Jacqueline Keune

Gedanken zum Sonntag: Von der Liebe überwunden

Zum 31. Dezember, Fest der Heiligen Familie (Lk 2,22–40)

Von der Liebe überwunden

Von Jacqueline Keune*

In Jerusalem lebt eine Prophetin, eine alte Frau, Hanna. Auch der alte Simeon, ein Anwalt der Gerechtigkeit, lebt dort. Die Zeiten sind hart, die Zustände ungerecht, die Kleinen hungrig.

Die beiden Alten leben für ihren Traum von einer Welt, in der alle behütet sind, alle zu essen und zu leben haben. Im Tempel finden sie Trost, und die alten Schriftrollen erinnern, dass der Himmel sie nicht vergessen hat: Einmal wird es sein, flüstern sie ihnen zu, dass der Wolf beim Lamm liegt, aus Schwertern Pflugscharen werden und niemand mehr für den Krieg übt. Einmal wird es sein, dass jede Wunde geheilt, jede Träne getrocknet, die Augen der Blinden und die Zellen der Gefangenen geöffnet und wir alle in Gewänder des Heils gekleidet werden. Dass ein Reis hervorgeht aus dem Stumpf Isais …

Dem alten Mann war auf geheimnisvolle Weise versprochen worden, dass er nicht sterben würde, bevor er dieses Neue mit eigenen Augen geschaut hatte.

Und dann betritt eines Tages dieses arme Paar den Tempel. Simeon sieht, wie der Mann einen Käfig mit zwei Tauben, Opfergaben der kleinen Leute, in der einen Hand hält. Die andere hat er auf den Rücken seiner jungen Frau gelegt, die ein Kindlein auf ihren Armen trägt. Und als Simeon sich über es beugt, da schaut er nicht bloss ein Gesicht, sondern eine Zukunft, und wird von diesem Kind bewegt, dass er seine Arme nach ihm ausstreckt, seine Hoffnung hoch hält und weiss, dass das Warten endlich ein Ende hat. Alles an ihm ist gewiss: Er hielt nicht allein ein Kind in Händen, sondern den Trost Israels – den Messias. Und nicht die Macht der Gewalt, sondern die Ohnmacht der Liebe würde die neue Erde und den neuen Himmel schaffen. Die Liebe dieses Kindes, die von Hanna, die seine und die eines jeden Menschen.

Die Zeiten sind immer noch hart, die Zustände immer noch ungerecht, die Kleinen immer noch hungrig.  Und in Jerusalem warten immer noch eine alte Frau und ein alter Mann. Auch in Hebron und Ramallah. Und in Aleppo und Homs warten immer noch Kinder und wirken immer noch Kriegstreiber. Und in Nordkorea warten immer noch ungezählte Arme, führen immer noch Heere von Soldaten Befehle aus und lachen immer noch Machthaber, die sich einen Dreck um das Recht scheren. Und auch in Somalia warten immer noch Hunderttausende, die irgendwo verzweifelt Schutz zu finden versuchen, und spüren immer noch Menschenhändler die dicken Bündel von Dollarnoten in ihren Hosentaschen.

Und wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann dies: dass ihnen und uns allen die junge Frau den kleinen Messias für ein paar Sekunden in die Arme legen und wir alle von der Macht der Liebe überwunden und verwandelt würden.

Jacqueline Keune ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.

Jacqueline Keune | © zVg
30. Dezember 2017 | 09:40
Lesezeit: ca. 2 Min.
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