IG Missbrauchsbetroffene übt Kritik an Schweizer Bischöfen
Die Zeitschrift «Beobachter» kritisiert die Schweizer Bischöfe. Missbrauchsopfer würden nicht aktiv informiert, dass sie Anspruch auf Entschädigung haben. Und Abt Urban Federer hält ein Gutachten zum Missbrauch im Kloster Einsiedeln unter Verschluss. «Die Bischöfe sollen eine Selbstverpflichtung abgeben, keine Akten mehr zu vernichten», fordert Vreni Peterer.
Sarah Stutte
Die Generalversammlung der IG Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld hat am Samstag als Zoom-Konferenz stattgefunden. An ihr haben auch katholische Promis teilgenommen, etwa die Präsidentin der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ), Renata Asal-Steger, RKZ- Generalsekretär Urs Brosi und die Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, Karin Iten. Später stiess auch Bischof Joseph Bonnemain dazu, der bei der Bischofskonferenz für das Thema sexuelle Übergriffe zuständig ist.
Auch Missbrauchsforscherin mit dabei
Anwesend waren Daniela Sieber, die Präsidentin des Fachgremiums gegen sexuelle Übergriffe im Bistum St. Gallen, und Magda Kaspar. Sie ist Teil der Forschungsgruppe der Uni Zürich, die den katholischen Missbrauchskomplex historisch aufarbeitet.
Zunächst ging es in der Generalversammlung der Interessengemeinschaft für Missbrauchsopfer im kirchlichen Umfeld – kurz MikU genannt – darum, das Präsidiumsamt neu zu vergeben. Albin Reichmuth, der im letzten Jahr mit dem Herbert-Haag-Preis ausgezeichnet wurde, muss aus gesundheitlichen Gründen den Vorsitz abgeben. Er schlug als seine Nachfolgerin Vreni Peterer vor, die einstimmig gewählt wurde.
Kraft, darüber zu reden
Sie machte unter anderem auf einen Artikel im «Beobachter» aufmerksam. In diesem berichtete Vreni Peterer auch von ihrer persönlichen Missbrauchserfahrung durch einen Priester ihres Heimatorts. «Ich habe mittlerweile die Kraft, darüber zu reden, obwohl mir die Konfrontation damit immer noch einen Stich versetzt», sagt sie.
Sowohl bei Präventionsanlässen für kirchliche Mitarbeitende als auch in den vielen Gesprächen mit Opfern merke sie, «dass vielen nicht bewusst ist, dass spiritueller und sexueller Missbrauch eng miteinander verknüpft sind».
Engagement der Kirchen fehlt
Auch deshalb liege ihr die Arbeit in der Selbsthilfegruppe der IG-MikU am Herzen. «Der Austausch ist so wichtig», sagt Vreni Peterer. Sie sei froh darüber, dass Präventionsbeauftragte das Thema spiritueller Missbrauch immer mehr ins Zentrum ihrer Bemühungen rückten.
Trotzdem fehle ihr das nötige Engagement der katholischen Kirche. Viele Opfer, die vor 2017 missbräuchliche Erfahrungen in der Kirche gemacht hatten, wurden bisher nicht finanziell entschädigt. Konkret schreibt hierzu der «Beobachter»: «Die Kirche hat bis heute darauf verzichtet, die Opfer darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich erneut melden müssten, wenn sie eine Genugtuung erhalten wollen. Das bestätigt das bischöfliche Fachgremium.»
Proaktiv nach Betroffenen suchen
Vreni Peterer kritisiert diese Politik: «Natürlich muss die Kirche darauf aufmerksam machen und vor allem proaktiv nach weiteren Betroffenen suchen. Auch nach bereits verjährten Fällen. Die Kirche macht derzeit nur das, was sie muss. Erst wenn sich jemand meldet, reagiert sie», sagt Vreni Peterer.
IG-Vorstandsmitglied Christoph Wettstein pflichtet ihr bei: «Seit zehn Jahren ist das Thema Missbrauch auf dem Tisch und erst jetzt ringt man sich zu einer Pilotstudie durch. Warum dauert das so lange? Von der Bischofskonferenz und von der gesamtschweizerischen Kirche aus passiert hier zu wenig.»
Kontrollorgan gegen Aktenvernichtung
Im «Beobachter»-Artikel wird eine weitere Problematik angesprochen: unliebsame Akten können aus den Archiven verschwinden. «Die Bischöfe sollen eine Selbstverpflichtung abgeben, keine Akten mehr zu vernichten», fordert Vreni Peterer. Christoph Wettstein geht noch einen Schritt weiter: «Wir brauchen ein Kontrollorgan, damit diese Verpflichtung eingehalten wird. Die Rechte der missbrauchten Menschen müssen dem zivilen Strafgesetzbuch gleichgesetzt sein. Im Moment gibt es in der Kirche keinerlei rechtsstaatliche Verfahrensgrundlagen», kritisiert er.
Der Bericht des «Beobachters» kritisiert auch, dass Abt Urban Federer einen Untersuchungsbericht über den Missbrauch im Kloster Einsiedeln unter Verschluss hält. Dafür hat Vreni Peterer kein Verständnis: «Wenn es im jetzigen Stadium der Missbrauchs-Pilotstudie immer noch geheime Untersuchungsergebnisse gibt, ist das nicht richtig».
Nur die Spitze des Eisbergs
Christoph Wettstein ergänzt: «Die Institutionen wollen etwas retten, was nicht mehr zu retten ist. Die Kirche muss Stellung beziehen und hinschauen und zulassen, dass andere hinschauen und dabei feststellen, dass das ganze System versagt hat. Wenn sich nichts ändert, versagt es weiter und wird irgendwann jegliche Relevanz in der Gesellschaft verlieren.»
Von der laufenden Missbrauch-Pilotstudie erhoffen sich die Mitglieder der IG-MikU, «dass diese aufzeigt, dass es sich bei den bis heute bekannten Missbrauchsfällen nur um die Spitze des Eisberges handelt», sagt Vreni Peterer. Weiter müsse aus der Studie hervorgehen, wie Missbrauch stattfinden konnte und wie Opfer unter Druck gesetzt wurden.
Worten müssen Taten folgen
Auch hofft sie auf konkrete Taten. «Die Studie darf nicht in einer Schublade verschwinden, sondern die Erkenntnisse und Empfehlungen der Forscherinnen und Forscher sollen ernst genommen und umgesetzt werden», sagt die neue IG-Präsidentin. «Wir gehen davon aus, dass nach dem Pilotprojekt eine grosse, umfassende Studie zur Situation in der Schweiz lanciert wird. Den Worten müssen Taten folgen.»
Diese Vorgehensweise bestätigte auch Bischof Joseph Bonnemain, der sich – nachdem fast alle Gäste die Zoom-Sitzung verlassen hatten – plötzlich noch überraschend dazuschaltete. Er erklärte, dass er seine Verbundenheit und Solidarität für die Arbeit der IG mit seinem kurzen Besuch zum Ausdruck bringen wolle.
Ergebnisse der Studie im September
Laut Bonnemain kommt die Pilotstudie gut voran. Nach Informationen von kath.ch sollen die Ergebnisse am 12. September in einer Medienkonferenz vorgestellt werden. «Die Studie ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von Projekten, die darauf aufbauen können», sagte der Bischof von Chur.
Unmissverständlich gab auch Vreni Peterer am Schluss nochmals zu verstehen: «Wir werden weiterhin reden und auf Missstände im kirchlichen Umfeld aufmerksam machen. Wir machen uns auch im Jahr 2023 für die Schaffung einer unabhängigen professionellen Meldestelle für Missbrauchsbetroffene stark. Diese Forderung steht bei uns an vorderster Stelle.»
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