Martin Flügel, Leiter "Politik und Public Affairs", vor dem Sitz von Caritas Schweiz in Luzern
Schweiz

Caritas-Lobbyist: «Weniger Abwehr bei bürgerlichen Parlamentariern»

Bern, 7.3.17 (kath.ch) Die Maschinerie in Bundesbern versteht er aus dem Effeff. Als Gewerkschaftsvertreter hat Martin Flügel (49) während Jahren grosse politische Erfahrung gesammelt. Nun ist er seit sechs Monaten «Leiter Politik» für Caritas Schweiz. Im Interview mit kath.ch gibt Flügel Einblick in seine Tätigkeit als Lobbyist und erzählt, was sich für ihn mit dem Wechsel vom Gewerkschaftsdachverband Travail.Suisse zum katholischen Hilfswerk verändert hat.

Barbara Ludwig

Herr Flügel, sind Sie als «Leiter Politik» bei Caritas Schweiz ein Lobbyist für das Hilfswerk?

Martin Flügel: Ja. Ich habe kein Problem mit dieser Bezeichnung.

Heisst das auch, man trifft Sie wie andere Lobbyisten in der Wandelhalle des Bundeshauses an?

Flügel: Es gehört zu meinen Aufgaben, während der Sessionen des Parlaments in der Wandelhalle präsent zu sein. Einmal wöchentlich bin ich während eines halben oder ganzen Tages dort, rede mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern, pflege den Austausch, verteile Unterlagen. Man soll sehen, dass Caritas Schweiz da ist. Wenn man in der Politik wahrgenommen werden will, muss man von Zeit zu Zeit im Bundeshaus präsent sein.

Wenn man in der Politik wahrgenommen werden will, muss man im Bundeshaus präsent sein.

Machen Sie jeweils Termine mit Politikern ab oder sprechen Sie die Personen spontan an?

Flügel: Wenn ich mit jemanden ein längeres Gespräch führen will, mache ich im Voraus einen Termin ab. Will ich während der Session Parlamentarier ansprechen, kann ich mich an eine Weibelin oder einen Weibel wenden. Als Lobbyist darf ich den Ratssaal nicht betreten. Ich bitte also einen Weibel, Herrn oder Frau XY aus dem Saal zu holen, und gebe ihm meine Visitenkarte mit.

Kommt der Politiker in die Wandelhalle, können wir fünf oder zehn Minuten miteinander sprechen, manchmal auch länger. Ich kann ihm mitteilen, woran wir bei Caritas Schweiz gerade arbeiten, was uns in einem bestimmten Bereich wichtig ist oder in welchen Fragen das Hilfswerk Informationen liefern kann. Manchmal haben die Leute keine Zeit. Dann muss ich es mehrmals versuchen. Der professionelle Weg führt über den Weibel. Einfach dort zu stehen und Leute zufällig anzusprechen wäre unprofessionell.

Sie überlegen sich also im Voraus, mit wem sie worüber reden möchten.

Flügel: Selbstverständlich. Die National- und Ständerate sind immer auch Mitglied von vorbereitenden Kommissionen und damit Spezialisten für gewisse Themen. Möchte ich mit jemandem über Migrationspolitik sprechen, muss ich ein Mitglied aus der Staatspolitischen Kommission kontaktieren, denn alle asylpolitischen Geschäfte werden zuerst dort behandelt. Geht es um Armutsfragen oder sozialpolitische Geschäfte wie etwa die Revision der Ergänzungsleistungen, muss ich Mitglieder der Kommission für soziale Sicherheit treffen.

Reden Sie vor allem mit Gleichgesinnten, um deren Unterstützung zu gewinnen, oder auch mit Personen, die andere Positionen vertreten als das Hilfswerk?

Flügel: Gespräche mit Politikern können mehrere Funktionen haben. Gleichgesinnte muss man nicht überzeugen. Dennoch ist es wichtig, mit ihnen den Kontakt zu pflegen. Es kann sein, dass man eines Tages gemeinsame Anliegen in den politischen Prozess einbringen kann.

Ich führe auch Gespräche mit Politikern, die nicht gleicher Meinung sind.

Mit gewissen Leuten wiederum spreche ich vor allem, um ihnen zu zeigen, dass Caritas Schweiz auch politische Grundlagenarbeit leistet. Dann gibt es Personen, denen ich das Hilfswerk und seine Haltung zu bestimmten Fragen vorstelle. Vielleicht teilen sie unseren Standpunkt nicht, aber nach dem Gespräch mit mir kennen sie zumindest unsere Argumente.

Und was wollen Sie von Parlamentariern, die politisch ganz anders ticken als Caritas Schweiz?

Flügel: Tatsächlich führe ich auch Gespräche mit Politikern, die prima vista nicht gleicher Meinung sind. Vielleicht lesen sie danach die Unterlagen, die ich ihnen überreicht habe. Vielleicht kommt es zu einem Meinungswechsel. Manchmal suche ich Personen mit anderen Standpunkten auch auf, damit sie wissen, es ist jemand da, der hinschaut.

Welches ist der Hauptzweck Ihrer Lobbyarbeit bei den Parlamentariern?

Flügel: Ich versuche primär, Haltungen und Meinungen zu beeinflussen zu Themen, die die Räte in näherer Zukunft beschäftigen werden. Es geht nicht unbedingt darum, dass die Parlamentarier Vorstösse in unserem Sinne einreichen, viele Vorstösse versanden einfach. Wichtig ist vielmehr, dass sie bereits informiert sind über die Position von Caritas Schweiz, wenn ein Geschäft ins Parlament kommt.

Sagt man nichts, hat man keinen Einfluss.

Politiker sind mit unzähligen Geschäften konfrontiert. Sie wollen sich nicht vorschreiben lassen, wie sie zu entscheiden haben. Aber sie wollen Informationen bekommen und Meinungen kennenlernen. Anschliessend bilden sie sich ihre eigene Meinung. Hier kommt es darauf an, wer Informationen liefert. Sagt man nichts, hat man keinen Einfluss. Äussert man sich, hat man durchaus Einfluss.

In welchen Sachbereichen will Caritas Schweiz Einfluss nehmen?

Flügel: Ganz sicher in der Flüchtlings- und Asylpolitik sowie in der Armutspolitik. Das sind ganz wichtige Themen für uns. Auch die Internationale Zusammenarbeit wollen wir beeinflussen. Allerdings ist in diesem Bereich die entwicklungspolitische Organisation «Alliance Sud» federführend, der Caritas Schweiz auch angehört.

Was tun Sie, bevor die Session in Bern losgeht?

Flügel: Es gibt viel vorzubereiten. Beispielsweise nehme ich immer ein Dokument von Caritas Schweiz mit. Dieses Zwei-Seiten-Papier erarbeiten wir im Hinblick auf die Session zu einem Thema, über das im Parlament erst zu einem späteren Zeitpunkt beraten wird. Mit diesem Papier kann ich unabhängig vom Tagesprogramm unterwegs sein und mit Parlamentariern Gespräche führen. Zudem beschliessen wir im Voraus, über welche laufenden Themen und Geschäfte wir während einer Session mit Ratsmitgliedern sprechen wollen und bereiten dazu Unterlagen vor.

Zu meiner Arbeit gehört auch zu überwachen, welche Geschäfte in den Kommissionen beraten werden. Es ist sinnvoll, mit Parlamentariern über Geschäfte zu sprechen, die sie demnächst in ihrer spezifischen Kommission behandeln. Denn Geschäfte, die aus den Kommissionen kommen, sind zu 80 oder 90 Prozent entschieden. Im Ratsplenum wird meist nicht mehr viel daran geändert.

Welche Kommissionen haben Sie auf dem Radar?

Flügel: Das hängt von den politischen Geschäften ab, die die Caritas Schweiz interessieren. Bei asylpolitischen Geschäften stehen die Staatspolitischen Kommissionen im Vordergrund. Für die Armutspolitik beobachte ich die Kommissionen für Soziale Sicherheit und Gesundheit und – im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik und der Entwicklungszusammenarbeit – die Aussenpolitischen Kommissionen.

Mich interessiert zudem, was die Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben machen: Hier geht es darum, wie viel Geld dem Staat für seine Aufgaben zur Verfügung steht. Auch die Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur oder die Rechtskommissionen sind wichtig.

Welche Rolle spielen Sie, wenn im Parlament der Moment der Entscheidung kommt?

Flügel: Meistens ist es dann gelaufen. In Einzelfällen – wenn man sieht, der Entscheid könnte knapp werden – kann man noch versuchen, den einen oder anderen Parlamentarier umzustimmen. Nur selten kann man Entscheidungen noch beeinflussen, wenn das Geschäft einmal im Rat ist.

Nach Parlamentsentscheiden ist die Kommunikation wichtig.

Nach Parlamentsentscheiden ist hingegen die Kommunikation wichtig. Caritas Schweiz nimmt auch Stellung zu Parlamentsbeschlüssen. Das muss schnell passieren. Eine bis zwei Stunden nach dem Entscheid muss das Communiqué veröffentlicht werden. Es gehört zu meinen Aufgaben, dieses vorzubereiten und in Zusammenarbeit mit der Kommunikationsabteilung für den Versand zu sorgen.

Was bringen Sie aus Ihrer Vergangenheit als Gewerkschaftsvertreter mit, das Ihnen heute bei der Tätigkeit für Caritas Schweiz hilft?

Flügel: Wenn man seine Arbeit als Lobbyist vernünftig machen will, muss man die Maschinerie in Bundesbern kennen. Politik ist zu einem grossen Teil Handwerk. Nur wer weiss, welchen Weg ein Geschäft nimmt, in welchem Stadium man Einfluss nehmen kann und wann nicht mehr, kann Erfolg haben. Dieses entscheidende Knowhow bringe ich mit.

Ausserdem habe ich ein grosses Netzwerk. Ich kann mich an viele Personen direkt wenden. Für wichtiger erachte ich allerdings das Wissen über die Funktionsweise der politischen Maschinerie.

Sind sind nun seit sechs Monaten bei Caritas Schweiz. Gibt es etwas, das Sie seit Ihrem Stellenantritt überrascht hat?

Flügel: Die Breite, mit der Caritas Schweiz unterwegs ist. Mir war nicht bewusst, dass die Organisation in derart vielen unterschiedlichen Bereichen tätig ist. Zu nennen wäre da etwa die Betreuung und Beratung von Asylsuchenden und Flüchtlingen, die Schuldenberatung, die Platzierung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien, die humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit. Diese Vielfalt an Aktivitäten finde ich sehr spannend.

Mein Job ist anspruchsvoller, weil Caritas institutionell weniger eingebunden ist.

Ist es schwieriger, für das Hilfswerk zu lobbyieren als für den Gewerkschaftsdachverband Travail.Suisse?

Flügel: Ja. Es ist anspruchsvoller, weil Caritas Schweiz institutionell weniger eingebunden ist. Gewerkschaften werden in gewisse Prozesse automatisch einbezogen. Bei dem Hilfswerk ist das weniger der Fall.

Können Sie das etwas ausführen?

Flügel: Gewerkschaften gehören zum Beispiel traditionell sogenannten ausserparlamentarischen Kommissionen des Bundes an. Etwa der AHV-Kommission, der Kommission für Wirtschaftspolitik oder der Arbeitskommission. Überall dort, wo die Verwaltung den Austausch pflegt, sind die Gewerkschaften voll mit dabei. Travail.Suisse ist zudem ständiger Vernehmlassungspartner. Der Gewerkschaftsdachverband erhält somit bei jedem Entwurf für einen Rechtserlass Gelegenheit, Stellung zu beziehen. Die entsprechenden Unterlagen werden ihm automatisch zugesandt.

Bei Caritas Schweiz muss ich hingegen viel mehr leisten, um auf dem Laufenden zu bleiben. Das ist eine Herausforderung.

Warum ist das Hilfswerk weniger eingebunden?

Flügel: Die Kommissionen für die Bereiche, in denen Caritas Schweiz tätig ist, existieren oft gar nicht. Dies gilt etwa für die Armutspolitik. Der Bund sagt, dies sei eine Aufgabe der Kantone. Und wenn es Kommissionen für Caritas-Themen gibt, ist von den zahlreichen Hilfswerken nur eines vertreten.

Was hat sich sonst für Sie verändert, seit Sie für Caritas Schweiz arbeiten?

Flügel: Ich werde anders wahrgenommen. Als Gewerkschafter wird man sehr stark einer bestimmten Ecke zugeordnet und wirkt polarisierend. Es gibt immer eine Gegenseite, nämlich die Arbeitgeber. Und die haben meist entgegengesetzte Interessen.

Ich spüre weniger Abwehr.

Als Vertreter eines Hilfswerks habe ich hingegen nicht das Gefühl, dass es einen Gegner gibt. Gerade mit bürgerlichen Parlamentariern kann ich heute tendenziell einfacher reden.

Spüren Sie mehr Goodwill?

Flügel: Nein. Goodwill ist ein grosses Wort. Aber ich spüre weniger Abwehr, weniger Vorbehalte, das ganz sicher.

 

Caritas Schweiz will mit neuer Stelle politische Präsenz stärken

Martin Flügel, Leiter «Politik und Public Affairs», vor dem Sitz von Caritas Schweiz in Luzern | © Barbara Ludwig
7. März 2017 | 15:40
Lesezeit: ca. 6 Min.
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Martin Flügel

Martin Flügel ist seit dem 1. September 2016 «Leiter Politik und Public Affairs» bei Caritas Schweiz in Luzern. Der 49-Jährige studierte an der Universität Bern Philosophie und Volkswirtschaft. Während 15 Jahren arbeitete er beim Gewerkschaftsdachverband Travail.Suisse. Zunächst war Flügel dort für Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik zuständig. Von 2008 bis 2015 war er Präsident und Geschäftsführer von Travail.Suisse.

Neue Funktion bei Caritas

Flügel sei der erste Mitarbeiter in der neu geschaffenen Funktion, sagte Stefan Gribi, Leiter Abteilung Kommunikation bei Caritas Schweiz, gegenüber kath.ch. Das Hilfswerk habe jedoch schon vorher gezielt den Dialog mit der Politik gesucht, einerseits durch seinen Direktor, andererseits durch die Fachleute des Bereichs Grundlagen. «Mit der Schaffung der Stelle für Politik und Public Affairs wurde diese Arbeit nun intensiviert», so Gribi. (bal)