Papst Franziskus spricht beim Gebetstreffen vom 8. September 2017 zur nationalen Versöhnung in Villavicencio.
International

Franziskus begegnet Opfern und Tätern des Bürgerkriegs in Kolumbien

Bogota, 9.9.17 (kath.ch) Der Respekt vor der wohl schwierigsten Aufgabe der Kolumbien-Reise war Papst Franziskus schon zu Beginn des Tages in Villavicencio anzusehen. Vorsichtig, fast bedächtig arbeitete sich das aus Argentinien stammende Kirchenoberhaupt durch einen Tag, auf den er selbst und die meisten Kolumbianer gewartet hatten. Nichts ist heikler, nichts ist auch gefährlicher für einen ausländischen Gast, als sich durch das Minenfeld der Gefühle nach fünf Jahrzehnten Bürgerkrieg zu tasten. Ein falsches Wort, eine falsche Geste und es werden Wunden aufgerissen, Gefühle verletzt, Vertrauen zerstört.

Tobias Käufer

Kolumbien hat genau hingeschaut und zugehört am Freitag, als sich der Papst an die Aufgabe wagte, das Land miteinander zu versöhnen. Jenes Lager, das den Friedensprozess mit der FARC-Guerilla unterstützt und jenes, das ihm sehr kritisch gegenübersteht, weil es eine Amnestie für die Guerilla-Bosse ablehnt.

Geschichten von Tod und Schmerz

Doch zunächst einmal hört der Papst zu. Den bewegenden Geschichten von vier Kolumbianern. Jener von Pastora Mira Garcia, deren Vater, Ehemann und beide Kinder von Paramilitärs getötet wurden. Sie berichtete den bedrückt schweigenden Zuhörern während des grossen Versöhnungstreffens am Freitagnachmittag (Ortszeit) von dem jungen Mann, der sich verwundet zu ihrem Haus schleppte, drei Tage nachdem ihr Sohn Jorge Anibal von Paramilitärs getötet wurde.

Obwohl sie noch voller Trauer war, öffnete sie die Tür und bot dem Verletzten das verwaiste Bett an. Doch der Verwundete erkannte auf Bildern im Haus den ermordeten Sohn und gestand der trauernden Mutter, dass er zu jenen Männern gehört hatte, die ihn gefoltert und umgebracht hatten. Die Mutter entschied, dem Verwundeten zu helfen, trotz ihres Schmerzes.

Franziskus hört auch die Geschichte von Luz Dary Landazury, deren Bein von einer Mine zerfetzt wurde und in deren Körper sich die Bombensplitter bohrten. Überlebt habe sie damals nur, weil sie an ihre siebenjährige Tochter gedacht habe, sagt sie. Der Papst hört die Geschichten eines Ex-Guerilla-Kämpfers und einer ehemaligen Angehörigen der Paramilitärs, die berichten, wie sie in die Gewalt abglitten. Franziskus hört Kolumbiens Drama – erzählt in vier Akten.

Worte des Papstes bewegen zu Tränen

Anschliessend wagt sich der Papst auf das Minenfeld der Aufarbeitung, bleibt unparteiisch und doch verbindlich. «Wahrheit heisst, den vom Schmerz zerstörten Familien zu berichten, was mit ihren vermissten Angehörigen geschehen ist», sagt er in den stillen Saal voller Opfer und Täter hinein. Noch immer ist in Kolumbien das Schicksal tausender Vermisster ungeklärt. «Wahrheit heisst, das zu bekennen, was den von den Gewalttätern angeworbenen Minderjährigen passiert ist. Wahrheit heisst, den Schmerz der Frauen anzuerkennen, die Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden sind.»

Wahrheit heisst, den vom Schmerz zerstörten Familien zu berichten, was mit ihren vermissten Angehörigen geschehen ist

Für diese Sätze bekommt er Beifall. Längst haben die meisten Menschen vorne auf dem Podium und unten im Saal Tränen in den Augen. Die Aufarbeitung des Konfliktes, der Gewalt und Ungerechtigkeit ist die wahre Mammutaufgabe des Friedensprozesses – der Mut zur Wahrheit nur ein erster Schritt.

Christus-Figur wurde bei Massaker in Kirche verstümmelt

Vielleicht wird das «Kreuz von Bojaya» das Symbol dieses Prozesses. Der Papst segnete den verstümmelten Körper der Christus-Figur. «Wir haben uns zu Füssen des Kruzifixes von Bojaya versammelt, das am 2. Mai 2002 das Gemetzel an Dutzenden von Menschen, die in der Kirche Zuflucht genommen hatten, erleben und erleiden musste», wagt Franziskus einen Ausflug in die blutige kolumbianische Geschichte.

Damals feuerten Guerilla-Kämpfer Gasgranaten auf paramilitärische Einheiten. Zwischen den Fronten lag die Kirche, in die sich zahlreiche Zivilisten geflüchtet hatten. Doch die Granaten verfehlten ihr eigentliches Ziel, trafen stattdessen das Gotteshaus und die Menschen, die auf den Schutz des Kirchendaches gehofft hatten. Fast 120 Menschen starben, darunter etwa 50 Kinder. Das Blutbad ging als Massaker von Bojaya in die Geschichte ein. Dem Korpus des Kruzifixes wurden damals beide Beine und beide Arme abgerissen.

Ein erschöpfter Papst

«Christus so zu sehen, verstümmelt und verwundet, ist ein Weckruf an uns», sagte der Papst. «Er hat keine Arme mehr und sein Leib ist nicht mehr vorhanden, aber er bewahrt sein Antlitz und mit ihm schaut er uns an und liebt uns.» Wieder Applaus, wieder Tränen bei den Zuhörern. Am Ende des Tages wirkt der Papst erschöpft. Der Ausflug in die kolumbianische Geschichte hat ihn mitgenommen. Und spätestens jetzt beginnt er zu ahnen, was dem Land noch bevorsteht. (kna)


Am Samstagvormittag (mitteleuropäische Zeit, 17.15 Uhr) feiert Papst Franziskus auf dem Flughafengelände von Medellin eine Messe, zu der Hunderttausende Menschen erwartet werden. Radio Vatikan überträgt die Messe live.

 

 

Papst Franziskus spricht beim Gebetstreffen vom 8. September 2017 zur nationalen Versöhnung in Villavicencio. | © KNA
9. September 2017 | 12:53
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