Das ukrainische Künstlerpaar Oleksandr Klymenko und Sonia Atlantova "schreibt" schon seit 23 Jahren gemeinsam Ikonen.
Porträt

«Ikonenmalen ist wie Beten mit Farben»: Ein ukrainisches Künstlerpaar auf Friedensmission

Ikonen auf Deckel von Munitionskisten malen sie schon seit Beginn des Krieges im Donbass 2014: das ukrainische Künstlerehepaar Sonia Atlantova (41) und Oleksandr Klymenko (46). Durch den neuen Angriffskrieg Putins in der Ukraine ist ihre Kunst längst zur europäischen Friedensmission geworden.

Wolfgang Holz

«Den Tod in Leben verwandeln. Die Umwandlung von Krieg in Frieden. Davon träumt jeder, der mit den Schrecken des Krieges konfrontiert ist», versichert Oleksandr Klymenko. «Das Projekt Ikonen auf Munitionskisten zu malen war deshalb unser gemeinsamer Traum vom Frieden in der Ukraine.»

Eine innere Berufung

Denn eine Ikone könne auf wundersame Weise nicht nur die Ereignisse von vor zweitausend Jahren wiedergeben, sondern auch die tragischen Geschehnisse des modernen Krieges, so Klymenko. Wenn der 46-jährige Künstler über seine Ikonen zu sprechen beginnt, spürt man sofort einen sakralen Brustton. Eine innere Berufung, die in einer tiefen Gläubigkeit zu wurzeln scheint. Wer Ikonen male, suche eine enge Verbindung zu Gott und wolle sich als Mensch verbessern. «Gleichzeitig will man sich natürlich auch als Künstler verbessern.»

Oleksandr Klymenko und Sonia Atlanta "schreiben" schon seit 23 Jahren gemeinsam Ikonen.
Oleksandr Klymenko und Sonia Atlanta "schreiben" schon seit 23 Jahren gemeinsam Ikonen.

Seine Ehefrau Sonia Atlantova bringt es noch prägnanter auf den Punkt: «Ikonenmalen ist wie Beten mit Farben», sagt sie. Wobei man in der byzantinisch-orthodoxen Kultur eigentlich nicht von Ikonenmalen spricht: Ikonen werden «geschrieben». Ikonen anzufertigen ist also eine besondere Art über Heilige und Gott zu schreiben. Hagiographie sozusagen.

Oleksandr Klymenko ist wie seine Frau Absolvent der Nationalen Akademie der Schönen Künste und Architektur. Er hat unter anderem eine Lehrtätigkeit am Staatlichen Institut für dekorative Kunst und Design in Kiew.

Beide auch Schriftsteller und Schriftstellerin

Doch wie kommen die beiden aus Kiew eigentlich dazu, Ikonen in heutiger Zeit zu malen? Beide stammen aus Künstlerfamilien. Beide wollten schon immer malen. Beide haben drei gemeinsame Kinder: einen Sohn (22) und zwei Töchter, 19 und 14 Jahre, alt. Ihr Filius Hermann Klymenko unterstützt sie bei ihrem laufenden Ikonen-Projekt.

Ukrainische Ikonen - so weit das Auge reicht.
Ukrainische Ikonen - so weit das Auge reicht.

Und beide sind auch als Schriftsteller und Schriftstellerin tätig. Er schreibt surrealistische Texte über den Krieg. Sonia Atlantova verfasst Kinderbuchtexte. Die Bücher der 41-Jährigen wurden sogar in die Short- und Longlists mehrerer Literaturpreise in der Ukraine und im Ausland aufgenommen, insbesondere in die Liste «BBC Book of the Year».

«Ikonen sind für mich einfach die am vollendetsten gemalten Bilder.»

Oleksandr Klymenko, ukrainischer Ikonenmaler

Doch am meisten schlägt das Herz der beiden für Ikonen: jene religiös inspirierten, menschlichen Abbilder Gottes und Schaufenster in die höchste Dimension der Heiligkeit. Ein Grund, warum der klassische Hintergrund von Ikonen oft golden gefärbt ist. «Ikonen sind für mich einfach die am vollendetsten gemalten Bilder», so Klymenko.

Auf Brettern von Munitionskisten gemalt - um den Tod zu besiegen.
Auf Brettern von Munitionskisten gemalt - um den Tod zu besiegen.

Ihre inzwischen legendären Ikonen auf Munitionskisten sind quasi stumme Zeugen des Krieges und Symbole für den Sieg des Lebens über den Tod. Sie sind auf Holzfragmente von militärischen Munitionskisten gemalt, die von Soldaten auf den Schlachtfeldern in der Ukraine zurückgelassen wurden. «Die Ikonen verwandeln den nach Tod riechenden Militärmüll in lebensbejahende Kunst», sagt Klymenko.

Scharniere an Waffenkisten noch zu sehen

An manchen Waffenkistendeckeln sind noch die Scharniere zu sehen. Die meisten Holzbretter stammen aus ukrainischen Militärbeständen. Doch mittlerweile verwendet das Künstlerehepaar auch russische Waffenkistendeckel – zurückgelassen von Putins Armee.

Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko bei ihrer jüngsten Ikonen-Ausstellung in Chur zum 50-Jahr-Jubiläum des InstitutsG2W.
Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko bei ihrer jüngsten Ikonen-Ausstellung in Chur zum 50-Jahr-Jubiläum des InstitutsG2W.

Dann steht Klymenko spontan vom Tisch auf und holt aus einem Karton eine besondere Ikone hervor, die auf einen Munitionskistendeckel gemalt ist, in dem wiederum ein Metallstift eingelassen ist. «Mit diesem Hebel werden normalerweise die Patronenboxen in der Munitionskiste geöffnet – jetzt funktioniert er neben dem Bild des Heiligen quasi als Schlüssel, mit dem Schauende sich die Dimension der Göttlichkeit erschliessen können.»

Die auf die Munitionskisten gemalten Bilder sollen insgesamt Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit in das vom Krieg zerrissene Land bringen. Gewalt und Schmerz sollen in Frieden und Trost umgewandelt werden.

Verkaufserlöse für mobiles Krankenhaus

Die Erlöse aus den Verkäufen dienen einem mobilen Krankenhaus. «Im Augenblick steht das Krankenhaus in der Nähe von Charkiw», sagt Klymenko. Auch dominikanische Brüder, die sich um vom Krieg traumatisierte Kinder von der Front kümmern und Freiwillige für Häuserreparaturen rekrutieren, werden durch die Verkäufe der Ikonen gesponsert.

Als besonders trauriges Symbol für Grausamkeiten des russischen Überfalls steht der Ikonenzyklus «Mariupol Deesis». Die im April 2022 entstandene Reihe aus Ikonen ist der fast völlig zerstörten südukrainischen Stadt, ihren Bewohnern und Verteidigern gewidmet.

Besucherinnen und Besucher an der Ikonen-Ausstellung in Chur anlässlich der 50-Jahr-Feier des Instituts G2W.
Besucherinnen und Besucher an der Ikonen-Ausstellung in Chur anlässlich der 50-Jahr-Feier des Instituts G2W.

«Es sind elf Ikonen, die mit Tränen und Blut geschrieben zu sein scheinen. Werke, die ich lange Zeit nicht publizieren konnte, nirgendwo zu veröffentlichen wagte und die ich kaum jemandem zeigen konnte. Zu schmerzhaft, zu persönlich sind sie für mich», erzählt Oleksandr Klymenko. «Wir sehen in jeder Ikone Erlösung, Frieden und die Erfüllung unserer Hoffnungen», sagen die beiden Kunstschaffenden.

«Wir haben schon in 53 Städten in Europa ausgestellt.»

Oleksandr Klymenko

Beide dürfen jeweils mit Zustimmung der ukrainischen Regierung zu Ausstellungen ausreisen. Nicht zuletzt – weil ihr Kunstprojekt inzwischen international so bekannt ist. «Wir haben schon an 105 Lokalitäten und 53 Städten in Europa ausgestellt.» Zum Gespräch hat sich das Künstlerehepaar in Zürich eingefunden. In den Redaktionsräumen des Instituts G2W, das am Wochenende sein 50-Jahr-Jubiläum feierte.

Oleksandr Klymenko bei der Präsentation der Ikonen in Chur.
Oleksandr Klymenko bei der Präsentation der Ikonen in Chur.

Doch wie lange werden noch Munitionskisten nötig sein in der Ukraine? Sprich: Wie lange wird der Krieg noch dauern?  Jüngst hat der russische Aussenminister angesichts der dramatischen militärischen Rückschläge ja politische Verhandlungsabsichten ins Spiel gebracht?

Oleksandr Klymenko winkt sofort ab: «Der Krieg wird nicht so bald zu Ende gehen, weil die Ukraine Russland nur noch misstraut.» Dabei leben auf beiden Seiten so viele Verwandte. Zerstörte Nähe sozusagen.

«Jede Minute kann alles passieren, eine Bombe oder Rakete detonieren – es grenzt geradezu an Schicksal oder Glück, wen es erwischt und wen nicht.»

Sonia Atlantova, Ikonenmalerin

Die Bretter, auf denen die Ikonen gemalt sind, stammen zumeist aus ukrainischen Militärbeständen. Aber auch russische sind darunter.
Die Bretter, auf denen die Ikonen gemalt sind, stammen zumeist aus ukrainischen Militärbeständen. Aber auch russische sind darunter.

Der Schrecken der Unberechenbarkeit

Das Furchtbare an diesem Krieg sei auch seine Unberechenbarkeit. «Jede Minute kann alles passieren, eine Bombe oder Rakete detonieren – es grenzt geradezu an Schicksal oder Glück, wen es erwischt und wen nicht.»

«Es sieht hier in Zürich alles so aus wie eine riesige Cremetorte, die mit vielen Leckereien garniert ist.»

Sonia Atlantova

Würden beide deshalb nicht lieber im friedlichen und sicheren Zürich und in der Schweiz bleiben? «Ich glaube, ich werde hier nicht benötigt, deshalb reise ich lieber zurück in die Ukraine», gesteht Oleksandr Klymenko und lächelt. Er findet das Leben in Zürich sehr gesättigt und ausgeglichen. Sonia Atlantova stimmt ihm zu: «Die Landschaft und die Natur sind umwerfend schön. Es sieht hier alles so aus wie eine riesige Cremetorte, die mit vielen Leckereien garniert ist.»

Die Ikonen von Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko werden Mitte Januar bis Mitte Februar 2023 in Zürich im «Jenseits im Viadukt» ausgestellt.


Das ukrainische Künstlerpaar Oleksandr Klymenko und Sonia Atlantova «schreibt» schon seit 23 Jahren gemeinsam Ikonen. | © Wolfgang Holz
13. September 2022 | 05:00
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