Feline Tecklenburg vertritt den Ansatz "Wirtschaft ist Care"
Story der Woche

Feline Tecklenburg: «Das WEF ist eine private Lobbying-Veranstaltung»

Die Wirtschaftsleader in Davos sollten selbstkritisch über die Rolle der Wirtschaft im Ukraine-Krieg diskutieren, sagt die feministische Ökonomin und Co-Geschäftsstellenleiterin von «Wirtschaft ist Care». Sie fordert eine Wirtschaft, die sich für das gute Leben für alle einsetzt. Und sie stellt die Legitimität des WEF infrage.

Regula Pfeifer

Finden Sie es richtig, dass am World Economic Forum (WEF) der Ukraine-Krieg so wichtig ist?

Feline Tecklenburg: Es ist richtig, dass der Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine auch in Davos verurteilt wird. Allerdings bezweifle ich, dass das WEF der angemessene Ort ist, darüber zu verhandeln.

Weshalb?

Tecklenburg: Das WEF ist eine privat organisierte Lobby-Veranstaltung. Es ist nicht demokratisch legitimiert. Deshalb kann es nicht die Rolle von internationalen Gremien übernehmen.

Als wirtschaftliche Frage wurde diskutiert, ob russische Gelder für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden dürfen.

Tecklenburg: Eine solche Frage muss in der UNO oder beim internationalen Strafgerichtshof in Den Haag entschieden werden. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock setzt sich zurzeit dafür ein, dass in Den Haag ein internationales Sondertribunal eingerichtet wird.

«Es braucht eine Diskussion darüber, wie diese Kriegsmaschinerie überhaupt ermöglicht wird.»

Welche Wirtschaftsfragen sollten die Leader in Davos angehen?

Tecklenburg: Die Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft, die dort präsent sind, sollten selbstkritisch darüber diskutieren, wie diese Kriegsmaschinerie ermöglicht wird. Und welche Rolle die Wirtschaft dabei spielt. Etwa: Was trägt die Produktion von Kriegsmaterial dazu bei, dass der Krieg überhaupt stattfindet und weitergeführt wird?

Inwiefern trägt die Wirtschaft eine Mitschuld?

Tecklenburg: Es gibt weiterhin Unternehmen, die Waffen für Russland produzieren, aus geopolitischen und profit-orientierten Gründen. Dabei ist es die Aufgabe der Wirtschaft, eine bedürfnisorientierte Verteilung der menschlichen und natürlichen Ressourcen zu bewerkstelligen und diese zu bewahren. Die feministische Ökonomie hat da einen klaren Ansatz.

Für eine andere Wirtschaft wirbt die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Davos.
Für eine andere Wirtschaft wirbt die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Davos.

Was sagt die feministische Ökonomie?

Tecklenburg: Die feministische Ökonomie wirft der bestehenden Wirtschaftsordnung vor, dass sie die Sorgearbeit bewusst vollständig missachtet. Denn sie braucht die kostenlose Sorgearbeit im Hintergrund, um Profite machen zu können. Und das hat Folgen.

Was für Folgen?

Tecklenburg: «No care, no peace»: Dieses Fazit zieht eine Studie, die der Christliche Friedensdienst (CFD), die Schweizer Plattform für Friedensförderung KOFF und die Organisation Peace Women Worldwide unlängst publiziert haben. Also: Ohne Beachtung der Sorgearbeit wird es keinen Frieden geben. Dieser Meinung bin ich auch.

«In der Ukraine zeigt sich: Sorgearbeit hält das Land und die Menschen am Leben.»

Wo zeigt sich das im Ukraine-Krieg?

Tecklenburg: In der Ukraine zeigt sich: Sorgearbeit findet auch unter widrigsten Umständen statt. Sie hält das Land und die Menschen am Leben. Das scheint auch die russische Militärführung so zu sehen. Sie greift gezielt die Wasser- und Stromversorgung an und verunmöglicht so die Sorgearbeit. Aber genau darüber wird in Davos viel zu wenig diskutiert.

Welche Wirtschaftsfrage müsste das WEF angehen?

Tecklenburg: Angenommen, das WEF wäre nicht das WEF, sondern ein demokratisch legitimierter, internationaler Wirtschafts-Gipfel, dann müsste es die Frage angehen: Was kann die Wirtschaft für ein gutes Leben für alle beitragen? Selbstredend unter Berücksichtigung der begrenzten Ressourcen auf unserem Planeten und bei uns Menschen. Es braucht ein Ende der Wachstumsspirale, der Ausbeutung und des Profitstrebens. Denn darunter leiden nicht nur die Menschen, sondern auch die Natur und das Klima.

Care-Arbeit: Pflege bedürftiger Menschen
Care-Arbeit: Pflege bedürftiger Menschen

Das WEF-Motto nimmt soziale Probleme auf: «Zusammenarbeit in einer zersplitterten Welt».

Tecklenburg: Dieses Motto mutet für mich zynisch an. Denn gerade in Davos sind viele reiche, privilegierte Männer vor Ort, die eben genau für die Zersplitterung der Welt mitverantwortlich sind.

Haben Sie auch Gutes vernommen?

Tecklenburg: Ja, schon. Gefallen hat mir das Votum des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez am Mittwoch. Er sagte: Alle wüssten, dass das weltweite Wirtschaftssystem unfair sei. Es müsse dringend korrigiert werden. Ein neues System des «Wellbeing» müsse aufgebaut werden.

Sie fordern Klimagerechtigkeit: "Strike for Future"-Aktion am 21. Mai in Bern.
Sie fordern Klimagerechtigkeit: "Strike for Future"-Aktion am 21. Mai in Bern.

Und sonst?

Tecklenburg: Im Übrigen engagieren sich hauptsächlich Nonprofit-Organisationen für einen Wandel in die richtige Richtung. So kritisierte die Klimabewegung «Fridays for Future» die CEOs der grossen Ölkonzerne in einem offenen Brief: Sie konzentrierten sich nur auf den Profit – die schlimmen Folgen davon seien ihnen seit langem bekannt. Nun müssten sie sofort handeln.

«Schweizer Politikerinnen und Politiker könnten das WEF boykottieren.»

Was könnte die Schweiz unternehmen?

Tecklenburg: Die Situation betrifft nicht nur die Schweiz, sondern die ganze Welt. Doch die Schweiz könnte durchaus am WEF Einfluss nehmen. Etwa, indem ihre Politikerinnen und Politiker das WEF selbst infrage stellen. Sie könnten sich zusammentun und die private Lobbying-Veranstaltung boykottieren. Oder sie könnten politisch dagegen vorgehen, dass der Staat die enormen Sicherheitskosten übernimmt, die das WEF verursacht.

Das tun sie bisher offenbar nicht…

Tecklenburg: Natürlich, denn Davos ist weltweit in aller Munde. Das ist auch eine grosse Image-Veranstaltung für die Schweiz.

Männer geschäftig unterwegs: WEF in Davos, 2023
Männer geschäftig unterwegs: WEF in Davos, 2023

Weshalb bringen die Top-Frauen am WEF den Wirtschaftsansatz der Sorgearbeit nicht ein, etwa die deutsche EU-Politikerin Ursula von der Leyen?

Tecklenburg: WEF-Kritikerinnen und -Kritiker reden vom «Davos Man». Sie problematisieren damit das Geschlechterverhältnis an diesem Top-Event. Die Mehrheit der Teilnehmenden sind reiche Männer über 50, die als rationale Entscheidungsträger dargestellt werden. Die Frauen, die dabei sind, haben sich im herrschenden System nach oben gekämpft und sind damit häufig das weibliche Pendant dieser Männer.

«Frauen, die hauptsächlich Sorgearbeit leisten, fehlen am WEF.»

Frauen, die hauptsächlich Sorgearbeit leisten und wegen fehlender Betreuungsangebote oft keine Karriere machen können, fehlen. Ihre Anliegen kommen nicht vor.

Der Vatikan ist dieses Jahr nicht vertreten.

Tecklenburg: Das habe ich erfahren, allerdings nicht, welche Gründe er dafür hat. Es wäre schön, wenn es eine Art Boykott wäre. Das würde jedenfalls passen zu den politischen Aussagen, die Papst Franziskus immer wieder äussert.

Papst Franziskus mit ukrainischer Fahne bei einer Generalaudienz auf dem Petersplatz.
Papst Franziskus mit ukrainischer Fahne bei einer Generalaudienz auf dem Petersplatz.

Welche Rolle könnten kirchliche Gemeinschaften am WEF einnehmen?

Tecklenburg: Sie könnten dezidierte Forderungen stellen. Etwa: Es gibt keinen Frieden ohne Berücksichtigung der Care-Arbeit. Das würde die ökumenische Frauensynode der Schweiz sicher sagen, die ich vor ein paar Jahren mitorganisiert habe. In den kirchlichen Basisgemeinschaften gibt es viel «Women and Men Power». Das sind wunderbare Orte, um zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle auf lokaler Ebene zu proben.

*Feline Tecklenburg (30) ist Co-Vorständin und Co-Geschäftsstellenleiterin der Denk- und Handlungswerkstatt «Wirtschaft ist Care» (WIC) mit Sitz in St. Gallen und Freiburg (D). Parallel dazu promoviert sie zur Rolle der Care-Ökonomie in zukunftsfähigen Wirtschaftsmodellen. Im Frühjahr erscheint der Sammelband «Wirtschaft neu ausrichten. Care-Initiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz», den sie gemeinsam mit Uta Meier-Gräwe und Ina Praetorius herausgibt. 2020/21 war sie Co-Projektleiterin der Siebten Schweizer Frauen*synode Wirtschaft ist Care.


Feline Tecklenburg vertritt den Ansatz «Wirtschaft ist Care» | © Philipp Wilson
20. Januar 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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