Charles Martig präsentiert eine ungeschönte Analyse des Umgangs der Kirche mit dem Missbrauch.
Schweiz

Charles Martig: «Rücktrittsforderung an alle Bischöfe der Schweiz ist berechtigt»

Es ist eine Abrechnung in Form von «Bekenntnissen». Charles Martig hat sich mit einer ungeschönten Analyse des Umgangs der Kirche mit dem Missbrauch als Direktor und Chefredaktor des Katholischen Medienzentrums verabschiedet. Das einzige, was helfen könne, sei Transparenz. «Ich hoffe, dass kath.ch dazu weiterhin einen Beitrag leistet.»

Barbara Ludwig*

Die Ansprache von Charles Martig (58) am Dienstagnachmittag dauerte fast 45 Minuten. Darin analysierte der scheidende Direktor und Chefredaktor des Katholischen Medienzentrums den Umgang der katholischen Kirche Schweiz mit der Missbrauchskrise. Rund 45 Personen hörten zu, nebst Vereinsmitgliedern waren dies auch Gäste und Mitarbeitende der Redaktion kath.ch.

Heute vertieftere Auseinandersetzung mit Missbrauch

Noch 2018 hatte Martig aufgrund einer Äusserung des damaligen Schweizer Medienbischofs Alain de Raemy den Eindruck, die Bischöfe sähen keinen Sinn in der Berichterstattung über Missbrauch in der Kirche – was ihn überzeugt habe, dass «wir auf kath.ch weiterhin über das Thema Missbrauch berichten müssen».

Anfang 2024 und nach der nationalen Medienkonferenz vom 12. September zum Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche Schweiz stehe man «an einem ganz anderen Ort», stellte er fest. «Die Diskussion wird viel vertiefter und ernsthafter geführt.»

Publikum an der Generalversammlung des Katholischen Medienzentrums.
Publikum an der Generalversammlung des Katholischen Medienzentrums.

Dennoch sei man erst am Anfang eines beschwerlichen Weges. «Bis jetzt sind alle Massnahmen nur Versprechen für die Zukunft. Und das mehr als 20 Jahre nach der ersten öffentlichen Diskussion in den USA und 14 Jahre nach dem Ausbruch der Krise in Deutschland», kritisierte Martig.

An Bischöfen verzweifelt

In seiner Rede, in die er in Anspielung auf den Kirchenvater Augustinus eine Reihe von teils privaten «Bekenntnissen» einflocht, zeigte sich der Theologe sehr frustriert über Kirche und Bischöfe.

Der Pop-Song «Losing My Religion» der Rock-Band R.E.M. – das Stück, das er seit letztem Herbst am meisten auf Spotify gehört habe, sei auch Ausdruck seiner Befindlichkeit. «Losing My Religion» stehe für eine Verlusterfahrung und für eine «Verzweiflung an den Schweizer Bischöfen, so Martig. «Sie sind an der Missbrauchsthematik gescheitert.» Der Vertrauensverlust in der Bevölkerung sei enorm.

Aktuelle Medienberichte bestärken Martig offensichtlich in seiner Sicht der Dinge. Sie versprechen «wenig Aussicht auf Besserung» meinte der Journalist und verwies gleich auf zwei Artikel in der aktuellen Ausgabe des «Beobachters».

In einem geht es um die Rüge des Vatikans für den Basler Bischof Felix Gmür im Umgang mit dem Missbrauchsfall «Denise Nussbaumer» (Pseudonym) und im anderen um den Fall «Walter Gerzner», der das Kloster Einsiedeln betrifft und der das Verhalten von Abt Urban Federer kritisch beleuchtet. Daraus schliesst Martig, es brauche kritische Journalistinnen und Journalisten, die nachfragen und die dran bleiben.

«Das Versagen der katholischen Kirche beim Missbrauch multipliziert sich mit der defensiven Kommunikation.»

Charles Martig

Solche Berichte über kirchliche Führungskräfte seien in ihrer Aussenwirkung verheerend. Es bleibe der Eindruck, dass weiterhin Schadensbegrenzung betrieben werde und der Schutz von Klerikern und Klosterbrüdern wichtiger sei als die Aufklärung, so Martig. Er hält fest: «Das Versagen der katholischen Kirche beim Missbrauch multipliziert sich mit der defensiven Kommunikation.»

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Im September scheute Chefredaktor Martig noch zurück, die Bischöfe öffentlich zum Rücktritt aufzufordern, obschon dies die «einzig richtige Antwort» auf das Versagen der Bischöfe und insbesondere der Bischofskonferenz beim Thema Missbrauch gewesen wäre, wie er am Dienstag erklärte. «Kath.ch wäre als ‹Bischofsmörder› dagestanden.»

Damals sei ihm eine Rücktrittsforderung «als institutioneller Selbstmord» erschienen – hatte er doch als Direktor auch Verantwortung für das Medienzentrum und dessen Mitarbeitende.

Bischöfe «unfähig» zur Führung durch Krise

Unterdessen hat er seine Meinung geändert. Aus heutiger Sicht müsse er sagen: «Die Rücktrittsforderung an alle Bischöfe der Schweiz ist berechtigt. Sie haben sich unfähig erwiesen, die Kirche durch die Krise zu führen.» Der Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit sei enorm.

Charles Martig bei seinem Abschiedsreferat
Charles Martig bei seinem Abschiedsreferat

In einem Abschnitt über die Medien führte Martig aus, wie es dem Katholischen Medienzentrum gelungen sei, sich aus der Krise der katholischen Publizistik zu befreien. Allerdings zu einem sehr hohen Preis. Als Direktor und später Chefredaktor habe er seit der Schärfung des Profils von kath.ch 2019 «unzählige Konflikte» ausgetragen.

Fachportal soll Lücke füllen

In der Schweizer Medienwelt falle Religion als Thema vollständig aus. Mit kath.ch habe er ein Fachportal aufbauen wollen, das genau diese Lücke füllt, erklärte Martig. «Der Versuch war sehr erfolgreich», bilanzierte er und fügte mit Blick auf eine kritische Stellungnahme der Bischofskonferenz zum Portal hinzu: «Sogar so erfolgreich, dass sich die Bischofskonferenz öffentlich davon distanziert.» Ein ironischer Satz, der für einiges Schmunzeln im Pfarrsaal von St. Peter und Paul in Zürich sorgte.

Das Urteil von Charles Martig ist hart: Die römisch-katholische Kirche leide vor allem an ihrer Kultur des «päpstlichen Geheimnisses», ihrer Verschleierung von Macht und einer grassierenden Intransparenz, hielt er fest. In der klerikalen Hierarchie paare sich diese Kultur mit Dilettantismus und Unprofessionalität – ein «toxischer Cocktail».

Forderung nach Transparenz

Der Theologe sieht nur ein Heilmittel dagegen: die Arbeit an der Transparenz. «Ich hoffe, dass kath.ch dazu einen Beitrag geleistet hat und weiterhin leistet.» Zum Thema Transparenz gehört laut Martig auch, dass Entscheidungen der Bischöfe offen gelegt werden. Damit verknüpfte der scheidende Direktor gleich eine konkrete Forderung.

Annalena Müller
Annalena Müller

So will Martig wissen, warum die Schweizer Bischöfe der kath.ch-Journalistin Annalena Müller das «Nihil obstat» (Unbedenklichkeitserklärung, d. Red.) verweigerten. «Können wir mit einer öffentlichen Erklärung des amtierenden Medienbischofs rechnen?», fragte er an die Adresse von Martin Wey, der als Vertreter der Schweizer Bischofskonferenz anwesend war.

Martin Wey, Vertreter der Bischofskonferenz, soll mit einer Nachfrage im Gepäck zu den Bischöfen zurückkehren.
Martin Wey, Vertreter der Bischofskonferenz, soll mit einer Nachfrage im Gepäck zu den Bischöfen zurückkehren.

Der Vorstand des Katholischen Medienzentrums wollte Annalena Müller zusammen mit einem Journalisten in die Leitung berufen, doch die Bischöfe als Auftraggeber entschieden sich vorletzte Woche dagegen.

Schmerzhaft, aber auch befreiend

Ein kritischer katholischer Journalismus sei heute notwendiger denn je, zeigte sich Martig überzeugt. «Der ungeschönte Blick auf die römisch-katholische Kirche und ihre Krise war für mich immer schmerzhaft, aber auch befreiend», sagte der Journalist in einem letzten Bekenntnis. Das Publikum bedankte sich mit einem langen und intensiven Applaus für das Referat, mit dem sich Charles Martig nach mehr als neun Jahren in der Leitung des Katholischen Medienzentrums verabschiedete. Ab 1. April arbeitet er für die römisch-katholische Landeskirche des Kantons Bern.

*Barbara Ludwig arbeitet als Redaktorin beim Katholischen Medienzentrum Zürich.


Charles Martig präsentiert eine ungeschönte Analyse des Umgangs der Kirche mit dem Missbrauch. | © Regula Pfeifer
20. März 2024 | 17:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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