Erst Barkeeper, dann Seelsorger: «Man kann heute leichter über Sex als über Spiritualität reden»
Er ist ein bunter Hund in Zug. Wenn die Rede auf Kirche kommt, fällt meist zuerst sein Name: Andreas Haas (59). Der reformierte Pfarrer hat es geschafft, in der Steuer- und Millionärsoase Zug die «City Kirche Zug» zu einer Marke zu machen. Über Papst Franziskus sagt er: «Er sagt recht schöne Dinge, aber es passiert nicht viel.»
Wolfgang Holz
Liegestühle in der Kirche? Damit sich gestresste Managerinnen und Manager über Mittag in sakraler Ruhe hinfläzen können? Handauflegen für Menschen, die das Bedürfnis nach einer besonderen Form der körperlichen Nähe verspüren?
«Wage das Neue»
Die Ideen von Pfarrer Andreas Haas hatten von Anfang an etwas Kontroverses. Etwas bislang nicht Dagewesenes. Und das alles in der wuchtigen, altehrwürdigen reformierten Kirche im Herzen von Zug. In der Stadt, die eigentlich eine klassisch katholische Domäne ist. Kein Wunder, dass das Thema seiner Einsetzungspredigt «Wage das Neue» lautete.
«2006 wurde das 100-Jahr-Jubiläum unserer Jugendstilkirche gefeiert, und mir war von Anfang an klar, dass ich eine Kirche anstrebte, die sich auftut, die sich öffnet», sagt der reformierte Seelsorger. Eine Idee, die von den Zugerinnen und Zugern begeistert angenommen wurde – wie Haas aus heutiger Sicht stolz für sich in Anspruch nehmen kann.
«Männlich, weiblich – divers?»
Zwar habe auch die «City Kirche Zug» unter den Corona-Einschränkungen gelitten. Doch bis heute zeitigte die Veranstaltungsreihe zu Kultur, Gesellschaft und Spiritualität während den 15 Jahren ihres Bestehens gut 200 Events. Jüngst wurde in der «City Kirche Zug» zum Thema Geschlecht und Gender diskutiert – unter dem Titel: «Nach Gottes Ebenbild: Männlich, weiblich – divers?»
Andreas Haas seinerseits ist mittlerweile schon 30 Jahre Seelsorger an der Reformierten Kirche Zug. So gesehen sind beide Institutionen – die «City Kirche Zug» und Andreas Haas – eine echte Institution in Zug. Ein alternatives Angebot für die menschliche Seele und geistigen Horizont – gerade in der Steuer- und Millionärsoase.
Niederschwellige Seelsorge als Barkeeper
Just dort, wo man davon ausgehen könnte, dass es den Menschen an nichts fehlt. Wobei der Seelsorger bald merkte, dass dem offensichtlich nicht so ist. Schon als Barkeeper im schnieken Zuger Parkhotel schenkte er seinen Kunden im Nebenjob nicht nur Drinks aus, sondern hörte ihnen zu. Niederschwellige Seelsorge.
«Man kann ja heute leichter über Sex als über Spiritualität reden – obwohl Spiritualität für die Menschen enorm wichtig ist», versichert der Pfarrer, der in Bern und Oxford Theologie studierte. Ihm sei die Gotteserfahrung schon immer wichtiger gewesen als die kirchliche Dogmatik. «Nicht wenige Menschen fürchten beim Thema Spiritualität ausgelacht zu werden – auch weil sie glauben, dass ihnen ein Gegenüber fehlt, mit dem sie sich darüber austauschen können.»
Mit seiner dunklen Hornbrille erinnert er an Jean-Paul Sartre
Andreas Haas ist Seelsorger aus Leidenschaft. Er ist ein profunder Kenner der menschlichen Seele, hat er doch auch 20 Jahre als Psychiatrieseelsorger gearbeitet.
Doch ist Spiritualität heutzutage überhaupt noch deckungsgleich mit Gott? Glaubt er denn an Gott? Eine Frage, die den Zuger Pfarrer zunächst innehalten und dann schmunzeln lässt. In seinem lässigen Outfit mit diagonal gemustertem Hemd, rot gestreiften Sneakers und einer dominant dunklen Hornbrille erinnert er an den Intellektuellen Jean-Paul Sartre. Und an den Komiker Wigald Boning.
Begegnung mit einem Schamanen in Nepal
Schliesslich zitiert der reformierte Pfarrer die Aussage einer Konfirmandin. Auf die Frage, was Glaube sei, habe diese im Unterricht geantwortet: «Ich weiss nicht, ob ich an Gott glaube. Aber ich bin fest überzeugt, dass mich jemand in meinem Leben begleitet.»
Für Haas persönlich manifestiert sich Gott ebenfalls in erster Linie im «Erleben von Gott». In aller Offenheit gegenüber Neuem. Gott ereigne sich. Er habe sich in Nepal schon von einem Schamanen inspirieren lassen. Er sei stets offen für andere Ansichten.
Ein Bauchgefühl der göttlichen Art
«Ich spüre Gott beispielsweise, indem ich mich als Person nie allein, sondern geborgen und getragen fühle», führt er an. Eine Eigenschaft, die ihn gemäss seiner Mutter schon als kleinen Buben ausgezeichnet habe. «Andererseits spüre ich Gott, wenn ich, ohne zu überlegen, fühle: Das musst du jetzt so machen!» Ein Bauchgefühl der göttlichen Art quasi.
Tatsächlich wirkt der ledige Seelsorger, der in Zofingen geboren wurde und im Aargau aufgewachsen ist, absolut in sich ruhend. Entspannt. Er wollte ursprünglich nur ein paar Jahre in Zug bleiben. Doch das Kleinteilige in der Gemeinde, das Ruhige sowie die Offenheit der Menschen, bedingt durch den Zuzug vieler Auswärtiger, liessen ihn hier dauerhaft seine Zelte aufschlagen.
«Sexualität ist bei uns nicht so verteufelt»
Dabei hat er längst auch seine katholischen Priesterkollegen in Zug kennen und schätzen gelernt, mit denen er immer wieder bei Gottesdiensten eine lebendige Ökumene pflegt. «Da kommen dann schon mal 200 bis 300 Personen», sagt Haas.
Stichwort Ökumene. Wie nimmt ein reformierter Pfarrer eigentlich die Konflikte in der katholischen Kirche wahr, die täglich aufflammen? Gelassen. Und doch pointiert. «Also, Missbrauch gibt es auch in der reformierten Kirche – aber es sind eben deutlich weniger Fälle.» Der Grund: «Sexualität war und ist bei uns nicht so verteufelt. Sie gehört zum Menschen», ist Haas überzeugt.
«Der Papst sagt recht schöne Dinge, aber es passiert nicht viel»
Frauenpriestertum? «In Zug sind etwa die Hälfte aller Seelsorgenden Frauen. Es funktioniert sehr gut.» Kann er sich also auch Frauen in der katholischen Kirche vorstellen? «Ich weiss nicht, ob es das jemals geben wird», meint er unverblümt. Hierarchische Männerstrukturen seien grosse Hindernisse für einen Entwicklungsprozess, auch in der reformierten Kirche.
Und Homosexualität? Haas: «Der Papst sagt recht schöne Dinge darüber, aber es passiert nicht viel.» Andererseits sei festzustellen, dass sich gerade «unten» auf Kirchgemeindeebene viel bewege, während oben das «Njet» regiere.
Auch ein Pfarrer ist ein gewöhnlicher Mensch
Andreas Haas räumt ein, dass er sinnlichen Rituale und Aspekte der katholischen Kirche wie Weihrauch und barocke Kunst in der eigenen Kirche vermisst. «Als Kind bin ich deshalb viel lieber in die heilige Messe der Katholiken gegangen», gibt er zu. «Es braucht in der Kirche einfach beides – Sinnlichkeit und Vernunft», sagt Haas.
Wobei er an der reformierten Kirche das selbstverantwortliche Denken jedes Einzelnen schätzt. Selber zu denken. Sich selbst sieht er als reformierter Pfarrer – nicht ohne Anflug einer gewissen Selbstironie – als ganz gewöhnlichen Menschen. Als gewöhnlicher Sünder. «Ein katholischer Priester tritt ja durch seine Weihe in einen ganz anderen Stand ein.»
Keine Angst vor dem Tod
Der reformierte Seelsorger, der in seiner Freizeit für sich ein Faible fürs Backen von «Basler Läckerli» kultiviert hat – gemäss einem Rezept aus dem Kochbuch «Das fleissige Hausmütterchen», das er von seiner Mutter erbte –, hat seine spirituellen Erfahrungen auch noch anderswo einfliessen lassen.
In der Stiftung Hospiz Zentralschweiz, die in Littau bei Luzern ein Hospiz mit zwölf Betten betreibt, ist er seit drei Jahren Stiftungsratspräsident. «Es ist sehr schön und ergreifend, Menschen in der letzten Lebensphase zu begleiten», sagt Haas. Selbst wenn man den Tod als Grenzerfahrung des Menschen nie ganz verstehen könne, habe er erlebt, dass viele sterbende Menschen tatsächlich friedlich eingeschlafen seien. «Ich habe eine enorme Offenheit der Menschen erlebt. Es entsteht der Eindruck, dass wir keine Angst zu haben brauchen vor dem Tod.»
Ein Hospiz-Zimmer darf nicht hell sein
Interessant seien auch die Erfahrungen, welche die Hospiz-Stiftung, die es seit sieben Jahren gibt, etwa mit der Einrichtung der Hospiz-Zimmer gemacht habe. «Menschen, die im Sterben liegen, sind offensichtlich sehr lichtsensibel – deshalb kann man die Wände in den Hospiz-Zimmern nicht weiss anstreichen, das wäre zu hell», erklärt der Zuger. Man habe sich deshalb für eine lehmfarbene Tönung entschieden.
Apropos Lehm. Andreas Haas lässt sich auch in der Natur in Sachen Spiritualität immer wieder inspirieren. Wenn er nicht in die Oper geht oder selbst singt, geniesst er auf Wanderungen im Appenzeller Land, wo er in Gais ein Ferienhäuschen in besitzt, die Begegnung mit Fauna und Flora. «Das ist dort eine sehr spirituelle Gegend mit vielen heilkundigen Menschen. Die Leute hier sind wirklich sehr offen.»
«Du berührst und begleitest viele Menschen»
Letzteres gilt eben vor allem für ihn selbst. «Mit deinem offenen Geist und weitem Blick, auch für die anderen Religionen, hast du immer wieder Neues und Ungewohntes kreativ initiiert», brachte Brigitta Kühn-Waller, ehemalige Präsidentin der Bezirkskirchenpflege Zug Menzingen Walchwil, anlässlich des 30-jährigen Arbeitsjubiläums von Andreas Haas die Vorzüge des Zuger Seelsorgers nochmals auf den Punkt. «Du berührst und begleitest viele Menschen in ihrem je eigenen Alltag und lässt sie neue Wege erkennen.» Der Weg des Gewagten selbst scheint noch lange nicht zu Ende.
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