«Existenzielle Fragen haben immer eine religiöse Dimension»

Interview:
Liliane Juchli, Ordensfrau und Krankenpflege-Spezialistin

Zürich, 15.7.13 (Kipa) Die Ordensschwester und international bekannte Krankenpflege-Spezialistin Liliane Juchli (79) setzt sich seit Jahrzehnten für ein neues Verständnis der Pflege und für die Achtung vor dem Menschen ein. Sie schrieb vor vierzig Jahren das erste deutschsprachige Pflegelehrbuch und hat damit weit über die Landesgrenzen hinaus Bekanntheit und Respekt erlangt. Mit der Presseagentur Kipa sprach die Ordensfrau über die Herausforderungen in der heutigen Pflege, Autonomie im Alter und den religiösen Aspekt der Seelsorge.

Frage: Frau Juchli, was heisst, einen Menschen zu pflegen?

Liliane Juchli: Einen Menschen pflegen, heisst, ihm jene Unterstützung zukommen zu lassen, die er braucht, sei es zum Gesundwerden, Leben mit Behinderung oder Sterben. Ein kranker Mensch ist nicht einfach eine «Gallenblase in Zimmer 21», er ist eine Ganzheit, mit seiner Krankheit, aber auch mit seinem sozialen Umfeld, mit seinen Erfahrungen, seiner Einstellung zum Leben. Der Mensch hat auch seine eigene Biografie, die in der Pflege mit einzubeziehen ist.

Frage: Wie soll dies geschehen?

Juchli: Indem man den Menschen ins Zentrum stellt und nicht nur die Diagnose; den Menschen mit Körper, Seele und Geist, indem man ihm zuhört, für ihn da ist. Was auch heisst, dem Kranken jene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die ihn spüren lässt, dass er in seiner je eigenen Art und Weise angenommen und ernst genommen wird. Das ist natürlich eine grosse Herausforderung, vor allem in der heutigen Zeit, wo auch in der Pflege die Hektik stark zugenommen hat.

Frage: Sind die Pflegenden nicht eher Psychologen als Pfleger, wenn sie oft zuhören müssen?

Juchli: Sie sind keine Psychologen, sie sind eher Pädagogen. Es gehört zu ihren Aufgaben, den Kranken nicht nur während seines Krankseins zu pflegen und zu begleiten, sondern ihn auch auf das Gesundsein vorzubereiten. Ihn zu begleiten auf dem Weg zur Selbstpflege. Dazu gehört ein anthropologisches und ethisches Grundwissen. Pflege ist keine Psychotherapie, sie ist aber sehr oft auch Seelsorge.

Frage: Inwiefern ist Seelsorge eine christlich-kirchliche Angelegenheit?

Juchli: Natürlich handle ich als Ordensschwester und gläubiger Mensch immer aus meinem christlichen Urgrund heraus. Die existenziellen Fragen, die sich Menschen oft bei Krankheit und im Angesicht des Todes stellen, haben aber letztlich immer auch eine religiöse Dimension. Ich möchte den Menschen dort abholen, wo er steht. Ich werde ihn nicht mit christlichen Traktaten bedrängen, sondern ihm Raum geben für diese existenziellen Fragen, damit eine Beziehung zwischen mir und dem Patienten entstehen kann. Diese Beziehung ist per se spiritueller Natur, diese Präsenz ist heilend – das ist eine Spiritualität, die immer da ist, ob es Gott in den Augen des Betroffenen nun gibt oder nicht.

Frage: Vor welchen Herausforderungen steht der Pflegeberuf heute, wo die Menschen immer älter werden und länger krank sind?

Juchli: Die Ansprüche sind differenzierter geworden, Krankheiten wie zum Beispiel die Demenz stellen nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Pflegenden vor grosse Herausforderungen. Wir brauchen mehr denn je spezialisierte Fachkräfte, gleichzeitig aber auch Pflegepersonal verschiedener Ausbildungsniveaus. Bei der Betreuung Kranker braucht es Studienabgängerinnen wie auch Pflegende, die einen vorwiegend praktischen Erfahrungsschatz mitbringen. Eine Mischung von verschiedenen Qualifikationen wird den Ablauf der Pflege und damit das Wohl der Kranken positiv beeinflussen.

Frage: Wo sind der menschlichen Pflege Grenzen gesetzt?

Juchli: Die Grenzen sind bei schlechten Arbeitsbedingungen schnell erreicht. Wenn Pflegende keinen Raum für ihre Anliegen finden, keine Unterstützung im Team oder von der Bereichsleitung erfahren, wird ihre Motivation geschwächt. Die Anforderungen an die Pflegenden sind heute sehr gross, gilt es doch nicht nur der zunehmenden Komplexität der Pflegeaufgaben zu entsprechen, sondern oftmals auch die Doppelbelastung von Familie und Beruf zu bewältigen. Deshalb muss man auch zu den Pflegenden Sorge tragen. Das ist die beste Prophylaxe, um einem Burnout entgegenzuwirken.

Frage: Warum ist die seelische und körperliche Gesundheit des Pflegepersonals so zentral in Ihrem Pflegekonzept?

Juchli: Mein Leitsatz: «Ich pflege als die, die ich bin» schliesst auch den Gesundheitszustand der Pflegenden mit ein. Sie bringen sich selber immer mit ein, sowohl ihre gute, wie ihre schlechte Laune. Hier gilt es, die eigenen Grenzen offen zu kommunizieren. Eine starke Persönlichkeit wehrt sich am Ende auch gegen wirtschaftliche und politische Zwänge, die ihrem Berufs-Ethos widersprechen; sie macht sich für ihre berufseigenen Anliegen stark. Die Pflege ist aber immer auch Auftrag der Gesellschaft. Wir sind mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie alle anderen.

Frage: Welche Herausforderungen sind das?

Juchli: Beispielsweise der Spardruck. An der Ausbildung des Pflegepersonals darf nicht gespart werden. Wer soll denn die älter werdende Bevölkerung kompetent behandeln und pflegen, wenn ausgebildete Fachkräfte fehlen? Und weil Pflege vor allem im Praxisfeld gelernt wird, brauchen wir Vorbilder, die selbst eine fundierte Bildung genossen haben.

Frage: Sie setzen sich auch in der Präventiv-Pflege ein. Gibt es eine Möglichkeit, im Alter länger gesund zu bleiben?

Juchli: Wir müssen die Frage nach der Gesundheit im Alter tatsächlich stellen, indem wir uns fragen: Wie lebe ich mein Leben nach 65? Was will ich, was kann ich? Was gibt mir Sinn? Viele Menschen erleben ausserhalb des Berufslebens eine gewisse Sinnleere, sie haben das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Menschen bleiben aktiv und agil, wenn sie etwas zu tun haben, ihrem Tun einen Sinn geben können. Das Gefühl des Gebrauchtwerdens ist etwas vom Wichtigsten überhaupt. Es ist eine Energiequelle. Früher hat die Familie diese Aufgaben natürlicherweise verteilt, die betagten Menschen waren im Umfeld integriert. Heute ist die Gesellschaft als Ganzes in die Pflicht genommen. Und ich bin sicher, dass wir die vorhandenen Ressourcen zu nutzen wissen.

Separat:

Schwester Liliane Juchli

Liliane Juchli, geboren am 19. Oktober 1933, ist eine über die Landesgrenzen hinaus bekannte Krankenschwester und Ordensfrau der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz. Sie hat mit ihrem Pflege-Lehrbuch, das in der Umgangssprache «der Juchli» genannt wird, massgeblich zum heutigen Verständnis von Pflege beigetragen. Sie setzte sich ein für ein neues Pflegeverständnis und für ein professionelles Selbstbewusstsein der Pflegenden. Liliane Juchli wohnt und arbeitet im Schwesternheim der Ingenbohler Schwestern in Zürich.

Hinweis: Weitere Informationen: http://de.wikipedia.org/wiki/Liliane_Juchli

(kipa/ami/job)

15. Juli 2013 | 10:52
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