Heidi Kuster und ihr verstorbener Mann Norbert. Er war Passagier des Swissair-Flugs 100.
Schweiz

Heidi Kuster: «Ohne seinen Glauben hätte er das vermutlich nicht überlebt»

Im Jahr 1970 entführten palästinensische Terroristen eine Swissair-Maschine. Der Dokumentarfilm «Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste» berichtet darüber. An Bord war damals auch der Katholik Norbert Kuster aus Wädenswil ZH. Seine Witwe erzählt, wie ihm sein Glaube während der Entführung und danach Halt gegeben hat.

Sarah Stutte

Im Film scheint es so, als ob Ihr Mann ein sehr gläubiger Mensch gewesen ist. War er das schon immer?

Heidi Kuster*: Ja. Er ist in einem katholischen Elternhaus in Brig aufgewachsen. Den Dialekt hat er nie verlernt und gerne benutzt.

Also hatte ihr Mann Walliser Wurzeln?

Kuster: Wurzeln nicht. Er ist zwar 1936 dort geboren, doch die Eltern waren keine Walliser. Ursprünglich kam die Familie aus dem Zugerland. Der Vater war Schriftsetzer und hatte eine Stelle in Brig gefunden. So ist die Familie dort gestrandet.

Norbert Kuster im Wallis, wo er geboren und aufgewachsen ist.
Norbert Kuster im Wallis, wo er geboren und aufgewachsen ist.

Mein Mann war das jüngste von drei Kindern. Im Wallis hat er gelebt, bis er später an die Hochschule in St. Gallen gegangen ist. Dort haben wir uns kennengelernt und sind nach unserer Heirat nach Wädenswil gezogen.

Kam die katholische Prägung Ihres Mannes durch das Wallis?

Kuster: Nein. Wir sind so aufgewachsen, dass die Familie sonntags in den Gottesdienst geht. Das war damals normal. Es hat uns nicht geschadet, in die Kirche zu gehen, sondern eher geholfen.

Welche Rolle hat die Religion für Ihren Mann gespielt, als er heranwuchs?

Kuster: Die Religion war ganz selbstverständlich in seinem Leben. Norbert war in einer Studentenverbindung und auf einen Ball eingeladen. Doch seine Begleitung hatte kurz vorher einen Skiunfall. Deshalb suchte er eine neue Begleitung, denn wer damals keine hatte, musste als Student eine Busse zahlen. Wir haben uns dann über einen Freund kennengelernt, und so begleitete ich ihn schlussendlich.

«Der Glaube hat uns beiden einen Boden gegeben»

Von dort aus sind wir dann am nächsten Morgen um 6 Uhr in den ersten Gottesdienst des Klosters St. Gallen gegangen. Norbert schlief auf der Kirchenbank. Natürlich kann man jetzt sagen, dass das im Prinzip nichts bringt, aber es hat auch niemandem weh getan. Der Glaube hat uns beiden einen Boden gegeben.  

Warum sass Ihr Mann 1970 in der Swissair-Maschine von Zürich nach New York?

Kuster: Er hat für eine US-amerikanische Firma gearbeitet, die Flugplätze mit elektronischer Infrastruktur ausgestattet hat. Dort wurde er bald zum Europa-Verantwortlichen befördert und war in der Folge viel auf Reisen. So auch am 6. September 1970, als er zu einem Termin zum Firmenhauptsitz unterwegs war.

Drei Flugzeuge wurden am 6. September 1970 nach Jordanien entführt. Darunter eine Swissair-Maschine.
Drei Flugzeuge wurden am 6. September 1970 nach Jordanien entführt. Darunter eine Swissair-Maschine.

Wo waren Sie zu dieser Zeit?

Kuster: Ich habe meinen Mann zum Flughafen gefahren und war dann mit unseren beiden Kindern, die damals sieben und vier Jahre alt waren, zu Hause. Ich weiss noch, dass es ein wunderschöner Herbst war und man noch lange draussen bleiben konnte. Also habe ich mich auf der Terrasse in den Liegestuhl gesetzt, und neben mir lief ein kleines Radio. Ich habe gelesen und Musik gehört.

«Da war der schöne Tag zum Teufel.»

Plötzlich sagten sie im Radio etwas über einen Swissair-Flug, bei dem es Probleme gebe. Erst habe ich mir gesagt, dass ich vermutlich spinne. Dann wollte ich aber doch nicht weiter grübeln und habe den Flughafen Zürich angerufen. Nachdem ich ihnen erklärte, dass ich mir Sorgen um meinen Mann mache und ihnen die Flugzeugnummer mitgeteilt habe, sagten sie mir, dass dieses Flugzeug gerade entführt werde. Da war dann der schöne Tag zum Teufel.

Haben Sie die ganze Zeit vor dem Radio verbracht?

Kuster: Fast ununterbrochen von frühmorgens bis spät am Abend. Ich konnte nicht mehr schlafen und wollte keine Mitteilung verpassen. Wir Frauen der entführten Männer hatten immer Kontakt. Auch vom EDA aus wurden wir einige Male angerufen. Um uns mitzuteilen, dass sie alles versuchen.

Hat Ihnen Bundesbern oder die Swissair denn psychologische Hilfe und Unterstützung angeboten?

Kuster: Nein, damals gab es noch kein Care-Team. Auch nicht, als unsere Männer wieder heimgekommen sind. Das war das Schlimmste. Mein Mann musste nur zum Arzt, damit dieser bestätigte, dass er nach diesem Erlebnis seine Arbeit wieder aufnehmen könne. Er war nun wieder zu Hause und somit war die Welt in Ordnung. So haben viele reagiert. Für meinen Mann war aber überhaupt nichts mehr in Ordnung. Als er zurückkam, war er sehr mager und hat schlecht ausgesehen.

"Der Glaube hat uns beiden einen Boden gegeben", so Heidi Kuster.
"Der Glaube hat uns beiden einen Boden gegeben", so Heidi Kuster.

In der ersten Nacht habe ich seine Hand gehalten. Dann bin ich später aufgewacht, und er war nicht mehr neben mir. Ich habe ihn auf dem Boden liegend hinter dem Sofa gefunden, wo er sich versteckt hatte. Er war überzeugt davon, dass ‘dort hinten’ geschossen wird. Dabei war er doch in unserem Wohnzimmer. Die Angst konnte er nicht einfach abstellen und ist sie auch nie mehr los geworden.

Konnte er mit Ihnen darüber sprechen, was ihm widerfahren ist?

Kuster: Mir hat er viel erzählt. Anfangs hat er noch einige Vorträge gehalten, wenn er angefragt wurde. Irgendwann wurde es ihm aber zu viel, immer wieder darauf angesprochen zu werden, und dann wollte er nicht mehr darüber reden.

Wie hat er die Entführung damals erlebt und wie die anschliessende Gefangenschaft?

Kuster: Die palästinensischen Geiselnehmer im Flugzeug seien zum Teil sehr jung gewesen und hatten selbst Angst. Sie hätten gezittert und geweint, als sie mit Granaten in der Hand drohten, das Flugzeug mitsamt den Geiseln in die Luft zu sprengen. Daraufhin hätten viele Geiseln nur gebetet, dass diese verängstigten jungen Männer nicht loslassen. Zudem mussten die Essens- und Trinkvorräte rationiert werden für so viele Menschen. Sie waren aber immer noch mit der Welt in Verbindung während der Flugzeugentführung.

Auf dem jordanischen Flugfeld bei Zarqa sprengten die Terroristen die leeren Flugzeuge in die Luft.
Auf dem jordanischen Flugfeld bei Zarqa sprengten die Terroristen die leeren Flugzeuge in die Luft.

Das änderte sich, als die Terroristen schliesslich die leeren Flugzeuge auf dem jordanischen Flugfeld bei Zarqa hochgingen liessen. Ein Teil der Geiseln kam frei, einige andere – darunter auch mein Mann – wurden weiter in Gefangenschaft gehalten. Zwei Wochen hat man von ihnen nichts mehr gehört. Sie wurden von den Terroristen in ein Flüchtlingslager verschleppt. Zu sechst seien sie in einen engen Ziegenstall gesperrt worden, berichtete mein Mann später.

«Vermutlich hat ihm der israelische Stempel in seinem Pass geschadet.»

Da das Lager von der jordanischen Armee beschossen wurde, wussten sie nicht, ob es nicht auch aus Versehen den Stall erwischte. Schlussendlich haben die Soldaten das Versteck dann gefunden und alle befreit. Die Zeit in diesem Stall war für meinen Mann schlimmer als die Flugzeugentführung.

Warum wurde gerade Ihr Mann weiter verschleppt?

Kuster: Durch seine Reisen hatte er auch geschäftlichen Kontakt mit Firmen in Israel gehabt. Vermutlich war dieser israelische Stempel in seinem Pass der Grund, dass er nach der Entführung auch noch verschleppt wurde.

Wie hat ihm sein Glaube geholfen während dieser Zeit?

Kuster: Ohne seinen Glauben hätte er das vermutlich nicht überlebt.

Wie war das für Sie, zu Hause warten zu müssen und nicht zu wissen, was passiert?

Kuster: Freunde und Angehörige haben mich abwechselnd zum Mittagessen eingeladen, damit ich nicht den ganzen Tag zuhause mit den Kindern allein bin. Dabei ist natürlich immer weiter das Radio gelaufen. Irgendwann hiess es dann auf einmal, die restlichen Geiseln seien nun auch noch befreit worden.

Kuster verstarb im letzten Jahr, mit 87 Jahren.
Kuster verstarb im letzten Jahr, mit 87 Jahren.

Zur Sicherheit haben wir noch in Bern angerufen, und das wurde bestätigt. Angeblich fehlte aber noch eine Person, weshalb sie die Namen noch nicht veröffentlichen konnten. Später stellte sich heraus, dass die fehlende Geisel schon früher befreit worden war. Das war alles chaotisch damals.

Wie lange ging es dann noch, bis Ihr Mann wieder zu Hause war?

Kuster: Ich habe ihn am Flughafen abgeholt. Doch vorher wurden wir Angehörigen in einen separaten Raum geführt. Von dort aus konnten wir die Zurückkehrenden nicht beim Aussteigen sehen. Angeblich wollten sie uns schützen vor den ganzen Schaulustigen und Medien. Das war natürlich nochmals nervenaufreibend.

«Niemand war darauf vorbereitet und wusste, wie er sich richtig verhalten sollte.»

Aber das ist alles unter Druck entstanden und deshalb menschlich. Man darf nicht vergessen, dass es eine solche Entführung und die Art von Terrorismus bis anhin in der Schweiz nicht gab. Niemand war darauf vorbereitet und wusste, wie er sich richtig verhalten sollte.

Wie war Ihr Mann, als Sie Ihn nach diesen Wochen der Ungewissheit endlich wiedergesehen haben?

Kuster: Ein anderer Mensch. Geistig, seelisch und körperlich hatte er sehr abgebaut. Er hat in der Gefangenschaft angefangen, wie verrückt zu rauchen. Es brauchte eine lange Zeit, bis er wieder war, so wie ich ihn kennenlernte – ein offener, fröhlicher und kontaktfreudiger Mensch.

«Und ich schicke meine Fragen auch gen Himmel.»

Im Film spricht er davon, mit zwei anderen Geiseln zusammen nach Einsiedeln zu pilgern. Falls alle überleben. Was hat ihm diese Pilgerreise bedeutet?

Kuster: Wäre er sie nicht angetreten, hätte er keine Ruhe gefunden. Die Kirche und der katholische Glaube haben ihm auch danach immer noch viel bedeutet. Auch deshalb war ihm das wichtig.

Haben Sie aufgrund dieser Erlebnisse Ihren Glauben irgendwann einmal hinterfragt?

Kuster: Ja, aber das mache ich ständig. Wenn ich Dinge nicht verstehe, dann sage ich das auch. Und ich schicke meine Fragen auch gen Himmel. Was ist das für ein Herrgott, der Millionen von Kindern hungern lässt? Darauf bekomme ich zwar keine Antwort, das weiss ich auch. Aber deshalb muss ich es trotzdem laut sagen.

«In Stockholm wurde er verhaftet. Danach hat er seine Passnummer ändern lassen.»

Ihr Mann ist später wieder auf Reisen gegangen. Und geflogen?

Kuster: Bei der ersten Reise, kurz nach der Entführung, musste er nach Paris. Da hat er den Zug genommen. Als er heimgekommen ist, meinte er aber, das ginge alles viel zu langsam, und so komme er nirgendwo hin. Also ist er wieder geflogen. Auf einer Reise nach Stockholm wurde er bei der Passkontrolle verhaftet. Er musste sich in einem Raum ganz ausziehen und wurde stundenlang befragt.

Die 85-jährige Heidi Kuster neben einem ihrer Bilder.
Die 85-jährige Heidi Kuster neben einem ihrer Bilder.

Das hing auch wieder mit der Entführung zusammen, denn die Terroristen von damals hatten den Geiseln ihre Pässe abgenommen. Mit diesen sind sie dann überall hin geflohen. Mein Mann wurde also mit seinem richtigen Namen für einen gesuchten Terroristen gehalten. Er wurde dann wieder freigelassen, nachdem die Schweizer Botschaft alles aufklären konnte. Danach hat er seine Passnummer ändern lassen.

War es schwer für Sie, Ihren kürzlich verstorbenen Mann bei der Premiere des Films auf der Leinwand zu sehen?

Kuster: Das war nicht so einfach. Am schlimmsten war für mich die Szene, als er in Einsiedeln Abt Urban von dem Pilgerabkommen erzählt. Dann kann er nicht mehr weiterreden, weil ihm die Tränen kommen. Da ist wieder vieles an Emotionen bei mir hochgekommen: Ich habe es erlebt, ich habe es überstanden. Aber es ist nicht weg.

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*Heidi Kuster (85) war lange Kirchenpflegepräsidentin und Präsidentin des Katholischen Frauenvereins in Wädenswil. Norbert Kuster war Kirchenrat, CVP-Präsident von Wädenswil, Stadtrat und Kantonsrat. Er starb mit 87 Jahren im Oktober des vergangenen Jahres.

Norbert Kuster wird im Dokumentarfilm «Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste», nach seinen Erlebnissen befragt. Der Film feierte an den Solothurner Filmtagen Premiere. Am 22. Februar wird er um 20.05 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt, abrufbar ist er zudem auf «SRF play».


Heidi Kuster und ihr verstorbener Mann Norbert. Er war Passagier des Swissair-Flugs 100. | © Sarah Stutte
22. Februar 2024 | 10:00
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