Fakten zu Rathausen

Gespräch mit der Provinzoberin der Schweizer Ingenbohler Schwestern

Ingenbohl SZ, 13.5.10 (Kipa) Vorwürfe gegenüber dem ehemaligen Erziehungsheim Rathausen, ab 1952 als Kinderdörfli Rathausen bekannt, beschäftigen die Medien. Vor allem in den 1940er und 1950er Jahren soll ein drakonischer Geist geherrscht haben. Für die Betreuung waren Ingenbohler Schwestern angestellt, die Leitung lag bei einem Direktor. Im Gespräch mit der Kipa erläutert die Provinzoberin, Marie-Marthe Schönenberger, was bis heute an Fakten bekannt ist und wie die Schwesterngemeinschaft mit dem dunklen Kapitel umgeht.

Das ehemalige Erziehungsheim Rathausen befand sich in den Räumen eines früheren Zisterzienserinnenklosters. 1882, kurz nach der Gründung wurden Schwestern aus Ingenbohl für die Betreuung der Kinder angestellt. Die entsprechende Vereinbarung wurde noch von der ersten Generaloberin, Mutter Maria Theresia Scherer (1825 – 1888) unterschrieben. «Unsere Gemeinschaft hat das Heim aber nie selber geleitet», sagt Schwester Marie-Marthe. Die Schwestern unterstanden einem Direktor, der bis zu den 1960er Jahren ein Priester, später ein Laie war. Ernannt wurde er jeweils durch eine Absprache zwischen dem Kanton Luzern und dem Bistum Basel. Der Direktor wohnte nicht direkt im Heim, sondern in einem benachbarten Haus. Die Kinder- und Waisenanstalt gehörte dem Kanton, der den Betrieb ab 1951 einer eigens errichteten Stiftung übergab.

Für die direkte Aufsicht gab es eine kleine und grosse Aufsichtskommission. Die kleine Kommission arbeitete eng mit dem Direktor zusammen. Das Personal hatte in der Kommission keinen direkten Ansprechpartner. Zumindest in einem Fall hat aber eine Schwester den Dienstweg umgangen und sich direkt an die Kommission gewandt.

Grosses Heim, wenig Personal

Bei Rathausen handelte es sich um eine grosse Erziehungs-, Kinder- und Waisenanstalt. 1882 nahm sie den Betrieb mit 205 Kindern auf, 1899 waren es bereits 231. Die Belegungszahl war schwankend; nach einem hohen Stand in der Weltkriegszeit mit 215 Kindern fiel sie 1950 auf 140 zurück. Nach Medienrecherchen sollen insgesamt 3500 Kinder das Heim durchlaufen haben. Die Gründe ihrer Aufnahme beziehungsweise Einweisung waren verschieden: Es gab Waisen, Halbwaisen und verhaltensauffällige Kinder; manche wurden auch von Vormundschaftsbehörden dem Heim zugeteilt.

Im Heim arbeiteten zwischen 17 und 20 Schwestern aus verschiedenen Berufsgruppen: Erzieherinnen, Lehrerinnen, Köchinnen, normalerweise war auch eine Krankpflegerin oder Krankenschwester im Heim. Wegen dem geringen Personalbestand war die Belastung für die Schwestern sehr gross, was immer wieder zu deren Erkrankung führte. Durch solche Ausfälle wurde die Belastung für die andern Schwestern umso grösser.

1972 zog sich Ingenbohl zurück. Wegen dem Mangel an nachrückenden Schwestern mussten damals viele Werke aufgegeben werden.

Erklärung des Luzerner Synodalrats

Die Nachricht, dass es im Kinderheim Rathausen zu schweren Übergriffen gekommen sei, traf die Ingenbohler Schwestern heftig und unvermittelt. Auslöser war die Erklärung des Synodalrats der Katholischen Landeskirche des Kantons Luzern vom November 2008. Sie enthielt eine Entschuldigung für alles Unrecht, das in christlichen Anstalten an Verding- und Heimkindern begangen wurde. Auf diese Entschuldigung hin meldete sich Walter Furrer, der in den 1940er/50er Jahren im Heim gewohnt hatte. In einem Artikel der Neuen Luzerner Nachrichten berichtete er, dass im Heim eine kalte, angst- und gewaltgeprägte Atmosphäre geherrscht habe. Er spricht von «körperlichen Züchtigungen, sexuelle Misshandlungen, Arbeitszwang.» Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs trifft aber nicht die Schwestern, sondern den «pädophilen Direktor».

Dokumentarfilm

Die Erklärung der Landeskirche war der eine Auslöser, der andere ein Dokumentarfilm. Im Zusammenhang mit den aus der ganzen Welt bekannten Missbrauchsfällen lancierte das Schweizer Fernsehen eine Internetumfrage zu Gewalt in Heimen, die von christlichen Gemeinschaften geführt wurden oder noch immer werden. Dabei fiel dem Dokumentarfilmer Beat Bieri auf, dass verschiedentlich der Name «Rathausen» auftauchte. Als Luzerner war ihm der Name ein Begriff. Er wusste, dass manche Eltern einem ungehorsamen Kinder drohten, es komme nach Rathausen.

Aus zunächst vier, später sechs Zeugnissen von Männern zeichnete der Dokumentarfilm ein erschütterndes Bild. Mit Namen wurde eine Schwester Regula genannt. Die meisten Vorwürfe richten sich eher gegen die Schwestern im Allgemeinen, sprechen von Züchtigungen, harten Strafen; zudem werden sie beschuldigt, die angeblichen sexuellen Übergriffe des Direktors gedeckt zu haben.

Der Film wurde im September 2009 erstmals ausgestrahlt; im März 2010 ein zweites Mal, diesmal in der längern Fassung; zudem wurde er durch das Schweizer Fernsehen thematisch in einen Zusammenhang mit Schübelbach gebracht, dessen Pfarrer an frühern Wirkungsstätten sexuelle Übergriffe verübt hatte.

Nach dieser zweiten Ausstrahlung wurde ein Text bekannt, der ebenfalls massive Anschuldigungen enthält. Geschrieben hatte ihn eine Frau, die ihre Mädchenjahre im Heim verbracht hatte. Gefunden haben ihn die Angehörigen aber erst nach dem Tod der Frau. In diesem Text ist von Vorfällen die Rede, die sich in den 1920er Jahren abgespielt hatten. Damals soll eine Schwester den Tod zweier Kinder verursacht haben.

Unklares Bild

Das Kloster Ingenbohl hat inzwischen gut zwei Dutzend Zuschriften und mündliche Stellungnahmen von Frauen und Männern erhalten, die als Kinder in Rathausen gelebt hatten. Nicht alle schlagen den gleichen Ton an. Einige bestätigen zwar die Vorwürfe, andere aber schreiben, dass sie das Heim ganz anderes erlebt hätten. Einige sind auch später im Leben immer wieder zurückgekehrt, weil ihnen das Heim zur Ersatzfamilie geworden ist. Es scheint also nicht einfach zu sein, ein schlüssiges Gesamtbild von Rathausen zu gewinnen.

«Grosse Betroffenheit»

«Der Film hat bei uns Schwestern grosse Betroffenheit ausgelöst», sagt die Oberin. Es war für sie selbstverständlich, dass man von Anfang an offen kommunizieren muss, dies auch im Sinne der Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz.

Die Ordensgemeinschaft kommuniziert sowohl nach innen wie nach aussen. Die Schwestern müssen genau so informiert sein wie die Öffentlichkeit. Zudem muss die Mutterprovinz Schweiz auch die Generalleitung ins Bild setzen; über die Vorwürfe und die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind.

Aufarbeiten der Fakten

Seit dem schweizweit ausgestrahlten Film über Rathausen ist ein Schatten auf den Namen «Ingenbohl» gefallen, auch wenn die genannten Vorkommnisse weit zurück liegen. Die Aufarbeitung der Geschehnisse hat in der Provinz höchste Priorität; die Leitung lässt sich darum auch von Fachleuten beraten.

Im Vordergrund steht die Aufarbeitung der Fakten. Dazu setzt die Provinzleitung eine externe Fachgruppe ein, die unabhängig und professionell die Geschichte des Heims aufarbeitet. Diese kann sich auf die Meldungen der ehemaligen Heimkinder stützen, die sie entweder direkt oder über Ingenbohl erreichen. Nicht ganz einfach ist die Archivsituation. Die meisten Unterlagen liegen nämlich bei staatlichen Stellen, weil die Schwestern angestellt waren.

Für die Arbeit der unabhängigen externen Fachgruppe wird nun ein Konzept ausgearbeitet, im Sommer soll sie starten können. Inzwischen hat aber auch der Kanton Luzern beschlossen, die Geschichte seiner Heime aufarbeiten zu lassen. Die unabhängige externe Fachgruppe wird darum mit den vom Kanton Luzern beauftragten Leuten zusammenarbeiten. Ergebnisse erwartet man in ungefähr zwei Jahren. Ob die Kommission bereits früher Teilergebnisse veröffentlichen will, wird ihr überlassen.

Nebst der historischen und juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit gibt es auch eine emotionale Seite.

Interne Anlaufstelle

Um Gelegenheit für hilfreiche Gespräche zu geben, wurde eine Anlaufstelle eingerichtet. Beauftragt damit ist eine Schwester, die professionelle Erfahrung als Sozialarbeiterin mit sich bringt. Diese Schwester lebt auf einem Aussenposten. Gespräche können entweder bei ihr oder im Kloster geführt werden, einzeln oder in Gruppen.

Das Angebot besteht seit einem halben Jahr, wurde zuerst aber wenig in Anspruch genommen. Daraufhin beschloss die Provinzleitung, das Angebot nicht nur mit einem Brief bekannt zu machen, sondern die Schwestern, die früher in Heimen wirkten, direkt anzusprechen. Seither sei das Gesprächsangebot gefragt, sagt Schwester Marie-Marthe.

Gemeinschaft trägt

Die Ingenbohler Schwestern gehen durch eine schwere Zeit, spüren aber auch, dass ihre Gemeinschaft trägt. «Ich bin überzeugt, dass wir geläutert und gestärkt aus dieser Situation hervorgehen werden», sagt Schwester Marie Marthe.

 

Separat:

Stellungnahme im Wortlaut

Auf der Homepage des Klosters Ingenbohl findet sich ein Text, der dreierlei beinhaltet: eine Stellungnahme, eine Vergebungsbitte und das Angebot, Kontakt aufzunehmen. Hier der Text im Wortlaut:

«Stellungnahme zu Übergriffsvorwürfen gegenüber Schwestern unserer Gemeinschaft in verschiedenen Erziehungsinstitutionen der Schweiz :

Wir wurden in den vergangenen Wochen und Monaten in einer Reihe von Medienbeiträgen mit teilweise gravierenden Vorwürfen gegenüber Schwestern unserer Gemeinschaft konfrontiert.

Diese Vorwürfe erschüttern unsere Ordensgemeinschaft zutiefst. Sie haben uns schmerzlich vor Augen geführt, dass das Verhalten einzelner unserer Mitschwestern in einem krassen Widerspruch stand zu unseren Ordensidealen, unseren Leitbildern und Richtlinien.

Wir fühlen mit den Opfern mit und bitten diese um Verzeihung für das erfahren Leid.

Seit einiger Zeit haben wir damit begonnen, unsere vielfältigen Tätigkeiten in der Vergangenheit kritisch zu überprüfen und zu hinterfragen. Diese Aufarbeitung unserer Ordensgeschichte soll begleitet werden durch eine unabhängige, externe Expertenkommission, welche zurzeit konstituiert wird. Es ist uns ein grosses Anliegen, die gegen einzelne unserer Schwestern erhobenen Vorwürfe sachlich zu überprüfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen und aus den begangenen Fehlern zu lernen, damit das, was geschehen ist, nie wieder geschehen kann.

Wir möchten an dieser Stelle allen danken, die sich in den vergangenen Wochen und Monaten mit uns in Verbindung gesetzt haben. Unsere Tür wird auch weiterhin allen offenstehen, die mit uns in Kontakt treten wollen. Wir werden zu gegebener Zeit über den Aufarbeitungsprozess orientieren.

Unsere Adresse für die Kontaktaufnahme: Provinzleitung Kloster Ingenbohl, Klosterstrasse 10, CH-6440 Brunnen, Telefon: ++41 825 20 00»; provinzleitung@kloster-ingenbohl.ch

13. Mai 2010 | 16:05
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