Mitglieder der Gewerkschaft Syna fordern an einer Kundgebung höhere Löhne.
Schweiz

Gewerkschafter Johann Tscherrig: «Noch haben wir den 1. Mai nicht zum Kampftag erklärt»

In vielen Regionen der Schweiz, in denen die Gewerkschaft Syna verwurzelt ist, ist der 1. Mai kein Feiertag. Das sagt Johann Tscherrig (60). Der Gewerkschafter ist Cousin des Schweizer Vatikan-Diplomaten Emil Tscherrig und weiss um das christliche Erbe von Syna: «Wir suchen Lösungen und nicht den Konflikt.»

Barbara Ludwig

Der 1. Mai gilt seit über 100 Jahren als internationaler Kampf- und Feiertag der sozialistischen Arbeiterbewegung – auch in der Schweiz. Dieses Jahr sind laut dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) landesweit über 50 Demonstrationen und Feiern geplant. Im Fokus stünden Kaufkraft und Gleichstellung, schreibt der SGB in einer Mitteilung.

Tag der Arbeit wird wichtiger

«Traditionell ist der 1. Mai für uns nicht der wichtigste Tag», sagt Johann Tscherrig (60), Geschäftsleitungsmitglied der Gewerkschaft Syna, zu kath.ch. Der 1. Mai sei in vielen Regionen, in denen Syna stark verwurzelt ist, kein Feiertag – etwa in der Innerschweiz, im Wallis und weiteren ländlich und eher katholisch geprägten Kantonen.

Johann Tscherrig ist Geschäftsleitungsmitglied der Gewerkschaft Syna.
Johann Tscherrig ist Geschäftsleitungsmitglied der Gewerkschaft Syna.

Doch in den vergangenen Jahren habe sich das etwas verändert. «Der 1. Mai ist auch für uns immer stärker ein Tag, an dem sich die Arbeitnehmerschaft zeigt und auf Missstände aufmerksam macht.»

Zusammenschluss christlicher Verbände

In der Anfangszeit der Syna und bei den alten Gewerkschaften, aus denen sie hervorging, sei das weniger der Fall gewesen als «bei unseren Kollegen der sozialistisch geprägten Gewerkschaften», so Johann Tscherrig mit Blick auf die im SGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften.

Das hat auch mit dem christlichen Erbe von Syna zu tun. Die Gewerkschaft ging 1998 aus der Fusion von vier Gewerkschaften hervor. Die beiden grösseren waren mit rund 36’000 Mitgliedern der Christliche Holz- und Bauarbeiterverband der Schweiz (CHB) und mit 28’000 Mitgliedern der Christliche Metallarbeiterverband (CMV).

In Zürich und Freiburg am 1. Mai auf der Strasse

Die Beteiligung an 1. Mai-Kundgebungen ist noch heute regional unterschiedlich. Den Entscheid darüber wolle man auch künftig den Regionen überlassen. «Noch haben wir den 1. Mai nicht zum Kampftag erklärt», sagt der Gewerkschafter.

Die Gewerkschaft Syna nimmt heute auch an Protest-Kundgebungen teil.
Die Gewerkschaft Syna nimmt heute auch an Protest-Kundgebungen teil.

In Freiburg zum Beispiel macht Syna an einer Kundgebung am Abend auf der Place de l’Hôtel de ville mit, gemeinsam mit anderen Gewerkschaften und politischen Parteien aus dem linken und grünen Spektrum. In Zürich beteiligt sie sich mit einer Gruppe von zirka 20 Mitgliedern am 1. Mai-Umzug, wie der zuständige Gewerkschafter Zijad Abdulai zu kath.ch sagt. Dieser führt am Vormittag vom Helvetia-Platz zum Sechseläuteplatz, auf dem die Abschlusskundgebung mit verschiedenen Reden stattfindet.

Ein Erzbischof und ein Domherr in der Familie

Das christliche Erbe von Syna zeigt sich laut dem Gewerkschafter darin, dass die Gewerkschaft in den ursprünglichen Stammgebieten viele Mitglieder hat, in denen der christliche Glaube noch stark ist: «In der Innerschweiz, im Wallis, im Kanton Freiburg und im Tessin».

Der Walliser Emil Paul Tscherrig ist unter den neuen Kardinälen.
Der Walliser Emil Paul Tscherrig ist unter den neuen Kardinälen.

Johann Tscherrig zählt selber zu den Exponenten von Syna, die noch persönlich im christlichen Glauben verwurzelt sind. «Ja, sicher, ich komme aus dem Oberwallis», antwortet er auf eine entsprechende Frage. Dann lacht er und fügt hinzu: «Mein Cousin Emil Tscherrig ist Erzbischof. Und mein Onkel war Domherr. Ich bin also mit dem katholischen Glauben aufgewachsen.» Erzbischof Emil Tscherrig (76) ist Vatikan-Diplomat. Von 2012 bis 2017 war er Nuntius in Argentinien, heute vertritt er die Interessen des Heiligen Stuhl in Italien.

Das christliche Erbe manifestiere sich zudem noch immer in der Art und Weise, wie Syna ihre Aufgabe erfüllt, sagt Johann Tscherrig. Für Syna stehe der Mensch im Zentrum. «Geht es dem Schwächsten gut, geht es auch der Gesellschaft gut.» Ein weiterer Aspekt sei, dass man als Gewerkschaft den Dialog suche: «Wir suchen Lösungen und nicht den Konflikt.»

«Der Unternehmer ist nicht das Feindbild Nummer eins.»

Johann Tscherrig, Syna-Gewerkschafter

Aus diesem Grund sei für Syna der Unternehmer «nicht das Feindbild Nummer eins», sondern ein Partner, mit dem man Lösungen zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer suche. Klar gebe es auch Arbeitgeber, die ungerecht seien. «Aber bevor wir den Konflikt und den Kampf suchen, wollen wir mit den Arbeitgebern diskutieren.»

Diskussion über das «C» im Namen

Johann Tscherrig betont, dass die Religionszugehörigkeit heute für die Mitgliedschaft keine Rolle spiele. «Das ist kein Kriterium.» Wichtig sei jedoch nach wie vor die christliche Sozialethik als Leitlinie. Das habe sich mit dem neuen Namen «Syna» nicht geändert, den sich die Organisation 1998 nach der Fusion der vier Gewerkschaften gab.

«Es ist nicht matchentscheidend, ob wir das Wort ‘christlich’ im Namen haben»

Johann Tscherrig, Syna-Gewerkschafter

Die Namensfrage sei vor allen in den katholisch geprägten Stammgebieten intensiv diskutiert worden, erzählt der langjährige Gewerkschafter. «Wir fanden dann aber: Es ist nicht matchentscheidend, ob wir das Wort ‘christlich’ im Namen haben, sondern dass wir für die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einstehen.» Der neue Name sollte auch Offenheit symbolisieren und künftigen Anschlüssen weiterer Gewerkschaften nicht im Wege stehen.

«Bedeutung hat heute vor allem: Wie viel verdiene ich?»

Johann Tscherrig findet, um die Würde der Arbeit sei es heute eher schlecht bestellt, vor allem werde die Arbeit von Menschen, die schwere körperliche Tätigkeiten verrichteten, zu wenig geschätzt. «Bedeutung hat heute vor allem: Wie viel verdiene ich? Und nicht: Was mache ich?», kritisiert der Gewerkschafter. Die Wichtigkeit der Arbeit solle nicht nur aufgrund materieller Kriterien beurteilt werden.

Im Swisslos-Fonds hat es viel Geld.
Im Swisslos-Fonds hat es viel Geld.

Die Gewerkschaft Syna feiert dieses Jahr ihren 25. Geburtstag. Sie zählt nach eigenen Angaben mehr als 60’000 Mitglieder, die von 25 Regionalsekretariaten betreut werden. Bei ihrer Gründung 1998 war sie die erste Allbranchengewerkschaft der Schweiz. Die Fusion war eine Antwort auf den Wandel der Arbeitswelt: Viele Menschen bleiben nicht mehr ihr gesamtes Arbeitsleben in derselben Branche oder Region tätig, schreibt Syna auf ihrer Webseite zum 25-Jahr-Jubiläum.

Johann Tscherrig (60) ist Oberwalliser. Seit 28 Jahren ist er Gewerkschafter, zunächst beim Christlichen Holz- und Bauarbeiterverband der Schweiz (CHB), seit 1998 für die Syna. Dort ist er heute Leiter Interessens- und Vertragspolitik.


Mitglieder der Gewerkschaft Syna fordern an einer Kundgebung höhere Löhne. | © zVg
1. Mai 2023 | 05:00
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