Priester und Bischöfe ziehen zur Messe in Einsiedeln ein.
Theologie konkret

HR-Experte zum Rüffel-Brief: «Liebe Bischöfe – lasst Unschärfen und Polyphonie zu! Habt keine Angst!»

Tobias Heisig coacht Führungskräfte – und hätte den Bischöfen abgeraten, den Rüffel-Brief zu verschicken. Er empfiehlt Seelsorgenden, «in verantwortlicher Weise» illegal zu handeln. Denn: «Eine rigide Auslegung des Formalen führt früher oder später zur Zerstörung dessen, was man erreichen möchte.» Aus Sicht der Organisationsentwicklung war Monika Schmids Konzelebration nicht illoyal.

Raphael Rauch

Wie bewerten Sie das Schreiben der Bischöfe?

Tobias Heisig*: Nach meiner Einschätzung ist das Schreiben der Bischöfe Ausdruck von Angst und Hilflosigkeit. Im Stil ist es autoritär behauptend und teilweise abwertend. Das Medium wurde falsch gewählt. Ein solch komplexes Thema schriftlich abzuwickeln, noch dazu als Schreiben zum neuen Jahr, vermittelt weder eine visionäre und zuversichtliche Orientierung noch ein Interesse an Dialog. Sollten die Bischöfe wirklich glauben, mit einem derartigen Schreiben zu überzeugen und zu motivieren, wäre das erschreckend naiv. Vielleicht geht es in dem Schreiben aber auch eher darum, nach Rom zu signalisieren, dass gegen Abweichungen vorgegangen wird. Das ist aber natürlich Spekulation.

Tobias Heisig
Tobias Heisig

Aber entspricht das Schreiben nicht den Erwartungen vieler konservativer Katholikinnen und Katholiken? 

Heisig: Zunächst kann das Schreiben diejenigen bestätigen, die Abweichungen in der Liturgie ablehnen. Die Bischöfe reagieren mit ihrem Schreiben offensichtlich auf deren «besorgte Anfragen und Rückmeldungen». Zugleich signalisieren die Bischöfe mit ihrem Rekurs auf Beschwerden, dass sie aufgeschlossen gegenüber Informanden und damit wenig resistent gegenüber Intrigen sind.

Monika Schmid während ihres Abschiedsgottesdienstes.
Monika Schmid während ihres Abschiedsgottesdienstes.

Gemeint sind aber wohl vor allem diejenigen, die offen für «Regelverstösse» sind – Frauen wie Monika Schmid und Charlotte Küng-Bless und Priester, die sie konzelebrieren liessen. Warum kann das Schreiben hier keine überzeugende Wirkung entfalten?

Heisig: Menschen, die anderer Überzeugung sind, vertreten andere Werte, Bedürfnisse und ein anderes Kirchenverständnis. Die im Schreiben genannten Behauptungen – Argumente gibt es leider kaum –, greifen diese Werte und Verständnisse überhaupt nicht auf, sondern es wird mit «dennoch» dagegengehalten. Überzeugungsprozesse leben aber davon, dass die Werte und Absichten des Gegenübers mit der eigenen Position glaubwürdig verbunden werden, so dass diese in ihrer Wertigkeit zum Tragen kommen. Das bedeutet nicht, dass ich nachgebe, aber dass auch die andere Seite etwas, was für sie wichtig ist, gewinnen kann.

Charlotte Küng-Bless setzt sich im Bistum St. Gallen für Reformen ein.
Charlotte Küng-Bless setzt sich im Bistum St. Gallen für Reformen ein.

Welche Werte müssten denn angesprochen werden?

Heisig: Zwei Beispiele: Erstens die Offenheit für Veränderung. Auch Liturgie ist «semper reformanda». Der Respekt vor den Menschen, die sich das wünschen, gebietet es, aufzuzeigen, wo dies möglich ist. Zweitens: Das Bedürfnis nach Freiheit. Diese Freiheit kann uns ermutigen, eigenwillige Gotteserfahrungen zu machen und in die Kirche einzubringen. Eine geisterfüllte Kirche wäre eine solche, die darin den Geist Gottes erkennt. Selbst dann, wenn sich Menschen vom Geist Gottes zum Widerstand in der Kirche aufgerufen fühlen.

Brennstab und Kühlelement? Bischof Felix Gmür und Monika Schmid in Freiburg.
Brennstab und Kühlelement? Bischof Felix Gmür und Monika Schmid in Freiburg.

Bischof Felix Gmür findet, das Schreiben sei ermutigend. Die meisten empfinden es aber abwertend.

Heisig: Um zu überzeugen, braucht es eine Atmosphäre, in der die andere Seite darin unterstützt wird, sich überzeugen zu lassen. Dem dient das Schreiben kaum. Die Formulierung «wir bitten Sie nachdrücklich (…), die Liturgie nicht zum Experimentierfeld persönlicher Vorhaben zu machen» beispielsweise unterstellt Ego-Interessen und ist schon unter Höflichkeitsgesichtspunkten fragwürdig. Letztlich ist das Schreiben so konstruiert, dass es nicht nur nicht überzeugt, sondern den Widerstand noch verschärft. 

Die Allmacht der Kleriker ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts
Die Allmacht der Kleriker ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts

Aber ist es nicht legitim, Regeln zu setzen?

Heisig: In der Tat. Das gehört auch zu den Aufgaben der Bischöfe. Und das muss auch nicht demokratisch laufen. Jede Führungskraft hat diese Aufgabe. Unternehmerisch betrachtet sind solche Regeln aber nur dann sinnvoll, wenn sie helfen, den Zweck der Organisation zu fördern und wenn sie von den zuständigen Personen umgesetzt werden.

Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.
Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.

Inwiefern passen die geforderten Regeln zum Zweck der Organisation Kirche – oder auch nicht?

Heisig: Zunächst ist zu betonen, dass Liturgie eine Differenz zum Alltag bildet. Sie soll ein Mysterium sein und ein Widerfahrnis, also eine Erfahrung, bei der ich Gott als Gegenüber, durchaus auch fremd, spüre. Es wäre ein Verlust, wenn wir uns Liturgie einfach nur zusammenschustern würden. Liturgie muss aber auch die Erfahrungsebene der Menschen von heute berücksichtigen. Schliesslich geht es um Gottes Dienst an den Menschen und mit den Menschen. In dem Schreiben heisst es, dass Frauen nicht im Vollzug der Sakramente vermitteln könnten, «dass Jesus Christus selbst in und durch die Sakramente wirkt». Das ist eine Behauptung, die für viele Christen jenseits ihrer Vorstellung ist. Im Gegenteil: dass Frauen hier nicht mitwirken dürfen, empfinden sie als klares Defizit der Organisation Kirche.

Die Schweizer Bischöfe an der nationalen synodalen Versammlung in Einsiedeln. Links mit brauner Kutte: Antonio Šakota, der Koordinator der Kroaten-Mission.
Die Schweizer Bischöfe an der nationalen synodalen Versammlung in Einsiedeln. Links mit brauner Kutte: Antonio Šakota, der Koordinator der Kroaten-Mission.

Was sollten die Bischöfe tun?

Heisig: Ich verstehe ihr Dilemma. Sie stehen von Seiten Roms unter Beobachtung. Sie haben selbst ihre berechtigten Prägungen und Überzeugungen. Sie sehen wie, zumindest in unseren Breiten, Kirche zerfällt und verschwindet. Das schmerzt und ist sehr traurig. Auch die Bischöfe brauchen Ermutigung: Liebe Bischöfe – lasst Unschärfen und Polyphonie zu! Habt keine Angst! Erkennt eure Professionalität darin, dass ihr mit der Spannung zwischen Unterbindung und Duldung von Regelabweichungen kreativ umgeht. Seht in allen Frauen und Männern die Spuren des Göttlichen Geistes. Erkennt neben dem kirchlichen Amt die Würde der «königlichen Priesterschaft» aller im «heiligen Volk Gottes» (1 Petr 2,5 und 9). Betrachtet eure Aufgabe vor allem darin, dies den Menschen zu sagen und sorgt dafür, dass sie dies auch in der Liturgie erfahren. Dann seid ihr glaubwürdig.

Dorothee Becker leitet eine Kommunionfeier in der Kirche St. Franziskus, Riehen.
Dorothee Becker leitet eine Kommunionfeier in der Kirche St. Franziskus, Riehen.

Was sollten die Seelsorgerinnen und Seelsorger tun?

Heisig: In verantwortlicher Weise illegal handeln. Ja, illegal! Denn eine rigide Auslegung des Formalen führt früher oder später zur Zerstörung dessen, was man erreichen möchte. Entwicklung und Passung werden so verhindert. Das gilt auch für die Liturgie. Kontrastierend zur erschreckenden Illegalität des Missbrauchs müssen wir uns klar machen, dass es auch Praktiken brauchbarer Illegalität gibt. Diese sind für den Erfolg einer Organisation unverzichtbar. Darauf hat nicht nur der bekannte Systemtheoretiker Niklas Luhmann immer wieder hingewiesen. Es geht dabei um eine Illegalität, die brauchbar ist für die Menschen und für die Kirche als Zeichen und Werkzeug. 

Das heisst?

Heisig: Als Organisationsentwickler halte ich die Konzelebration von Monika Schmid und die Auftritte von Charlotte Küng für konstruktiv und keinesfalls illoyal. Sie sind theologisch begründet. Sie erzeugen neue Erfahrungen. Sie forcieren die Diskussion. Auch wenn solche brauchbaren Regelabweichungen in den Diensten der Menschen und der Kirche manchmal zu Skandalen führen – Katholikinnen und Katholiken sollten sich dazu dennoch in Verbundenheit mit der Kirche gegenseitig ermutigen.

* Tobias Heisig (54) ist promovierter Theologe und Psychologe. Er ist Geschäftsführer der CIRCLE2 GmbH in Tübingen und coacht Führungskräfte. Zuletzt erschien von ihm das Buch «33 Mutausbrüche: für mehr Glaube im Alltag» im Vier-Türme-Verlag.


Priester und Bischöfe ziehen zur Messe in Einsiedeln ein. | © Christian Merz
8. Januar 2023 | 11:08
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