Schweiz
Drohende Evakuierung: Niemand weiss, wann in Brienz der letzte Gottesdienst stattfindet
Seit Jahrtausenden rutscht Brienz GR talwärts – und auch von oberhalb droht dem Dorf seit über 140 Jahren Gefahr. Diese hat sich jüngst dramatisch zugespitzt: Von einer drohenden Evakuierung betroffen wäre auch die Pfarrkirche St. Calixtus mit ihrem rund 500-jährigen Flügelaltar.
Barbara Ludwig
Die Erde bewegt sich in Brienz (Brinzauls) GR seit Menschengedenken. Die Terrasse, auf der das Dorf im Albulatal liegt, rutscht unaufhaltsam talwärts. Auch oberhalb der Ortschaft bewegt es sich. 1877 rutschte ein Teil des Berghanges über mehrere Wochen hinweg ins Tal: «Igl Rutsch» hat Spuren im Dorf hinterlassen – zum Beispiel am Turm der Pfarrkirche St. Calixtus, der eine leichte Krümmung aufweist.
Im Januar beten Brienzer um Schutz vor Bergsturz
Die ständige Gefahr durch Bergstürze hat auch Niederschlag gefunden im religiösen Leben der Brienzer Katholikinnen und Katholiken. Jedes Jahr findet im Januar die Brienzer Novene statt – an neun aufeinanderfolgenden Tagen. «Die Novene ist fest im Jahresablauf der Pfarrei verankert», sagt Kurt B. Susak gegenüber kath.ch. Susak ist Leiter des Dekanates Ob dem Schin-Davos, zu dem auch Brienz gehört. Wann die uralte Tradition ihren Anfang nahm, sei nicht bekannt.
Eröffnet und beendet wird die Novene jeweils mit einer Festmesse. In den Tagen dazwischen wird abends nach einer Lektüre eines Bibeltextes und einer Predigt durch den Priester das Allerheiligste ausgesetzt. «Noch heute werden im anschliessenden Novenengebet romanische, lateinische und deutsche Psalmenvertonungen abwechselnd von Frauen und Männern nach einer überlieferten Melodie gesungen», sagt der Dekan.
«Durch deine mächtige Hand, Calixtus, halte zurück die schlüpfrigen Felsen und beschütze, heiliger Patron, diesen Ort.»
Glockeninschrift
Im Schlussgebet werde ausdrücklich auf die Gefahr eines Bergsturzes hingewiesen und im eucharistischen Segen Gottes Schutz und Beistand über das Dorf und dessen Bewohnerinnen und Bewohner angerufen.
Kirchenpatron ist der Heilige Calixtus, Bischof von Rom und Märtyrer der Antike. Dessen Name findet sich in einer lateinischen Inschrift auf der grossen Glocke im Kirchturm: «Lubrica saxa manu retine caliste potenti! Atque tuere tuum sancte patrone locum.» Auf Deutsch heisst das: «Durch deine mächtige Hand, Calixtus, halte zurück die schlüpfrigen Felsen und beschütze, heiliger Patron, diesen Ort.»
Für Dekan Kurt Susak offenbart die Inschrift das Gottvertrauen der Menschen in Brienz angesichts der ständigen Bedrohung. Dieses spürte er auch persönlich bei den Dorfbewohnerinnen und -bewohnern während seiner Zeit als Pfarradministor im Albulatal. Zurzeit feiern die Brienzerinnen und Brienzer in der Kirche St. Calixtus noch jeden Monat zwei bis drei Messen.
Drohende Evakuierung
Doch nun droht dem Dorf akute Gefahr durch einen Felssturz. Vergangene Woche wurde die Bevölkerung über den Ablauf einer allfälligen Evakuierung informiert. Die Situation im Bereich der sogenannten «Insel» – einem Bereich oberhalb des Dorfes – sei zur Zeit «sehr beunruhigend», sagte ein Geologe an dem Informationsanlass, wie die Nachrichtenagentur Keystone-SDA meldete.
Bereits in der Nacht auf Ostern sei es zu einem kleinen Abbruch des rutschenden Gesteins gekommen. Die Behörden gehen deshalb davon aus, dass eine Evakuierung bereits im Frühsommer bis Ende Jahr aktuell wird. «Es laufen Planungen für eine Evakuierung des gesamten Dorfes. Noch aber ist nichts beschlossen», sagt Christian Gartmann auf Anfrage. Er ist Sprecher der Gemeinde Albula/Alvra, zu der das Dorf Brienz gehört, und Mitglied im Gemeindeführungsstab.
Evakuierungsplan für Kirche steht noch nicht
Betroffen von einer allfälligen Evakuierung wäre auch die Pfarrkirche St. Calixtus. Wie eine solche von statten gehen würde, ist offen. «Eine allenfalls anstehende Evakuierung wird zu gegebener Zeit von der Kirchgemeinde und den kantonalen Behörden organisiert und abgesprochen», sagt Dekan Kurt Susak. Die Kirchgemeinde selber will sich auf Anfrage nicht dazu äussern.
Flügelaltar stellt besondere Herausforderung dar
In der Pfarrkirche steht seit über 500 Jahren ein spätgotischer Flügelaltar. Von Kunstexperten wird dieser laut dem Dekan zu einem der schönsten und wertvollsten in ganz Europa gezählt. Eine Evakuierung des Flügelaltars stellt eine besondere technische Herausforderung dar.
Fachleute aus der Forschung und dem Denkmalschutz machten sich deshalb bereits in der Vergangenheit Gedanken dazu. Das zeigt ein Interview mit der Restauratorin Karolina Soppa im Informationsbulletin der Gemeinde Albula/Alvra, das im Juni 2022 veröffentlicht wurde. Laut Soppa stellt Zeitmangel bei einer Evakuierung die grösste Schwierigkeit dar. «Je schneller es gehen muss, desto höher ist das Schadensrisiko. Je mehr Vorbereitungszeit, desto schneller kann abgebaut werden», sagt Soppa.
Wann findet letztmals ein Gottesdienst statt?
Ob und wann zum letzten Mal – und sei es nur für eine bestimmte Zeit – in der Pfarrkirche Gottesdienst gefeiert werden kann, weiss zurzeit niemand. Das werde zu gegebener Zeit mit Blick auf die aktuelle Situation durch die Kirchgemeinde vor Ort und in Zusammenarbeit mit den kantonalen und kommunalen Behörden entschieden, sagt Dekan Kurt Susak. Noch viele Fragen sind also offen. Das ist eine belastende Situation, auch für die Katholikinnen und Katholiken im Dorf.
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