Michèle Bowley
Schweiz

«Ich war neugierig auf das Leben nach dem Tod»

Die Baslerin Michèle Bowley (56) hatte mit Krebsmetastasen im Kopf noch sechs Monate zu leben. Sie schloss mit ihrem Leben ab, sprach in aller Öffentlichkeit über das Sterben und veröffentlichte eine Autobiographie. Doch die Metastasen verschwanden; und Bowley muss nun damit klarkommen, plötzlich wieder am Leben zu sein.

Boris Burkhardt

Als der Arzt zu Michèle Bowley sagt, dass sie weiterhin leben wird, überwältigen sie die Gefühle: «Ich war überfordert.» Sie hatte sich mit dem Tod angefreundet, war neugierig auf das, was danach kommen würde: «Ich hatte mich darauf gefreut; mit meinem Leben hatte ich abgeschlossen.»

Ganz nahe herangerückt

«Ihr ahnt es ja: Ich war nach sechs Monaten noch nicht tot», hat Bowley ihr kleines Publikum auf dieses Kapitel ihrer Lesung vorbereitet.

Weil das Mikrophon nicht richtig funktioniert, rutschen Michèle Bowleys Zuhörer ganz nahe an sie heran.
Weil das Mikrophon nicht richtig funktioniert, rutschen Michèle Bowleys Zuhörer ganz nahe an sie heran.

Weil das Mikrophon nicht richtig funktioniert, sind ihre elf Zuhörerinnen und Zuhörer ganz nah herangerückt an ihren Tisch im grossen Mehrzwecksaal der katholischen Gemeinde Bruder Klaus in Liestal.

«Volle Pulle leben»

Michèle Bowley spricht ruhig und klar, aber leise. Sie ist 56, von kleiner Statur, dünn aber nicht mager. Sie trägt ein blau gemustertes Kleid, ein schwarzes Franzosenkäppi auf dem nackten Kopf. Liestal ist eine von nur zwei Stationen der Lesung aus ihrem Buch «Volle Pulle leben» als Veranstaltungen der Katholischen Landeskirche Baselland; die erste Lesung fand wenige Wochen zuvor in Allschwil statt.

Brustkrebsdiagnose 2020

Bowley bekam ihre Brustkrebsdiagnose im Sommer 2020. Die gebürtige Baslerin war in der Region bekannt als Fachstellenleiterin Tabakkonsum der Lungenliga beider Basel und Geschäftsleiterin des Vereins «Gsünder Basel». Sie arbeitete zuletzt als selbständige eidgenössisch lizenzierte Gesundheitspsychologin und Erwachsenenbildnerin.

Vortrag von Michèle Bowley über ihr Buch
Vortrag von Michèle Bowley über ihr Buch

«Ich kaufte mir eine Perücke, die ich aber sehr wenig anzog», sagt sie über die Auswirkungen der Chemotherapie.

«Ich torkelte zur Arbeit wie eine Betrunkene.»

Michèle Bowley

Als sie gerade ein neues Beratungsprojekt für die katholischen Landeskirchen beider Basel beginnen will, zeigt sie im Sommer 2021 heftige neue Symptome: «Ich torkelte zur Arbeit wie eine Betrunkene. Ich sollte nie mehr an meinen Arbeitsplatz zurückkehren.»

Unheilbar, sagen die Ärzte…

Diesmal sind es Hirnmetastasen. Unheilbar, sagen die Ärzte und geben ihr bei erneuter Behandlung drei bis sechs Monate zu leben.

«Die Lebensqualität war mir wichtiger als dessen Dauer», sagt Bowley. Zu den Nebenwirkungen der Hirnbestrahlung gehören Persönlichkeitsveränderungen vergleichbar dem frühen Stadium einer Demenz. Bowley spricht mit ihrem feinen aber trockenen Humor von «Hirn- und Harninkontinenz».

Krebstod der Mutter nah begleitet

Bowley hat Jahre zuvor den Krebstod ihrer Mutter nah begleitet: «Sie zog sich nach der Diagnose komplett von ihrem Umfeld zurück und verweigerte trotz ihres gewissen Todes die Versöhnung mit ihrem Bruder. Da wusste ich, wie ich nicht sterben wollte.»

Videotagebuch

Sie beschliesst, mit ihrem Leben geordnet abzuschliessen; und tut das öffentlich. Sie führt ein Videotagebuch (Vlog), gibt schweizweite Interviews. Ihre letzten Wochen werden sogar von einem Filmteam begleitet.

Ein knappes Dutzend Zuhörer hat Michèle Bowley in Liestal: Die meisten sind Neugierige, die nicht vom Krebs betroffen sind, weiss sie aus Erfahrung.
Ein knappes Dutzend Zuhörer hat Michèle Bowley in Liestal: Die meisten sind Neugierige, die nicht vom Krebs betroffen sind, weiss sie aus Erfahrung.

In 17 Wochen schreibt sie ihre Autobiographie, die sie zuerst «Achterbahn der Gefühle» nennen will, die nun aber, wie sie sagt, passender «Volle Pulle leben» heisst.

Ehrenmedaille der Krebsliga Schweiz

Die Krebsliga Schweiz verleiht ihr 2022 für ihren offenen Umgang mit dem Sterben und der Krankheit die Ehrenmedaille. «Ich habe diese Art der öffentlichen Anerkennung nicht gesucht», sagt sie. «Ich bin an die Öffentlichkeit gegangen, um Menschen zu ermutigen, sich dem Leben und der Endlichkeit zu stellen.»

«Ich habe das Leben da genossen, wo ich gelebt habe.»

Michèle Bowley

Bowley ist in ihrem Leben 18mal umgezogen: «Das hat mich gelehrt, dass auch das Nächste gut sein kann. Ich habe das Leben da genossen, wo ich gelebt habe.» Diese Einstellung habe ihr geholfen, keine Angst vor dem Sterben zu haben, das Leben loszulassen und neugierig auf das Leben nach dem Tod zu sein.

Testament geschrieben

Bowley schreibt nicht nur ihr Testament, sondern auch ihre Traueranzeige. Sie bereitet die Abdankungsrede vor, begleitet von einem Video mit Photos aus ihrem Leben. Dazu wünscht sie sich Frank Sinatras «My Way»: «Das ist mein Lied. Ich bin in meinem Leben immer meinen Weg gegangen.»

"Volle Pulle Leben" - das Buch, das die krebskranke Michèle Bowley geschrieben hat.
"Volle Pulle Leben" - das Buch, das die krebskranke Michèle Bowley geschrieben hat.

Überraschende Diagnose

«Ich sehe mich als Schmetterling», sagt Michèle Bowley. Und dann die Diagnose diesen März. Plötzlich war der Zeitpunkt ihres Sterbens, die Dauer ihres Lebens wieder eine Unbekannte. «Mein Herz jubilierte. Ich wollte in die Welt hinausschreien, dass ich nochmal eine Chance erhalten hatte, zu leben und mich zu versöhnen.» Sie sei selbst überrascht gewesen, wie sehr sie sich gefreut habe, sagt sie.

«Wunder» der Heilung

Das «Wunder» ihrer Heilung, für das die Ärzte keine wirkliche Erklärung haben, ist kein Teil mehr ihrer Autobiographie, die im Dezember erschienen ist. Eine Zuhörerin arbeitet als Sterbebegleiterin auf der Onkologie.

«Ihr Buch ist ein Mutmacher», sagt sie: «Sonst wäre ich nicht zur Lesung gekommen.» Sie habe täglich mit Menschen zu tun, denen die Ärzte eine Zehn-Prozent-Chance geben zu leben: «Manche ergreifen diese zehn Prozent; manche sagen gleich, sie wollen nicht mehr.»

Keine Christin

Die Psychologin Bowley selbst sieht eine Erklärung ihrer Heilung darin, dass sie sich trotz der Diagnose weiter am Leben beteiligt habe. Sie ist keine Christin, wie sie später auf Nachfrage sagt. Aber sie geht vor katholischem Publikum davon aus, dass jeder eine gewisse Vorstellung vom Leben nach dem Tod hat. «Es gibt Freikirchen, die einem Angst machen vor dem, was danach kommt. Mir ist es wichtig, dass ich mutig und zuversichtlich den nächsten Schritt gehen kann.»

«Ich habe es sehr genossen, so grosszügig zu sein.»

Michèle Bowley
Geburtstagsständchen zum Schluss
Geburtstagsständchen zum Schluss

Das Leben einer Totgesagten bringt handfeste Probleme mit sich: Fast ihr ganzes Geld hatte Bowley Freunden verschenkt. Nun muss sie es teilweise mühsam zurück bitten. «Ich habe es sehr genossen, so grosszügig zu sein», sagt sie. «Aber nun fehlt mir das Geld.» Sie erhält eine Invalidenrente von 2100 Franken.

Immuntherapie begonnen

Nun hat Bowley eine Immuntherapie begonnen; der Krebs scheint zurückzugehen. Noch am Tag der Lesung, dem 28. Juni, war sie morgens im Basler Claraspital für eine Blutanalyse und einen Hirnscan. Das Ergebnis erfuhr sie am Tag danach. Dieser Artikel lässt das Ergebnis bewusst offen. «Ich mache keine Prognosen mehr», sagt Bowley.

Der 28. Juni war zudem ihr Geburtstag. Im Kreis stehen ihre elf Zuhörer um sie herum und singen «Happy Birthday». Michèle Bowley lächelt ergriffen.


Michèle Bowley | © Boris Burkhardt
2. Juli 2023 | 16:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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