Detlef Pollack ist Religionssoziologe und Professor an der Universität Münster.
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Detlef Pollack: «Die Mehrheit der Katholiken denkt protestantisch»

Der Religionssoziologe Detlef Pollack (67) hält die katholische Kirche für bedingt reformierbar. Der Synodale Weg führe zu «einer radikal anderen Kirche» und wäre ein Bruch mit ihrem Kern. Den Medien gibt Pollack eine Mitschuld am negativen Bild der Kirche.

Annalena Müller

Herr Professor Pollack, ist die katholische Kirche reformierbar?

Detlef Pollack*: Sicher ist sie das. Aber es gibt Grenzen – und einige Forderungen, die im Kontext des Synodalen Weges und des synodalen Prozesses formuliert werden, gehen über diese Grenzen hinaus.

Inwiefern?

Pollack: Das Anliegen der katholischen Kirche ist es, etwas von der Herrlichkeit Gottes in der Welt sichtbar zu machen. Die katholische Kirche versteht sich als eine sakramentale Institution, die heilig ist. Als eine von Gott eingesetzte Institution verwaltet sie die Sakramente und besteht darauf, dass sich in der Spendung der Sakramente etwas vollzieht, worin die Präsenz Gottes in der Welt für Menschen erfahrbar wird.

«Dem geweihten Klerus kommt im Verständnis der Kirche eine Sonderrolle zu.»

Und für diese Erfahrbarkeit der Präsenz Gottes braucht es Kirche und Klerus als Mittler zwischen dem Diesseits und Jenseits?

Pollack: Genau. Die Erfahrbarkeit ist davon abhängig, dass es autorisierte, geweihte Personen gibt, die die Sakramente spenden. Im Verständnis der Kirche sind das die Priester. Diese wiederum sind durch die apostolische Sukzession autorisiert. Sie führen also ihre sakramentale Autorität letztendlich auf Christus selbst zurück. Die Autorität der Priester leitet sich ausserdem durch die Weihe her, die sie von anderen erhalten, die bereits über diese sakramentale Autorität verfügen. Erst durch die Weihe und die Anknüpfung an die Sukzession sind sie autorisiert, diese Mittlerrolle zwischen Welt und Gott zu übernehmen.

Der Klerus ist also essenziell für das kirchliche Selbstverständnis?

Pollack: Dem geweihten Klerus kommt im Verständnis der Kirche eine Sonderrolle zu. Wenn jetzt im Kontext des synodalen Prozesses gefordert wird, die Differenz zwischen Geweihten und Nicht-Geweihten aufzuheben, wenn man sagt, das Priestertum ist allenfalls das Priestertum aller Gläubigen oder aller Getauften, dann verwischt man das, was die katholische Kirche im Kern ausmacht.

Geschützt im Kircheninneren: das göttliche Geheimnis dessen Mittlerin die katholische Kirche ist.
Geschützt im Kircheninneren: das göttliche Geheimnis dessen Mittlerin die katholische Kirche ist.

Ist es wichtig, dass der Klerus männlich ist?

Pollack: Nein, das ist nicht wichtig. Bedeutsam aber ist der Zölibat, denn mit diesem vollzieht der Klerus, ob männlich oder weiblich, eine Absonderung von der Welt, ohne die es ein Heiliges nicht geben kann.

Ist das historische Bild nicht komplexer? Die monarchistische Papst-Kirche und die strikte Trennung von Kirche und Welt sind doch Produkte des 19. Jahrhunderts…

Pollack: Da muss ich widersprechen! Ich glaube, dass dies eine bequeme Ideologie zur Legitimation kirchlicher Reformen ist. Man schiebt die Schuld für die hierarchische Struktur der Kirche auf das böse 19. Jahrhundert. Aber die Kirche des 19. Jahrhundert ist das Ergebnis von jahrhundertelangen Anstrengungen zum Aufbau einer auf Unter- und Überordnung beruhenden Institution.

Aber dennoch konnten in der Kirche des Mittelalters Laien und Laiinnen an wichtigen Prozessen teilhaben, auch was das Vermitteln zischen Diesseits und Jenseits angeht. Das Gebet von Nonnen galt als besonders wirkmächtig. Könige und Kaiser haben etwa Synoden einberufen und geleitet. Die Grenzen waren nicht so eindeutig wie heute, oder?

Pollack: Gleichzeitig hat sich die Kirche immer klar von der Welt abgegrenzt. Im 11. Jahrhundert zieht das Reformpapsttum eine zunehmend klare Trennung zwischen Kirche und Welt. Die Kirche besteht darauf, dass nur sie selbst darüber entscheiden kann, wer geweiht werden kann, wer Bischof, Abt und Äbtissin werden kann. Sie besteht darauf, dass nur geweihte Personen andere weihen können und wehrt sich heftig gegen Eingriffe durch Kaiser und Könige. Damit befreit sie sich aus ihrer Abhängigkeit von weltlichen Autoritäten und ihrer Einbindung in die feudal verfasste Gesellschaft.

«Die Priester regulieren den Zugang zum Kern rituell»

Aber nichtsdestotrotz setzen Könige zum Beispiel in Frankreich bis in die Neuzeit Bischöfe und Äbtissinnen ein…

Pollack: Ja, natürlich. Aber diese Praxis wich schon damals von dem ab, was die Kirche eigentlich anstrebte. Entsprechend konfliktreich war auch das Verhältnis zwischen Papst und König. Der Kirche geht es seit jeher um die Bewahrung des heiligen Gutes, das sie verwaltet und das vor profanem Zugriff geschützt werden muss. Diesem Schutz dient auch die Unterscheidung von Klerikern und Laien. Um den heiligen Kern der Kirche ist gewissermassen ein Mantel gelegt. Und die Priester sind diejenigen, die den Zugang zum Kern rituell regulieren.

Das heisst, würde die Kirche im Zuge des synodalen Prozesses die Grenzen zwischen Geweihten und Nicht-Geweihten lockern, würde sie ihren eigenen Kern schwächen?

Pollack: Eine Lockerung ist nicht unmöglich. Aber man muss sich in der Diskussion bewusst machen, dass die Kirche über Jahrhunderte hinweg alles getan hat, um diese Grenze zu stärken. Das ist nicht nur charismatisch abgesichert, sondern auch kirchenrechtlich. Die Lehre von der Kirche und den Sakramenten ist auch dasjenige Charakteristikum, das sie von den evangelischen Kirchen unterscheidet. Gegen den hierokratischen Machtanspruch Roms führt Luther die Idee der Priesterschaft aller Getauften ein. Eine entsprechende Öffnung von Seiten der katholischen Kirche würde diese Differenz nivellieren.

«Die überwiegende Mehrheit der Katholiken und Katholikinnen glaubt nicht mehr, dass die Kirche heilig ist»

Bei jedem neuen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche steigen die Austrittszahlen bei den Reformierten. Anders formuliert – die Differenzierung zwischen katholisch und protestantisch existiert im Verständnis der meisten Menschen doch gar nicht mehr, oder?

Pollack: Die überwiegende Mehrheit der Katholiken und Katholikinnen in Deutschland glaubt heute nicht mehr daran, dass die Kirche heilig ist, auch wenn das so im Glaubensbekenntnis steht. Als Religionssoziologe bin ich nicht in der Position, der Kirche Empfehlungen zu geben. Aber von einer beobachtenden, analytischen Perspektive muss ich konstatieren: Die Reformvorstellung vieler Katholikinnen und Katholiken, einschliesslich derer, die sich beim Synodalen Weg engagieren, führt zu einer im Kern radikal andere Kirche, als die, welche sie historisch haben.

Sind Europas Reformkatholiken und -katholikinnen also innerlich protestantisch ohne es zu wissen?

Pollack: Ich würde sagen, dass die überwiegende Mehrheit der Katholiken und Katholikinnen in Deutschland tatsächlich protestantisch denkt. In einigen Monaten wird die neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung** der Evangelischen Kirche in Deutschland erscheinen, an der ich mitgearbeitet habe. Darin geben zwischen 86 und 88 Prozent aller Befragten an, dass alle Religionen in gleichem Masse Recht und Unrecht haben. Auffallend ist, dass wir keine Differenz zwischen den Angehörigen der Konfessionen und den Konfessionslosen messen konnten. Ein Sonderbewusstsein unter den Katholiken liess sich ebenfalls nicht feststellen.

Mit 500 Jahren Verspätung: Der Synodalen Wege fordert, was Protestanten schon lange haben: das Priestertum aller.
Mit 500 Jahren Verspätung: Der Synodalen Wege fordert, was Protestanten schon lange haben: das Priestertum aller.

Wie kann die Amtskirche, die sich weiterhin als heilige Mittlerin sieht, diesem Spannungsfeld – von Selbstverständnis und Fremderwartung begegnen?

Pollack: Die Kirche kann mit der Zeit gehen, und das macht sie auch. Sie muss allerdings Veränderungen aus sich heraus, also aus ihrer Tradition und der Bibel begründen. Als Soziologe weiss ich, dass auch verfestigte Institutionen in der Lage sind, sich zu reformieren, wenn sie sich auf ihre Tradition besinnen. Das gilt auch für die katholische Kirche. Gleichwohl es gibt eine starke Spannung zwischen dem Zeitgeist und dem, was die Kirche ist.

Im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger haben Sie den Medien eine Mitschuld am negativen Bild der katholischen Kirche gegeben. Wie meinen Sie das?

Pollack: Ich bin darüber verwundert, dass die Medien den Bischöfen unterstellen, ihnen wäre der massenhafte Abfall von der Kirche gleichgültig, sie sässen gar auf dem hohen Ross und würden ernsthafte Reformen in der Kirche gar nicht anstreben. Das halte ich für völlig unrealistisch und mitunter sogar für böswillig.

Haben laut Pollack aus der Vergangenheit gelernt: die deutschen Bischöfe beim Ad-limina-Besuch.
Haben laut Pollack aus der Vergangenheit gelernt: die deutschen Bischöfe beim Ad-limina-Besuch.

Die Medien schreiben also den Niedergang der Kirche herbei?

Pollack: Das nicht, aber ich habe das Gefühl, dass die Medien ein Klischee bedienen. Ein Klischee, das vor 20 Jahren vielleicht wahr war, das aber heute nicht mehr zutrifft. Seit Jahren sagen die deutschen Bischöfe: «Es schmerzt uns, wenn Menschen die Kirche verlassen». «Wir müssen die Gründe dafür ernst nehmen, und wir müssen Respekt haben vor denjenigen, die nicht mehr zu uns gehören wollen.» Das sind die immer wieder vorgebrachten Äusserungen der Bischöfe, und die Medien machen daraus: «Die Bischöfe haben es immer noch nicht begriffen.» Ich glaube, dass die Medien den Kulturwandel, der sich unter den Bischöfen in den letzten 20 Jahren vollzogen hat, nicht sehen oder nicht sehen wollen.

Warum nicht?

Pollack: Wahrscheinlich weil sie davon ausgehen, dass das Anschreiben gegen böse, elitäre Bischöfe, denen vermeintlich alles egal ist, mehr Aufmerksamkeit bringt. Ich wünschte mir eine differenziertere Berichterstattung zu dem Thema.

*Detlef Pollack (67) ist Religionssoziologe und forscht seit 2008 im Rahmen des Exzellenzclusters Religion und Politik an der Universität Münster. Er ist Protestant.

**Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) ist ein religionssoziologisches Langzeit-Forschungsprogramm der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Seit 1972 untersucht die KMU in zehnjährigem Abstand die Entwicklung von Einstellungen und Praktiken im Bereich Religion und Kirche in Deutschland.

Die Datenerhebung zur aktuellen KMU fand 2022 statt. Schwerpunkte sind u. a. Vergleiche zwischen Katholikinnen, Protestanten und Konfessionslosen, die Analyse regionaler Unterschiede der Religiosität, Zusammenhänge zwischen Kirchenbindung und gesellschaftspolitischen Orientierungen sowie die Wahrnehmung und Erwartung an kirchliche Reformprozesse. Die Auswertungen werden ab Ende 2023 in mehreren Bänden veröffentlicht.


Detlef Pollack ist Religionssoziologe und Professor an der Universität Münster. | © Lena Giovanazzi
6. Juli 2023 | 16:45
Lesezeit: ca. 6 Min.
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