltweit der grösste nichtstaatliche Anbieter von kindbezogenen Dienstleistungen.»

Twitter-Emoji zum Papstbesuch in Irland.
Twitter-Emoji zum Papstbesuch in Irland.

Und dennoch würde Papst Franziskus noch immer die eher globale historische Perspektive einnehmen. Diese toleriere und fördere Körperstrafen gemäss katholischem Katechismus als eine notwendige Form der Kinderdisziplin, ja sogar als Zeichen der Elternliebe. Papst Franziskus habe sich sogar in einer unbedachten Bemerkung vor Tausenden von Zuhörenden zugunsten der elterlichen Anwendung von Körperstrafen ausgesprochen.

Nur in Vatikanstadt gültig

Ein weiterer indiskutabler Fauxpas seitens des Vatikans sei, dass er die Gültigkeit der Kinderrechtskonvention nur auf dem Staatsterritorium des Vatikans rechtlich anerkenne. Darüber hinaus fühle sich nämlich, so McAleese, der Vatikan einzig darin verpflichtet, sich vor einem weltweiten Auditorium für die Konvention stark zu machen.

Mary McAleese in einer Aufnahme aus dem Jahr 2010
Mary McAleese in einer Aufnahme aus dem Jahr 2010

«Auf der Grösse eines 18-Loch-Golfplatzes können drei Dutzend Kinder im Vatikan mit dem Schutz der Konvention rechnen, während 300 Millionen katholische Kinder weltweit leer ausgehen», kritisiert die Rechtsprofessorin. Skurril und skandalös.

Doch warum eigentlich verhält sich der Vatikan so zögerlich und inkonsequent im Fall der Wahrung der Kinderschutzrechte weltweit? Die Kirche könnte sich doch als Institution des Guten positionieren und sich für Nächstenliebe und Kinderrechte stark machen?

«Ich habe viel Tee mit den Leuten getrunken und Scones gegessen.»

Mary McAleese, früheres irisches Staatsoberhaupt

Mary McAleese, die einem sofort das Du anbietet, erklärt im Gespräch mit kath.ch, dass der Vatikan sich eben nicht «wohlfühle», wenn es um Belehrungen gehe, die ihre internen Vorgänge betreffe. «Die katholische Kirche ist sehr gut, wenn es darum geht, nach aussen zu missionieren. Sie hat aber keine Geschichte, wenn es um Bewältigung interner Herausforderungen geht, die von aussen an sie gestellt werden. Vielleicht kann der synodale Prozess diesbezüglich eine Veränderung bringen.»

Mary McAleese bei ihrem Festvortrag zur Verleihung der Ehrendoktorwürde.
Mary McAleese bei ihrem Festvortrag zur Verleihung der Ehrendoktorwürde.

Auf ihre Zeit als irisches Staatsoberhaupt blickt sie gerne zurück. «Ich habe viel Tee mit den Leuten getrunken und Scones gegessen, um die sektiererische Gewalt in Irland und Nordirland zu überwinden und um wieder eine nachbarschaftliche Kultur des Miteinanders und der Freundschaft zu etablieren. Man arbeitet als Politikerin wie in einer Art seelsorgerischem Raum. Weil man für alle Menschen da sein muss.»

Frauenfeindliche Traditionen

Sie habe es als Frau in einem Land mit frauenfeindlichen Traditionen nicht leicht gehabt, um überhaupt studieren zu können. «Ich musste immer zweimal so hart arbeiten wie andere und musste mich ständig beweisen. Der Pfarrer meiner Gemeinde in Belfast sagte mir damals, ich könne nicht Juristin werden, weil ich eine Frau bin.» Inzwischen seien die Universitäten in Irland voll von Frauen.

«Die IRA waren nicht die einzigen Paramilitärs, die Gewalt ausgeübt haben. Tatsächlich haben die protestantischen Paramilitärs damit angefangen.»

Mary McAleese

Und der Terror der katholischen IRA, der Irisch-Republikanischen Armee? «Diese Organisation gibt es nicht mehr», sagt die Politikerin. «Wobei die IRA nicht die einzigen Paramilitärs waren, die Gewalt ausgeübt haben. Tatsächlich haben die protestantischen Paramilitärs damit angefangen», sagt McAleese. Die IRA sei schliesslich von guten Politikern überzeugt worden, die Gewalt aufzugeben und es mit Demokratie zu versuchen.

Brexit
Brexit

Brexit sorgt für neue Probleme

Und dennoch scheint der Frieden noch nicht vollständig zwischen Irland und Nordirland eingekehrt. «Es gibt Frieden, ja, aber noch nicht überall hat Versöhnung stattgefunden», bilanziert die 71-Jährige. Es gebe derzeit keine Regierung in Nordirland. Der Brexit habe neue Probleme geschaffen. «Das wahre Problem ist und bleibt die Teilung.»

«Die Teilung der Insel in eine protestantische und eine katholische Hälfte war vor allem inhuman.»

Mary McAleese

Denn dass man diese kleine Insel vor gut hundert Jahren geteilt habe, habe es nie ermöglicht, stabile politische Beziehungen zwischen beiden Landesteilen herzustellen. «Die Teilung der Insel in eine protestantische und eine katholische Hälfte war immer dumm gewesen und vor allem inhuman.»

Frommes Irland
Frommes Irland

Irland heute eine säkulare, liberale Demokratie

Heute sei die Irische Republik eine säkulare, liberale Demokratie. «Nordirland ist auch auf dem Weg dorthin, wird aber von Sektierertum und Identitätspolitik in Sachen Demokratie noch immer eingebremst.» Sie glaubt aber weiterhin fest an den Frieden. «25 Jahren relativer Frieden sind besser als zuvor 30 Jahre Gewalt. Und das ist gut so.»


Mary McAleese war von 1997-2011 Präsidentin der Republik Irland. | © Wolfgang Holz
4. November 2022 | 14:46
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