Mandy Zeckra, Caritas Schweiz
Schweiz

Caritas: «Flüchtlinge glauben oft nicht, dass die Grenzen zugemacht werden»

Bern, 11.4.16 (kath.ch) Seit fünf Jahren herrscht in Syrien Krieg. Viele Syrer sind in die umliegenden Nachbarländer geflohen. Wie die Menschen dort leben und weshalb sie oftmals weiter nach Europa aufbrechen, davon berichtet Mandy Zeckra, Programmverantwortliche für die Syrienkrise bei Caritas Schweiz.

Sylvia Stam

Wie sieht der Alltag syrischer Flüchtlinge in den Nachbarländern aus?

Mandy Zeckra: Im Libanon leben eine Million syrische Flüchtlinge zusammen mit vier Millionen Einheimischen. Überall sieht man kleine Planhütten an Strassenrändern, in denen die Menschen wohnen. In den Grenzregionen des Libanons gibt es auch Lager, aber über 80 Prozent der Flüchtlinge leben in den Städten.

Können die Kinder zur Schule? Arbeiten die Erwachsenen?

Zeckra: In den Nachbarländern Syriens gehen derzeit etwa 700’000 Kinder nicht in die Schule. Man sieht in den Strassen Mütter und Kinder, die vor den Zelten sitzen. Arbeiten dürfen die Erwachsenen nicht, sonst würde ihnen der Asylstatus nicht gewährt. Um von der Uno Unterstützung zu bekommen, müssen sie als Flüchtlinge registriert sein.

Teilweise arbeiten die Flüchtlinge schwarz. Weil es unter den Flüchtlingen billige Arbeitskräfte gibt, boomt das Baugeschäft im Libanon.

Wenn sie nicht schwarzarbeiten, sind sie auf Hilfsgelder angewiesen.

Zeckra: Ja, aber das gilt auch für jene, die schwarzarbeiten. Viele versuchen, mit Schwarzarbeit das Basiseinkommen der Familie zu sichern. Aber das so erwirtschaftete Einkommen ersetzt in der Regel die Unterstützung nur zum Teil. Mietzuschüsse beispielsweise sind für die Menschen enorm wichtig, denn die Kosten für Wohnraum sind enorm gestiegen. Selbst eine kleine Hütte in den Bergen kostet um die 400 bis 500 US-Dollar im Monat.

Wie reagiert die einheimische Bevölkerung auf die grosse Anzahl Flüchtlinge?

Zeckra: Die Hilfsbereitschaft ist weiterhin gross. Schwierig ist die Situation jedoch für die Menschen, die selbst auch von Armut betroffen sind. Ihr Unmut kann sich in politischen Forderungen äussern. Doch weil die Regierung seit zehn Monaten nicht mehr im Kabinett getagt hat, also praktisch handlungsunfähig ist, werden diese Forderungen aus der Bevölkerung nicht bearbeitet. So wirkt die Flüchtlingskrise destabilisierend. Das ist ein Pulverfass.

Gilt das auch für andere Nachbarländer?

Zeckra: In Jordanien gibt die Regierung viel mehr Gegensteuer. Sie hat beispielsweise bestimmt, dass 70 Prozent eines Projekts für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt werden, 30 Prozent der Begünstigten müssen Jordanier sein. Die vielen Flüchtlinge sind aber dennoch für das soziale Netz eine enorme Belastung.

Was ist die grösste Angst der Menschen vor Ort?

Zeckra: Die Menschen vor Ort befürchten vor allem, dass es zu mehr ethnischer Zersplitterung der Region kommt, je länger der Konflikt andauert. Wenn beispielsweise eigene Gebiete für Kurden, für Palästinenser oder für andere Ethnien entstünden, würde die Vielfalt im Nahen Osten verschwinden.

Wie wird die europäische Flüchtlingspolitik unter den Flüchtlingen wahrgenommen?

Zeckra: Sie ist sehr weit weg. Syrische oder afghanische Flüchtlinge in Griechenland glauben oft nicht, dass die Grenzen zugemacht werden, oder sie blenden solche Informationen aus. Es gibt durchaus viele gut Informierte, aber es gibt auch andere, die traumatisiert sind, etwa, weil sie auf der Überfahrt ein Kind verloren haben. Diese Menschen verstehen nicht, warum sie kein Recht haben, weiterzufahren. Die Menschen in Syrien und in den Nachbarländern haben die Hoffnung verloren, dass sie Situation vor Ort besser wird. Diese Perspektivlosigkeit ist der Anlass, nach Europa zu gehen, unabhängig von der europäischen Flüchtlingspolitik.

Inwiefern kann Caritas Perspektiven bieten?

Zeckra: Nonprofit-Organisationen können Bildung anbieten, beispielsweise Berufs- und Weiterbildung, und so versuchen, eine Perspektive aufzuzeigen. Wir können die soziale Situation entschärfen, sei es durch psychologische Hilfe, oder indem die Menschen für eine begrenzte Zeit eine Beschäftigung bekommen, dank der sie ihre Familie ernähren können.

Ideal wäre, all diesen Menschen Arbeitsstellen anbieten zu können. Doch dazu müsste man Millionen an neuen Jobs kreieren – Da kommt eine NGO wie wir an ihre Grenzen, besonders in einer wirtschaftlich schwierigen Region. (sys/rp)

Mandy Zeckra ist Senior Programmverantwortliche für die Syrienkrise/Flüchtlinge bei Caritas Schweiz.

Statsiktik zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge.

 «Es ist eine falsche Behauptung, Europa verliere seine Identität!»

Mandy Zeckra, Caritas Schweiz | © 2016 Sylvia Stam
11. April 2016 | 11:09
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