Hendro Munsterman
Kommentar

Erneuerung der Kirche: Wenn die Tradition der Kirche keine Antworten gibt, hilft der Blick in die Bibel

Die römisch-katholische Kirche befindet sich in einem historischen Prozess der Erneuerung. In der Vergangenheit gelang Erneuerung am einfachsten, wenn die kirchliche Tradition der ersten Jahrhunderte Antworten auf aktuelle Fragen gab. Was aber kann man tun, wenn sich dort keine Antworten auf neue Fragen finden lassen? Dann hilft vielleicht der Blick in die Bibel.

Hendro Munsterman*

In den 1960er Jahren hat sich die römisch-katholische Kirche neu erfunden. Papst Paul VI. sprach am 29. September 1963 von «dem Wunsch, der Notwendigkeit und der Pflicht der Kirche, sich endlich vollständiger zu definieren».

Papst Paul VI. im Jahr 1969.
Papst Paul VI. im Jahr 1969.

Nach langen Diskussionen und heftigen Debatten lieferte das Zweite Vatikanum Antworten. Es war das erste Mal in der Kirchengeschichte, dass die Kirche auf einem Konzil eine umfassende Definition ihrer selbst gab.

Tradition als Quelle der Erneuerung

Viele der «Erneuerungen» des Zweiten Vatikanischen Konzils gründeten dabei auf Visionen, Theologie und Praxis der frühen Kirche. Auf dem Zweiten Vatikanum erneuerte die katholische Kirche ihr Selbstverständnis vor allem in vier wesentlichen Punkten.

  1. das Verhältnis zwischen Papst und Bischöfen
  2. das Verhältnis zwischen Laien und Klerus
  3. das Verhältnis zwischen der Kirche und Maria, der Mutter Jesu
  4. das Verhältnis zwischen der Kirche und anderen Kirchen und Religionen

Dabei schaute das Konzil, wie gesagt, auf die Frühkirche – die ganz anders war als die Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts. So stand der Bischof von Rom anfangs nicht über, sondern zwischen den anderen Bischöfen.

Seit dem Zweiten Vatikanum sind Laiinnen und Laien in der katholischen Kirche auf dem Vormarsch.
Seit dem Zweiten Vatikanum sind Laiinnen und Laien in der katholischen Kirche auf dem Vormarsch.

Das Verhältnis zwischen Laiinnen, Laien und Klerus war durchlässiger – eine klerikale Kaste gab es nicht. Auch Maria wurde nicht als über der Kirche stehend gesehen, sondern als ein herausragendes Mitglied. Und die Kirchenväter sprachen von «Samen des Wortes», die auch in anderen Religionen zu finden seien. Augustinus erkannte gar die Rechtmässigkeit der Sakramente der Donatisten an, die sich von der Kirche getrennt hatten.

Die lange Tradition der Synodalität

Bei der gegenwärtigen Weltsynode geht es um Synodalität. Also um den Wunsch nach aktiver Mitwirkung der Laiinnen und Laien auf allen kirchlichen Ebenen. Auch hier kann man sich vielfach an der Tradition orientieren. Viele Kirchen praktizieren Synodalität seit Jahrhunderten. Manche seit den Anfängen des Christentums.

Die griechisch-katholische Kirche zum Beispiel oder die armenisch-apostolische Kirche. Im Gegensatz dazu hat die römisch-katholische Kirche diese alte Praxis durch Zentralismus, Klerikalismus und Formen des kirchlichen Feudalismus lange weitgehend vergessen.

Tradition bietet keine Antwort auf Fragen zu Sexualität

Andere Themen, welche in Prag diskutiert wurden, hingegen haben weniger direkt mit Synodalität zu tun. Besonders die westlichen Kirchen haben in den letzten Tagen Fragen ins Zentrum gestellt, die zu grossen Spannungen besonders mit den Vertretern aus Osteuropa führten.

Diese Fragen drehten sich vor allem um Themen aus dem Zentrum der Gesellschaft: Der Platz von LGBT+-Menschen, von Frauen und wiederverheirateten Geschiedenen oder unverheirateten Lebenspartnern in der Kirche.

Nicole Büchel wollte das Thema Kirche und Homosexualität nicht "nochmals aufwärmen".
Nicole Büchel wollte das Thema Kirche und Homosexualität nicht "nochmals aufwärmen".

Sex ohne Fortpflanzung

In den letzten Jahrzehnten hat das Verhältnis zwischen Mann und Frau innerhalb der westlichen Gesellschaften tiefgreifende Veränderungen erfahren.

Gleiches gilt für das Verständnis von Sexualität, welche dank Empfängnisverhütung von der Fortpflanzung entkoppelt ist. Sowie dem Verständnis von Homosexualität. Verstanden Bibel, Kirchenväter und Kirchenlehrer Homosexualität als eine Abfolge von Handlungen, versteht man sie jetzt als eine existentielle Identität.

Lehramt muss wissenschaftliche Erkenntnisse inkorporieren

Entsprechend kann die Tradition der ersten Jahrhunderte keine Antworten auf diese Fragen geben. Unser heutiges Verständnis von Sexualitäten im allgemeinen ist geprägt von wissenschaftlichen Erkenntnissen und kulturellen Entwicklungen seit dem späten 19. Jahrhundert.

Und damit einem Wissen, welches den Denkern und Denkerinnen der frühen Kirche nicht zur Verfügung stand. Die prinzipielle Herausforderung, neues Wissen inkorporieren zu müssen, ist kein Novum.

Auch mit der Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht und dass Erde und Menschen älter sind, als früher gedacht und sich zudem evolutionär entwickelt haben, musste von der Kirche inkorporiert werden.

Die Westschweizerin Malika Schaeffer wendet sich per Zoom an die Synode in Prag.
Die Westschweizerin Malika Schaeffer wendet sich per Zoom an die Synode in Prag.

Die Synode legt die anthropologische Herausforderung nicht direkt auf den Tisch. Aber die Methode des offenen Dialogs macht es möglich, über sie zu sprechen. Klerus, Laiinnen und Laien sind aufgerufen, gemeinsam über Gottes liebenden Willen, unsere Kirche und diese Welt nachzudenken.

Das Ganze im geistlichen Dialog mit Blick auf die Heilige Schrift. Aber gerade auf Fragen, welche den Umgang der Kirche mit Themen der Sexualität betreffen, gibt die Tradition keine Antworten.

Apostel fanden neue Antworten im Dialog

Es ist nicht das erste Mal, dass die Kirche mit einer Situation konfrontiert ist, in welcher der Blick in die Tradition keine Antworten liefert. Um das Jahr 48 sahen sich die frühen Christen in Jerusalem mit der Frage konfrontiert, ob auch Nicht-Juden dem Christentum angehören können. Und ob dies geschehen kann, ohne dass sie beschnitten werden und die jüdischen Gesetze befolgen. Die Frage war neu und die Tradition – die jüdischen Schriften und die mündlich überlieferten Worte Jesu – gaben keine Antworten.

Aussendung des Heiligen Geistes an Pfingsten (um 1180) von Herrad von Landsberg
Aussendung des Heiligen Geistes an Pfingsten (um 1180) von Herrad von Landsberg

Um sie zu lösen, hörten die Apostel und Ältesten einander zu. Mit dem Dialog kam die Erkenntnis. «Der Heilige Geist und wir haben beschlossen», sagt Jakobus in der Apostelgeschichte.

Vielleicht liegt in dieser ältesten biblischen Tradition auch die Antwort auf die aktuellen Fragen der christlichen Anthropologie. Wir müssen auf den Geist hören, einander zuhören und derart eine neue Antwort auf Fragen finden, welche die Tradition noch nicht kannte. «Unterscheidung» nennen wir das heute.

* Hendro Munsterman ist Theologe und Journalist. Er arbeitet als Vatikan-Korrespondent für die niederländische Tageszeitung «Nederlands Dagblad», wo dieser Beitrag zuerst erschienen war; Übersetzung: Annalena Müller.


Hendro Munsterman | © Raphael Rauch
12. Februar 2023 | 09:31
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