Family Archive, Alba Zari, aus der Serie «Occult», 2019–
Religion anders

Familiäres jenseits fixer Rollen: Die Fotoausstellung «Wahlfamilie» in Winterthur

Maria, Josef und das Kind – die heilige Familie ist komplexer, als sie scheint. Und auch heute noch beschäftigen sich Künstlerinnen und Künstler mit mit ihren und anderen Familien und Wahlfamilien, wie die Ausstellung «Wahlfamilie. Zusammen weniger allein» im Fotomuseum Winterthur zeigt.

Natalie Fritz

Kürzlich hat sich der Oberste Gerichtshof in den Vereinigten Staaten, der Supreme Court, in die wohl privateste Lebensentscheidung der Amerikanerinnen und Amerikaner eingemischt: in die Familienplanung. Abtreibung, Fortpflanzungsmedizin und die damit verbundenen Geschlechterrollen sind hochemotionale Themen, die die politische Agenda – nicht nur in den USA – immer öfter prägen. Insbesondere wenn es um eine kritische Neu-Bewertung der «klassischen Klein-Familie» geht, fühlen sich konservative Kräfte aus Politik und Religion herausgefordert.

Heilige Familie mit Johannes, 1720–1726, Michel-Ange Houasse, Museo del Prado, gemeinfrei
Heilige Familie mit Johannes, 1720–1726, Michel-Ange Houasse, Museo del Prado, gemeinfrei

Dysfunktionales Vorbild: Heilige Familie?!

Konservative Politikerinnen und Pro-Life-Aktivisten argumentieren mit der wortwörtlichen Auslegung der Bibel, um Mann und Frau in ihren «vorbestimmten» Funktionen zu bestätigen und verweisen auf die Heilige Familie als Lebens-Ideal. Wie Maria, Josef und Jesus in Harmonie und Liebe vereint, so vorbildlich soll auch die menschliche Lebensgemeinschaft sein.

Dies, obwohl die Heilige Familie bei genauerer Betrachtung ein nicht umsetzbares und vor allem diverses Familienmodell mit zwei Vätern und einer jungfräulichen Mutter vorlebt. Vom Sohn, der sich eine neue Lebensgemeinschaft mit Gleichgesinnten – eine Wahlfamilie – aufbaut, ganz zu schweigen. Vor diesem Hintergrund ist ein Rundgang durch die aktuelle Ausstellung «Wahlfamilie» im Fotomuseum Winterthur ein wortwörtlicher Augenöffner: Denn religiöse Normen und Idealvorstellungen prägen unser Familien- und Rollenbild bis heute.

Wie uns die Familie prägt

Was ist Familie? Wer gehört dazu? Wie zeige ich sie? «Wahlfamilie» beleuchtet diese Fragen anhand der Werke zeitgenössischer Fotografinnen und Fotografen sowie persönlicher Fotoalben. Die Kunstschaffenden gehen mit ihren Familienbildern den Fragen der Herkunft, der Identität, und der eigenen Rolle im familiären Zusammenleben nach.

«It’s Never Been Easy to Carry You», Pixy Liao, 2013, aus der Serie «Experimental Relationship», 2007–
«It’s Never Been Easy to Carry You», Pixy Liao, 2013, aus der Serie «Experimental Relationship», 2007–

Die chinesische Künstlerin Pixy Liao etwa unterwandert mit ihren Paar-Selfies stereotype Geschlechterrollen. Ihren Liebsten inszeniert sie meist nackt und verletzlich, sich selbst bekleidet und als buchstäblich «tragende Figur».

Man könnte die Fotografie «It’s Never Been Easy to carry You» auch als Neuinterpretation der Pietà auffassen. Die Frage hier wäre: Mit wem muss man Mitleid haben? Damit regt sie die Betrachtenden zum Nachdenken an – über die Normen des (wahl-)familiären Zusammenlebens, woher sie kommen und wie sie uns prägen.

Auch die Schwarz-weiss-Fotografien der indischen Fotografin Dayanita Singh beschäftigen sich mit Identität und der Gemeinschaft, die sie formt. Im Bilderzyklus «The Third Sex Portfolio» portraitiert Singh Hijra Mona Ahmed. Als Hijra werden in Indien Menschen bezeichnet, die dem «dritten Geschlecht» angehören, also intersexuelle oder Transgenderpersonen sind. Manche von ihnen sind Eunuchen.

I get this strong urge to dance from within. Ayesha’s second birthday, Dayanita Singh, 1991,
aus der Serie «The Third Sex Portfolio», 1989–1999
I get this strong urge to dance from within. Ayesha’s second birthday, Dayanita Singh, 1991, aus der Serie «The Third Sex Portfolio», 1989–1999

Die Fotojournalistin Singh ermöglicht tiefe Einblicke in den Alltag der Hijra, die meist am Rande der Gesellschaft in Armut leben. Dies, obwohl sie einst bei religiösen Ritualen eine wichtige Rolle einnahmen, Segen spendeten und tanzten. Die Hijragemeinschaften sind familienähnlich aufgebaut, durch die Aufnahme junger Transgendermenschen verjüngen sie sich.

Mit ihren Fotografien zeigt Singh, wie Menschen, die wegen ihrer Geschlechtsidentität von ihren Herkunftsfamilien verstossen wurden, in der Gemeinschaft der Hijra eine neue Familie gefunden haben.

On his arrival each eunuch was greeted by me with garland of jasmine
flowers. Ayesha’s first birthday, Dayanita Singh, 1990, aus der Serie «The Third Sex Portfolio», 1989–1999
On his arrival each eunuch was greeted by me with garland of jasmine flowers. Ayesha’s first birthday, Dayanita Singh, 1990, aus der Serie «The Third Sex Portfolio», 1989–1999

Rollen und Muster

Der US-amerikanische Modefotograf Charlie Engman hingegen erforschte während zehn Jahren die symbiotische Beziehung zu seiner Mutter mit der Kamera. Fotografisch erkundet er, was Mutterschaft in der eigenen Familie und in der Gesellschaft bedeutet und wie sie inszeniert wird.

Charlie Engman, aus der Serie MOM, 2009–. Installationsansicht Wahlfamilie – Zusammen weniger allein, Fotomuseum Winterthur
Charlie Engman, aus der Serie MOM, 2009–. Installationsansicht Wahlfamilie – Zusammen weniger allein, Fotomuseum Winterthur

Welche Rollenzuschreibungen existieren, wenn es um Mütter geht? Darf die «heilige Mutter» auch als sexuelles Wesen gezeigt werden? Was bedeuten Opferbereitschaft und Macht, wenn man jemanden liebt? Was bedeutet Abhängigkeit und wie will man an geliebte Menschen erinnern?

Engmans Fotografien zeigen seine Mutter in unterschiedlichen Posen und bei verschiedenen Tätigkeiten, geschminkt und in Designerkleidern oder nackt und verletzlich. Die Bilder dokumentieren mit einem Augenzwinkern die verschiedenen Facetten dieser Frau, die viel mehr als «nur» Engmans Mutter ist.

Mom in the Fields, Charlie Engman, 2014, aus der Serie MOM, 2009–
Mom in the Fields, Charlie Engman, 2014, aus der Serie MOM, 2009–
Baseball Mom, Charlie Engman, 2017, aus der Serie MOM, 2009–
Baseball Mom, Charlie Engman, 2017, aus der Serie MOM, 2009–

Rekonstruierte Herkunft

Die Bilder der italienischen Künstlerin Alba Zari und des südafrikanischen Fotografen Lindokuhle Sobekwa sind Versuche, ihre eigenen Familien zu rekonstruieren. Zari wurde in die religiöse Gemeinschaft der «Children of God» (Die Familie) hineingeboren. Die Gemeinschaft wurde vom Amerikaner David Berg, alias «Moses» oder «Dad», 1968 gegründet. Biologische Familien, die eintraten, riss man auseinander, weil es neben der «Familie» keine andere geben durfte.

Family Archive, Alba Zari, aus der Serie «Occult», 2019–
Family Archive, Alba Zari, aus der Serie «Occult», 2019–

Zari hat ihren biologischen Vater nie kennengelernt. Die Abwesenheit des Vaters treibt sie bis heute um. Die Bilder aus ihrem Familienalbum sind so ausgeschnitten, dass sie Platz aussparen für den fehlenden Vater…

Auch Sobekwa versucht mit seinen Bildern seine Herkunftsfamilie zu rekonstruieren. Seine ältere Schwester verschwand, nachdem Sobekwa einen Unfall unter ihrer Aufsicht hatte. Sie war 13 Jahre alt. Mehr als zehn Jahre vergingen, bis sie wieder auftauchte und kurz danach starb. Ihr Verschwinden und ihre Abwesenheit wurden zum Tabuthema in Sobekwas Familie.

I carry Her photo with Me, Lindokuhle Sobekwa, 2017. Artist book scan p3-4; 2014/2018
I carry Her photo with Me, Lindokuhle Sobekwa, 2017. Artist book scan p3-4; 2014/2018

Als der Fotograf ein Familienbild in die Hände bekam, auf dem der Kopf seiner Schwester ausgeschnitten ist, machte er sich auf Spurensuche. Er stiess dabei auf eine verschworene Gemeinschaft von jungen Frauen am Rande der Gesellschaft.

In der Winterthurer Ausstellung fügen sich die Werke der verschiedenen Künstlerinnen und Künstler zu einem multiperspektivischen Blick auf das Thema Familie. Ein berührendes, komisches, tragisches und anregendes Mosaik an fotografischen Momentaufnahmen, festgehalten – auf Papier oder der Speicherkarte – für die Ewigkeit, wie lange sie auch dauern mag.


Family Archive, Alba Zari, aus der Serie «Occult», 2019– | © Fotomuseum Winterthur/Alba Zari
9. Juli 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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Wahlfamilie. Zusammen weniger allein

Die Ausstellung «Wahlfamilie. Zusammen weniger allein» ist bis zum 16. Oktober 2022 im Fotomuseum Winterthur zu sehen. Nebst den genannten Künstlerinnen und Künstlern werden auch Arbeiten von Nan Goldin, Richard Billingham oder Mark Morrisroe gezeigt. «Wahlfamilien» wurde kuratiert von Nadine Wietlisbach mit Unterstützung von Katrin Bauer. Begleitend zur Ausstellung ist eine Publikation mit dem Titel «WahlFamilie – Zusammen weniger allein« erhältlich. (nf)