Urban Fritsche mit der Rauchpfanne
Schweiz

Familie Fritsche startet mit der Räuchlipfanne ins neue Jahr

Appenzell, 5.1.19 (kath.ch) An Heiligabend, Silvester und am Dreikönigsabend duftet es in Appenzell Innerrhoden vielerorts nach Weihrauch. Auch Familie Fritsche räuchelt in Haslen ihr Haus. Und auf dem Estrich wartet eine geheimnisvolle Schachtel auf Besucher. Eine Reportage vor Ort.

Vera Rüttimann

Mit der Räuchlipfanne wird an diesem Silvesterabend «g’räuchlet». Es ist ein besonderes Ritual: Urban Fritsche entzündet in der Garage seines Hauses in Haslen die Kohlentabletten. Als die Glut zu glimmen beginnt, streut er bernsteinfarbene Weihrauchkörner darüber. Sofort steigt ihm ein fein schmeckender, wohlig vertrauter Duft in die Nase.

Mit der Pfanne ums Haus und in die Zimmer

In der Zeit des Einnachtens, wo anderswo Bauern ihre Kühe melken und füttern, geht Urban Fritsche mit der qualmenden Pfanne zunächst um das Haus. Mit schwenkenden Bewegungen geht er danach durch jedes einzelne Zimmer des Hauses, so dass sich der dichte, duftende Rauch überall verbreitet. Auch das Schlafzimmer der Kinder erhält eine kräftige Dosis ab. Urban Fritsche schweigt bei diesem Ritual und ist jetzt ganz bei sich.

Nachdem Urban Fritsche alle Zimmer mit der rauchenden Pfanne besucht hat, gesellt er sich an den grossen Tisch im Wohnzimmer, an dem seine Frau Brigitte und die Kinder Fabian, Andrina, Lorena und Dario sitzen. Der 45-Jährige, der als Spediteur in Appenzell arbeitet, klärt seine Kinder über den Ursprung des Räuchle-Rituals auf.

Rauch sollte einst Dämonen vertreiben

Sie erfahren von ihm, dass diese Tradition ursprünglich ein heidnischer Brauch ist. Dass in vorchristlicher Zeit das Räuchle dazu diente, Dämonen zu vertreiben. Untote und verlorene Seelen, die ihr Unwesen treiben. In den zwölf Raunächten um die Wintersonnenwende soll der Rauch Haus und Hof schützen. Heute sei das Rauch-Ritual eher ein Ausdruck christlicher Weihe.

Urban Fritsche fühlt sich in dieser Nacht zurückversetzt in seine Kindheit. Schon in seinem Elternhaus in Schlatt, das unweit von Haslen liegt, wurde geräuchert. Er erinnert sich an die Pyramide aus Kohlestücken, die seine Mutter jeweils anzündete, um zu räucheln.

Bauern gingen auch in den Stall

An die Bauern in der Region, die mit der Pfanne ums Haus und in den Stall zu den Tieren ging, während drinnen im Haus der Psalter gegen «Öbel ond Oofall» (Übel und Unfall) gebetet wurde. Er erinnert sich noch immer an den speziellen Duft: «Die Holzkohle war mit Lorbeeren, Tannenzweigen und Harzkörnern bestückt.»

Wichtig ist Urban Fritsche der Umstand, dass es ist nicht das Ritual und den Gebetstext zum Räuchle-Ritual gebe. «Jeder macht es auf seine Art. Auch ich habe für mich meine eigene Stimme und Worte dazu gefunden.» Er weiss nicht, wie stark verbreitet der Brauch in seiner Region noch ist. «Die Leute machen das privat für sich. Die meisten Appenzeller gehen mit diesem Brauch nicht nach aussen hausieren», sagt er.

«Die Leute machen das privat für sich.»

Während Familie Fritsche zu Hause räuchelt, gehen in Appenzell Ministranten mit den Rauchfässern von Haus zu Haus. Sie werden von den einzelnen Familien bewusst zu sich bestellt. Fabian, der schon einmal dabei war, sagt: «Ich war stolz, dass ich das machen konnte.»

Katholisch-Innerrhoden feiern anders Silvester als Reformiert-Ausserrhoden. Dort ziehen morgens um fünf Männer und Kinder jeweils in Gruppen mit umgehängten Glocken und tellerförmigen Hüten um Häuser und Höfe. Zum «Silvesterchlausen», wie der Brauch heisst, haben die Fritsches wenig Bezug, weil sie, wie sie betonen, ihre eigenen Bräuche zum Jahreswechsel feiern.

Käsefladen, Friedenstauben und ein Holztrichter

Brigitte und Urban Fritsche sind beide in ländlichen Gegenden im Appenzell aufgewachsen, in denen das Brauchtum schon im Elternhaus gepflegt wurde. Wenn man über das Räuchle-Ritual spreche, so Brigitte Fritsche, komme man nicht umhin, auch über andere Bräuche in ihrer Region zu reden. Die gelernte Bäcker-Konditorin stellt neben das kleine Weihrauchfass einen speziellen Käsefladen und eine «Tafel-Vögel» auf den Tisch. Die leckere Appenzeller Zopfteigspezialität in Form von Friedenstauben wird traditionell zu den Festtagen aufgetischt.

«Das Brauchtum in der Region meinen Kindern weiter geben»

Auf dem I-Pad zeigt sie zudem Fotos, die sie mit ihrer Tracht auf dem Landgemeindeplatz in Appenzell zeigt. Besonders an hohen katholischen Festtagen wie Bettag, Auffahrt, Pfingsten, Fronleichnam und Maria Himmelfahrt ziehe sie beim Gottesdienst in der katholischen Kirche in Appenzell ihre Tracht an.

Alle hohen Festtage und auch das Räuchle-Ritual erlebe sie gemeinsam mit ihren Kindern mit. Die 36-Jährige sagt: «Mir ist wichtig, dass ich das Brauchtum in dieser Region meinen Kindern weiter geben kann.» Urban Fritsche wiederum legt einen Holztrichter auf den Tisch, der ihm viel bedeutet. Als er ein Junge war, sei er mit Vater oft auf die Alp mitgezogen, wo der Senn jeden Abend sein Alpgebet ausgerufen habe.

Die «heilige» Schachtel

Auch die Grossmutter von Brigitte Fritsche, in deren Haus die Familie heute lebt, pflegte das katholische Brauchtum der Region. «Wie es früher üblich war, hing in jedem Herrgottswinkel ein Kreuz. Als das Haus geräumt wurde, kam da einiges zusammen», erzählt Brigitte Fritsche und lacht, während sie mit Schwung die Lucke zum Estrich aufstösst. Auf allen Vieren kriecht sie zu einer Kiste. Staub fliegt auf.

All die Kruzifixe, Votivtafeln und Marien-Bildchen kamen in die «heilige Schachtel», wie Brigitte Fritsche die Erinnerungsbox an die geliebte Grossmutter nennt. Sie ist eine Art Zeitkapsel. Die religiösen Devotionalien muten wie ein Blick in eine längs versunkene Zeit an, als der Katholizismus noch den Rhythmus des Alltages bestimmte. Die Sachen in der Kiste, betont Urban Fritsche, sollen jedoch dort nicht auf ewig verstauben, sondern in den Zimmern des Hauses wieder einen Platz finden.

Wärme und Zusammenhalt

Es ist kälter geworden draussen. Der Wind rüttelt an den Läden. Vergnügt sitzt Familie Fritsche nach dem Räuchle-Ritual bei Käsefladen, Butter und Kaffee am grossen Esstisch im Wohnzimmer zusammen. Urban Fritsche sinniert darüber nach, wie jetzt im Winter die Pflanzen ihre Säfte zurückziehen und das biologische Leben stillsteht. Die Tage zwischen den Jahren seien auch für den Menschen eine gute Zeit, in sich zu gehen, sagt der naturverbundene Appenzeller. «Die Nächte sind lang, und die Tage bringen durch den Nebel manchmal nur wenig Licht.»

Mit dem Gast kommt die Familie auch ins Sinnieren darüber, weshalb sich Bräuche wie das Räuchle-Ritual so gut halten und auch von Jugendlichen immer wieder neu entdeckt werden. Brigitte Fritsche ist sich sicher: «Alte Bräuche erzeugen Wärme und Zusammenhalt.» Für ihren Mann Urban haben Bräuche wie das Räuchle im Laufe seines Lebens eine immer grössere Bedeutung erhalten. Oftmals dann, wenn es einen an Grenzen führt. Er sagt: «Wenn ich meine eigenen Wurzeln pflege, finde ich darin Zuflucht und Zuversicht.»

Urban Fritsche mit der Rauchpfanne | © Vera Rüttimann
5. Januar 2019 | 15:37
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«Zwischen den Jahren»

Der landläufige Begriff «zwischen den Jahren» bezeichnet die Tage zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag am 6. Januar. Dieser Zeitraum dient traditionell Besinnung und Ausblick. In ländlichen Regionen waren in diesen Tagen teils bis weit ins 20. Jahrhundert bestimmte Tätigkeiten verpönt. Die Häuser wurden «ausgeräuchert», also mit Weihrauch und Weihwasser neu gegen Böses gewappnet.

Man vermied etwa Misten, Spinnen und Nähen und vor allem alles Waschen von Leinen: Ist zu Neujahr Wäsche aufgehängt, könnten böse Geister sie als Leichentücher für das beginnende Jahr nutzen – Unglück schien dann programmiert.

Doch wie kam es zu der mystischen Lücke «zwischen den Jahren»? In der Spätantike rumpelte es beim Übergang zwischen römischer Verwaltung und aufsteigendem Christentum. Im Jahr 153 verlegten die Kaiser den weltlichen Jahresbeginn im Reich vom 1. März auf den 1. Januar. Eine Kollision entstand, als die Christen begannen, das Weihnachtsfest zum Höhepunkt im Kirchenjahr zu erklären.

Tage zwischen zwei Festen

Papst Liberius setzte im Jahr 354 den 25. Dezember als Weihnachtstermin fest und kaperte damit den spätrömischen Kult des Sonnengottes «Sol invictus». Dieser Tag konkurrierte zudem im entstehenden Kirchenjahr mit dem bisherigen Hochfest «Erscheinung des Herrn» (6. Januar) und dem kalendarischen weltlichen Jahresbeginn. Die Synode von Tours 567 bezeichnete die zwölf Tage zwischen Weihnachten und Dreikönig erstmals verbürgt als Zeit «zwischen den Jahren». Je nach Region werden sie auch «Rauhnächte» oder «Zwölfnächte» (Twelve Days of Christmas) genannt.

Im Mittelalter wechselte die römische Kirche mehrmals ihren Neujahrstermin. Erst 1691 legte Papst Innozenz XII. endgültig den (weltlichen) 1. Januar als Jahresbeginn fest. Im konfessionsgeteilten und territorial zersplitterten Deutschland wurden solche Festlegungen allerdings sehr unterschiedlich gehandhabt. Auch deshalb hing man teils auf engstem Raum «zwischen den Jahren» – inklusive Jahreszahl.

Freie Tage für das Gesinde

Bis heute beginnt der bäuerliche Kalender am 6. Januar. Auf dem Land hatte das Gesinde einst «zwischen den Jahren» frei. In dieser Zeit wurden gegenseitige Besuche gemacht, um Freundschaften zu festigen. Regionales Brauchtum zum Jahreswechsel ist Legion. (kna)