Das Graffito des Street-Art-Künstlers TVBOY in Mailand: gekreuzigter Papst Franziskus in weisser Soutane an einem regenbogenfarbenen Kreuz, 4. Juli 2021.
Schweiz

Exeget Markus Lau interpretiert Franziskus' Brief: «Die Kirche des Anfangs ist vielfältig und bunt»

Papst Franziskus hat dem Jesuiten James Martin einen Brief geschrieben – und sich darin zu LGBTQ-Fragen geäussert. Markus Lau ist Dozent für Neues Testament – und interpretiert Franziskus’ Brief und die jüngsten Aussagen von Bischof Joseph Bonnemain.

Raphael Rauch

Was sagen Sie zum Schreiben von Papst Franziskus?

Markus Lau: Es ist ein typischer Franziskus-Brief: kurz, herzlich und pastoral. Als Exeget freue ich mich, dass er zwei Mal auf die Bibel verweist. Aber er lässt mich auch etwas ratlos zurück: Was genau meint er? Als Theologe hätte ich gerne etwas mehr Konkretion, der Papst lässt uns da im Vagen zurück. 

Schauen wir uns die erste Bibelstelle an, auf die der Papst verweist: die Apostelgeschichte. Worum geht’s hier?

Lau: Hier erfahren wir viel über die Anfänge der Kirche. Genauer müssten wir von der Jesus-Bewegung sprechen, weil Kirche als Institution damals sich erst langsam bildet. Die Apostelgeschichte erzählt von einer sehr vielfältigen Jesus-Bewegung: Es gibt jüdische und nicht-jüdische Menschen in ihr, die einen sprechen aramäisch, die anderen griechisch. Die Jesus-Bewegung erweist sich als kreativ und lernfähig. Auf ein soziales Problem antwortet die Jesus-Bewegung etwa damit, dass sie ein neues Amt schafft: die Diakone.

«Einheit heisst für die Apostelgeschichte nicht, dass alle gleich und uniform sind.»

Worauf will Papst Franziskus hier hinaus?

Lau: Ich denke, er ist fasziniert von der Dynamik der Bewegung, die über sich hinauswächst, offen für alle ist und höchst unterschiedliche Menschen integriert. Einheit heisst für die Apostelgeschichte dabei im Übrigen nicht, dass alle gleich und uniform sind. Der Papst schickt an die LGBTQ+-Bewegung die Botschaft: Die Kirche des Anfangs ist vielfältig und bunt.

Markus Lau lehrt Neues Testament in Freiburg i.Ü. und Chur.
Markus Lau lehrt Neues Testament in Freiburg i.Ü. und Chur.

Geht es in der Apostelgeschichte auch um Sex?

Lau: Nein. Es kommt zwar ein Eunuch vor, ein äthiopischer Kämmerer. Aber nichts, was direkt die LGBTQ+ von heute thematisieren würde. Überhaupt kommt im Neuen Testament Sex oder Sexualmoral nur am Rande vor. Paulus verurteilt gleichgeschlechtlichen männlichen Sex – aber nicht die Form von verantworteter Homosexualität, die heute gelebt wird. Paulus ging es vor allem um Päderastie, also Sex in einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen einem älteren und einem heranwachsenden Mann. Und selbst wenn Paulus Homosexualität klar verurteilen würde, könnten wir das nicht für die Sexualmoral von heute eins zu eins verwenden. Das wäre ein biblizistischer Fehlschluss. Wir essen ja auch ungeschächtetes Fleisch und verhalten uns anders als die Menschen in der Bibel. 

Meinrad Furrer segnet ein lesbisches Paar in Zürich auf einer Regenbogenbank.
Meinrad Furrer segnet ein lesbisches Paar in Zürich auf einer Regenbogenbank.

Die zweite Stelle, die Papst Franziskus erwähnt, ist Matthäus 22. Worum geht’s da?

Lau: Es geht um ein Gleichnis. Jesus erzählt von einem grossen Hochzeitsfest, zu dem viele Menschen eingeladen sind. Das Hochzeitsmahl steht metaphorisch für das angebrochene Himmelreich. Nicht alle der eingeladenen Menschen erscheinen zum Mahl. Daraufhin wird wahllos eingeladen – auch Menschen, die man sonst nicht erwarten würde wie Bettler und Sklaven. Auf der Hochzeit gibt es im Gleichnis einen Dresscode. Der Gastgeber ist dafür zuständig, den Gästen ein angemessenes Gewand zur Verfügung zu stellen. Ein Gast weigert sich, das geschenkte Gewand anzunehmen – und fliegt von der Party. 

«Alle sind willkommen und haben einen Platz im Reich Gottes und in der Kirche.»

Worauf will Papst Franziskus hinaus, indem er auf diese Bibelstelle verweist?

Lau: Es gibt auf der Hochzeitsparty gute und schlechte Menschen – wie in der Kirche. Die Menschen sind nun einmal nicht perfekt. Trotzdem sind alle willkommen und haben einen Platz im Reich Gottes und in der Kirche.

Meint der Papst mit den schlechten Menschen LGBTQ+?

Lau: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich denke, der Papst meint mit den negativ gezeichneten Figuren die Menschen, die heute andere ausschliessen und diskriminieren. 

Der Bischof von Chur, Joseph Bonnemain, findet: «Die kirchliche Sexualmoral, gemäss dem Evangelium, ist weder diskriminierend, noch unmenschlich, sondern die kurzsichtige und kasuistische Deutung oder Interpretation derselben.»

Lau: Jesus verurteilt in der Tat keine LGBTQ+. Von daher hat Bischof Joseph Bonnemain Recht, wenn er darauf hinweist: Eine Sexualmoral gemäss dem Evangelium diskriminiert nicht. Engführende Deutungen des Evangeliums drohen zu diskriminieren. Der Geist Jesu steht für etwas Lebensförderliches. Jesus traut den Menschen etwas zu, wünscht den Menschen Freiheit – und möchte, dass sie beschenkt, glücklich und frei leben. Von daher brauchen wir eine kirchliche Sexualmoral, die sich am Evangelium ausrichtet.

* Der Exeget Markus Lau (44) lehrt seit 2010 am Departement für Biblische Studien der Universität Freiburg i.Ü. Seit 2019 ist er zusätzlich geschäftsführender Sekretär der Kommission für Theologie und Ökumene der Schweizer Bischofskonferenz und vertritt zurzeit die vakante Professur für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Chur.


Das Graffito des Street-Art-Künstlers TVBOY in Mailand: gekreuzigter Papst Franziskus in weisser Soutane an einem regenbogenfarbenen Kreuz, 4. Juli 2021. | © KNA
11. Mai 2022 | 18:52
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