Zsolt Balkanyi
Schweiz

Historiker Zsolt Balkanyi-Guery zu Antisemitismus: «Es braucht Begegnungen, das ist wertvoll und richtig»

Antisemitismus ist weltweit wieder aufgeflammt – seit dem furchtbaren Terroranschlag der Hamas in Israel und der Invasion des israelischen Militärs im Gazastreifen. Warum gibt es eigentlich Antisemitismus überhaupt? Zsolt Balkanyi-Guery, Schweizer Historiker und seit 2024 Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA), gibt Antworten. Seine grösste Sorge gilt den sozialen Medien.

Wolfgang Holz

Herr Balkanyi-Guery, unlängst ist ein orthodoxer Jude in Zürich von einem radikalisierten muslimischen Jugendlichen niedergestochen worden. Ist das ein ultimatives Alarmsignal dafür, dass Antisemitismus nun auch in der bislang für Juden sicheren Schweiz grundsätzlich zur ernstzunehmenden Bedrohung geworden ist – oder ist die furchtbare Tat eher als Einzelfall einzustufen?

Zsolt Balkanyi-Guery*: Antisemitismus war in den gesellschaftlichen Tiefenschichten auch in der Schweiz nie ganz verschwunden. Der 7. Oktober 2023 fungiert jedoch als eine Art Trigger, der ihn virulent hat werden lassen. Ja, die Tat ist alarmierend und markiert eine Zäsur. Die Frage, ob es ein Einzelfall war oder nicht, erachte ich nicht als entscheidend. 

Die Terrorgruppe Hamas erschoss zahlreiche Besucherinnen und Besucher eines Festivals.
Die Terrorgruppe Hamas erschoss zahlreiche Besucherinnen und Besucher eines Festivals.

«Die sicherheitspolitische Situation in Israel hat eine unmittelbare Auswirkung auf die jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt.» 

Seit der Terrorattacke der Hamas am 7.Oktober und seit der Militäraktion Israels im Gazastreifen ist laut jüngstem Antisemitismusbericht der Hass gegen Juden in der Schweiz grundsätzlich wieder aufgeflammt. Reicht das als Erklärung für den zunehmenden Antisemitismus?

Balkanyi-Guery: Ob die Erklärung ausreicht, kann ich nicht beurteilen. Sie zeigt jedoch einen Mechanismus auf, den wir häufig beobachten. Die sicherheitspolitische Situation in Israel hat eine unmittelbare Auswirkung auf die jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt. 

«Die Wahrnehmung wird in den sozialen Medien gesteuert, in denen primär Emotionen verstärkt und verbreitet werden.»

Bekenntnis zu Israel und gegen Antisemitismus
Bekenntnis zu Israel und gegen Antisemitismus

Im Sprachgebrauch der Medien und der öffentlichen Meinung fallen in der aktuellen politischen Diskussion zum Nahost-Konflikt häufig zwei Formulierungen auf: Antisemitisch und propalästinensisch. Die Begriffe prosemitisch bzw. proisraelisch und antipalästinensisch tauchen deutlich seltener oder so gut wie nicht auf. Steckt dahinter ein System der gesteuerten Wahrnehmung?

Balkanyi-Guery: Auf der Begriffsebene kann ich es nicht beurteilen. Die Wahrnehmung wird jedoch in den sozialen Medien gesteuert, in denen primär Emotionen verstärkt und verbreitet werden. Auffällig ist, dass das Narrativ ganz ohne den 7. Oktober 2023 auskommt. Dieser furchtbare Terroranschlag wird ausgeblendet. Die grossen Tageszeitungen in der Schweiz verfolgen meiner Beobachtung nach eine ausgewogene Berichterstattung, bei der sie verschiedene Aspekte aufnehmen und vielfältige Stimmen zum Schwingen bringen. 

«Die neue Rechte spielt meist auf einer elitären Klaviatur. Es geht um die Überlegenheit der weissen Rasse und um die Angst, an Einfluss zu verlieren.»

Es wird häufig zwischen linkem und rechtem Antisemitismus unterschieden. Können Sie den Unterschied kurz erklären?

Balkanyi-Guery: Offensichtlich ist, dass mit links und rechts das jeweilige politische Spektrum gemeint ist, aus dessen Ideen sich der Antisemitismus nährt. Der rechte Antisemitismus knüpft an die Geschichte der nationalsozialistischen und faschistischen Bewegungen an. Die neue Rechte spielt meist auf einer elitären Klaviatur.

Menschen solidarisieren sich mit Israel:  Kundgebung vom 10. Oktober in Zürich.
Menschen solidarisieren sich mit Israel: Kundgebung vom 10. Oktober in Zürich.

Es geht um die Überlegenheit der weissen Rasse und um die Angst, an Einfluss zu verlieren. Hier gelten Jüdinnen und Juden als Elemente, die aus der gesunden Gesellschaft entfernt werden müssen, da sie ihr Schaden zufügen. Der linke Antisemitismus benutzt als Folie ein anderes Gesellschaftsbild. Hier geht es um den Kampf von Entrechteten gegen die mächtigen Unterdrücker. Angestrebt wird eine Befreiung aus der Macht- und Hilflosigkeit. Israel erscheint als weisser Unterdrücker, der koloniale Interessen verfolgt.

«Judenfeindliche Gedanken sind verschieden motiviert: Religiös, auf Sozialneid basierend oder aus dem Gefühl heraus, etwas zu verlieren.» 

Andere Antisemitismus-Forscher bzw. -Experten postulieren: Der Antisemitismus komme aus der Mitte der Gesellschaft und sei latent immer vorhanden. Was sagen Sie dazu? Ist es wirklich so, dass Antisemitismus ein in allen Gesellschaftsschichten verwurzeltes Phänomen darstellt? Und wenn ja, warum?

Balkanyi-Guery: Über diese Frage liessen sich ganze Bücher schreiben. Es scheint tatsächlich so, dass judenkritische und -feindliche Gedanken in verschiedenen Gesellschaftsschichten vorhanden sind. Sie sind verschieden motiviert: Religiös, auf Sozialneid basierend oder aus dem Gefühl heraus, etwas zu verlieren. 

«Nicht alle Jüdinnen und Juden sind reich.»

Wie ist denn der Antisemitismus historisch zu erklären? Hat es vor allem damit zu tun, dass die Juden im Mittelalter von den Zünften ausgeschlossen waren und sich deshalb auf den Handel und die Finanzgeschäfte konzentrieren mussten und dabei reich wurden?

Von links Kardinal Kurt Koch, Gabriel Strenger und Rabbiner David Rosen bei einer Diskussion 2015 in Basel.
Von links Kardinal Kurt Koch, Gabriel Strenger und Rabbiner David Rosen bei einer Diskussion 2015 in Basel.

Balkanyi-Guery: Nicht alle Jüdinnen und Juden sind reich. Die Herleitungen sind vielfältig. Sicherlich ist finanzieller Erfolg einer der Gründe. Ende des 19. Jahrhunderts nimmt der Antisemitismus eine neue Qualität an, indem er eine biologizistische Form annimmt. Der «Jude» wird zur Rasse, zum Geschwür, dass aus der Gesellschaft geschnitten werden oder eben radikal eliminiert werden muss.

«Religiöse Judenfeindlichkeit ist auf die Rolle der Jüdinnen und Juden im sogenannten Neuen Testament zurückzuführen.»

Oder gründet der Antisemitismus vor allem auf den seit 1948 bestehenden Staat Israel und die Nicht-Existenz eines unabhängigen eigenen palästinensischen Staates?

Balkanyi-Guery: Nein, die Gründung des Staates Israel führt zu anti-zionistischen Reflexen. Jüdinnen und Juden werden seither auch mit der politischen Realität des Staates Israel konfrontiert und verantwortlich gemacht.

Wie ist der Antisemitismus religiös zu erklären? Hat dies mit der exklusiven und besonderen spirituellen Kultur der orthodoxen Juden zu tun?

Balkanyi-Guery: Der sogenannte Antijudaismus hat nichts mit dem orthodoxen Judentum zu tun, das erst viel später entstanden ist. Religiöse Judenfeindlichkeit ist auf die Rolle der Jüdinnen und Juden im sogenannten Neuen Testament zurückzuführen. In einigen der Texte erscheinen sie als «Gottesmörder», als verstocktes Volk oder ihnen wird gar attestiert, den «Teufel» zum Vater zu haben.

Plakat der GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
Plakat der GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus

Die Texte spiegeln eine radikale Abgrenzung der jungen christlichen Gemeinde zum damaligen Judentum wider. Die Autoren der Texte benutzen eine radikale Sprache mit sehr eindringlichen Bildern, die in den folgenden Jahrhunderten in Predigten und im Leben der Kirchen aufgegriffen wurden. Mit einem historisch-kritischen Blick lassen sich die Texte decodieren. Wenn jedoch davon ausgegangen wird, dass Fakten und Wahrheiten verkünden, entfalten «heilige Texte» – egal welcher Religion – eine unheilvolle Wirkung!

«Wir sind ganz normale Menschen, mit verschiedenen Berufen und gesellschaftlichen Bedürfnissen!»

Fusst der Antisemitismus Ihrer Meinung nach auch auf dem Sozialneid gegenüber der hochentwickelten Gesellschaft Israels sowie gegenüber dem Reichtum von Juden weltweit?

Balkanyi-Guery: Den Neid auf die israelische Gesellschaft kann ich nicht beurteilen. Wie bereits oben ausgeführt, ist Sozialneid eine der Erklärungen, wenn es darum geht, den Antisemitismus zu beurteilen. Aber nochmals: Nicht alle Jüdinnen und Juden sind reich. Wir sind ganz normale Menschen, mit verschiedenen Berufen und gesellschaftlichen Bedürfnissen! 

Free-Palestine-Demonstration in Berlin, 4. November 2023
Free-Palestine-Demonstration in Berlin, 4. November 2023

Gibt es einen politischen Antisemitismus, weil die USA seit Jahrzehnten als felsenfester politischer und militärischer Partner Israels agiert – nicht zuletzt aus arabischer Sicht?

Balkanyi-Guery: Das ist zu pauschal formuliert. Es gibt ja durchaus auch arabische Staaten, die eine grosse wirtschaftliche Nähe zu den USA suchen und umgekehrt. 

«Es braucht Begegnungen, das ist wertvoll und richtig.»

Letzte Frage: Was muss getan werden, um Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen? Reichen Gesetze und Strafen als Abschreckung – oder sollte gesellschaftlich auch ein Mehr an konkreten menschlichen Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden gefördert werden? Zum Beispiel durch Schülerreisen nach Israel und ähnlichem. 

Balkanyi-Guery: Es braucht Anstrengungen auf verschiedenen Ebenen. Es braucht sicherlich Gesetze, diese müssen jedoch angewandt werden, damit eine Rechtspraxis entstehen kann. Es braucht Begegnungen, das ist wertvoll und richtig. Meine grösste Sorge gilt jedoch den sozialen Medien. In ihnen geht es nicht um Fakten, sondern um Emotionen. Hier entstehen Geschichten, die Jugendliche beeinflussen. In diesen Medien muss auch Judenfeindschaft und Antisemitismus bekämpft werden!

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*Zsolt Balkanyi-Guery, Jahrgang 1975, stammt aus Budapest. Er ist ein Schweizer Historiker, Schuldirektor der Jüdischen Schule Noam in Zürich sowie einer der beiden ersten jüdischen Armeeseelsorger der Schweiz. Das Interview wurde schriftlich geführt.


Zsolt Balkanyi | © zVg
18. März 2024 | 17:15
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