Somalische Frauen in der Schweiz
Schweiz

Gespräche gegen eine grausame Tradition

Caritas Schweiz ist Teil des «Netzwerks gegen weibliche Genitalverstümmelung». Bei der Prävention arbeitet Caritas mit Helferinnen aus den einschlägigen Ländern zusammen. Wie sprechen diese mit ihren Landsleuten über ein tabuisiertes und schambehaftetes Thema? 

Ueli Abt

Rund 22’000 Mädchen und Frauen dürften in der Schweiz von Genitalverstümmelung betroffen sein – sei es, dass sie dies bereits erlitten haben, oder dass sie gefährdet sind. Dies ist ein Schätzwert einer Studie von 2019. Gesicherte Daten gibt es keine. «Die Datenlage ist schwierig», sagt Denise Schwegler, Präventionsbeauftragte bei Caritas Schweiz.

In der Schweiz unter Strafe

Seit 2012 stellt die weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz einen eigenen Straftatbestand dar, egal, ob sie hier oder im Ausland ausgeführt wird. Und doch gehen Fachleute davon aus, dass es mindestens bei Gelegenheit, so etwa bei Besuchen im Herkunftsland, weiterhin zu Beschneidungen kommen kann.

Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz engagiert sich für den Schutz von Mädchen vor konkreter Gefährdung (siehe Kasten), aber auch in der Prävention. Am Netzwerk sind nebst dem katholischen Hilfswerk Caritas die Organisationen Terre des Femmes Schweiz, Sexuelle Gesundheit Schweiz und das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte beteiligt. Insbesondere die Community-Arbeit, also die Arbeit mit Angehörigen von Gemeinschaften aus Ländern, wo Genitalverstümmelung praktiziert wird, liegt dabei bei Caritas.

Diskussionen unter Landsleuten anstossen

Das Thema sei bei Immigranten tabuisiert und oftmals sehr schambehaftet, so Schwegler.
Wie spricht man also mit Migrantinnen und Migranten der entsprechenden Länder über das Thema, wie betreibt man Prävention?

Laut Schwegler arbeitet Caritas mit rund 40 sogenannten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zusammen. Diese stammen aus einer Gemeinschaft von Personen aus den einschlägigen Ländern, geniessen eine gewisse Wertschätzung und können unter ihren Landsleuten Diskussionen anstossen.

Leidensweg der Mutter miterlebt

«Es gibt viele Menschen aus jenen Ländern, die sich aktiv in der Prävention gegen Mädchenbeschneidungen engagieren wollen», sagt Denise Schwegler. Diese gehörten keineswegs nur einer jüngeren Generation an. «Es sind einerseits ältere Frauen, die selbst aus eigener Erfahrung sehr genau wissen, mit wieviel Leiden die Verstümmelung verbunden ist.» Jüngere Frauen seien oftmals nicht mehr selbst betroffen, hätten aber den Leidensweg ihrer Mutter miterlebt.

Im Rahmen ihrer Arbeit in ihrer Gemeinschaft laden die Multiplikatorinnen beispielsweise ihre Landsleute zu einer Informationsveranstaltung ein. Meistens geschieht das laut Schwegler unter einem übergeordneten Thema, zum Beispiel «Frauengesundheit», um den Anlass damit niederschwelliger zu machen. Innerhalb dieses generelleren Themas liessen sich dann Fragen zu Beschneidung integrieren. So könnten die Multiplikatorinnen etwa rechtliche Folgen und Hilfsmöglichkeiten thematisieren.

Die Multiplikatorinnen leiteten den Anlass als Moderatorinnen. «Dabei sind sie oftmals auch Dolmetscherinnen, beispielsweise, wenn eine Gynäkologin einen fachlichen Input gibt», so Schwegler.

Wenn die Grossmutter Druck macht

Die Multiplikatorinnen agierten dabei im Auftrag von Caritas, was vertraglich vereinbart werde. Caritas erteilt ihnen dabei vorab auch eine Schulung. Diese umfasse einerseits theoretisches Wissen: physische und psychische Folgen einer Beschneidung, Motive, die rechtliche Situation.

Ausserdem spiele man anhand von Fallbeispielen mögliche Szenarien durch. Beispielsweise könnten Multiplikatorinnen damit konfrontiert sein, dass in der Gemeinschaft eine Mutter äussert, ihr Kind müsse beschnitten werden, die Grossmutter mache Druck. In der Schulung werde trainiert, wie man mit Hilfe von Gegenargumenten auf den Druck reagieren könne.

Somalische Frauen in der Schweiz | © Heike Grasser
6. Februar 2020 | 08:20
Lesezeit: ca. 2 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!

Neuer Leitfaden für Fachkräfte

Nebst der Prävention engagiert sich das «Netzwerk gegen weibliche Genitalverstümmelung Schweiz» auch für den Schutz von akut gefährdeten Mädchen. Beim Erkennen einer solchen Gefährdung spielen Fachkräfte, so etwa Lehrpersonen, eine bedeutende Rolle.

Das folgende Modellbeispiel stammt aus der Praxis der Anlaufstellen des Netzwerks, die unter anderem Fachkräfte beraten: Eine Lehrerin hat von einer ihrer Schülerinnen erfahren, dass diese in den Sommerferien die Grossmutter im Sudan besuchen wird. Die Lehrperson fragt sich, ob die Gefahr einer Beschneidung droht.

Laut Denise Schwegler von Caritas Schweiz sei die Frage typisch. «Die Situation präsentiert sich für die Fachkräfte meist sehr diffus», sagt sie. Im Gespräch mit der Lehrperson versuche man herauszufinden, ob es weitere Hinweise gibt, die auf eine Gefährdung deuten. Möglicherweise könne die Lehrperson in einem Elterngespräch den Verdacht erhärten. Dann sei eine Gefährdungsmeldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) angezeigt.

Um Fachkräfte weiter zu unterstützen, hat das Netzwerk zum internationalen Tag (6. Februar) gegen weibliche Genitalverstümmelung (FGM/C) einen neuen Leitfaden für Fachkräfte lanciert. Die Broschüre nennt unter anderem Indikatoren, die auf eine drohende Beschneidung hindeuten.

122 Anfragen zum Thema Mädchenbeschneidungen gingen im Jahr 2019 bei zwei Anlaufstellen des Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung ein. «Die übrigen regionalen Anlaufstellen führen ihre eigenen Statistiken», sagt Schwegler. Die von der Caritas betriebene nationale Anlaufstelle zähle die Anfragen zusammen mit der Aargauer Anlaufstelle, die man im Aufbau unterstützt habe.  (uab)