Sophie Bürgi und Selina Summermatter als Ordensfrauen: Diese leisten seit Jahrhunderten unverzichtbare Care-Arbeit
Religion anders

Care-Arbeit: Wen kümmerts? Zum Beispiel die Kirchen

Sorge-Arbeit hat in der Kirche eine lange Tradition. Mit Blick auf die Bedürftigkeit eines Jesuskindes gehört Care zur Kernbotschaft des Christentums, wie die Philosophin Caroline Krüger sagt. Auf einem neuen Stadtrundgang durch Aarau wird die Geschichte der Care-Arbeit aufgerollt mit vielen religiösen Bezügen.

Eva Meienberg

«Care ist die Zuwendung, ohne die kein Mensch die ersten Jahre seines Lebens überlebt. Care ist grundlegend für jeden Menschen während seines ganzen Lebens», sagt Caroline Krüger. Sie ist Philosophin und engagiert sich im Vorstand des Vereins «Wirtschaft ist Care».

Von «Care» zu «Cure»

Der englische Begriff care hat sich auch im deutschsprachigen Raum durchgesetzt, weil er neben seiner Bedeutung Pflege auch als Verb gelesen werden kann: sich kümmern. Ausserdem sei care nahe beim Wort cure, was Heilung bedeutet. «Wir können nicht alles heilen, aber wir können uns dennoch kümmern, für jemanden sorgen», bringt es Caroline Krüger auf den Punkt.

Vom Baby stillen zum Meerschweinchenkäfig putzen

Care ist Arbeit: Baby stillen, Prüfungsvorbereitung mit dem Teenager, Meerschweinchenkäfig putzen, einkaufen für die Nachbarin mit gebrochenem Bein, staubsaugen, WC putzen, Winterkleider im Estrich versorgen, Arzttermine organisieren, die betagte Mutter zum Arzt begleiten… Vier Fünftel der Care-Arbeit ist unbezahlt. Der überwiegende Teil dieser Arbeit ist Kinderbetreuung. Zwei Drittel dieser Arbeit wird in der Schweiz von Frauen gemacht.

Sophie Bürgi und Selina Summermatter haben die Führung geleitet
Sophie Bürgi und Selina Summermatter haben die Führung geleitet

«Das ist keine Arbeit, ich kümmere mich aus Liebe», zitiert Caroline Krüger ein oft gehörtes Argument. Für die Philosophin ist Arbeit und Liebe kein Widerspruch. In ihrer Ökonomie bildet die Care-Arbeit gar der Mittelpunkt des Wirtschaftens. Denn ohne die sogenannte reproduktive Arbeit – das Gebären, die Hausarbeit – sei keine produktive Arbeit möglich.

Ganze Wirtschaft in den Blick nehmen

Caroline Krüger will die ganze Wirtschaft in den Blick nehmen und plädiert für ein neues Menschenbild. Denn das der traditionellen Wirtschaft sei falsch. Darin sei der Mensch prototypisch ein erwachsener Mann, gesund und autonom. Aber das stimme nicht. «Wir sind auch Frauen, schwanger, beeinträchtigt, alt, krank und unmündig und vor allem sind wir alle zuerst Babys und total abhängig.»

«Im Christentum wird Gott Mensch und ist zuerst ein Baby».

Caroline Krüger

Das Menschenbild, von dem wir ausgehen, sollte sich daher eher am Baby orientieren und unsere Bedürftigkeit nicht verleugnen, sagt die Philosophin und verweist auf das Jesus-Kind. «Im Christentum wird Gott Mensch und ist zuerst ein Baby».

Was die Abhängigkeit dieses Gottes für uns Menschen bedeuten könne, stellt Caroline Krüger zur Diskussion. Care spiele eine wichtige Rolle in der christlichen Religion: von der Caritas über die Seelsorge zur Spiritual Care.

Lange Tradition

Tatsächlich hat die Care-Arbeit im kirchlichen Kontext eine lange Tradition. Dies zeigt auch ein neuer historischer Spaziergang in Aarau, der am 23. September Premiere hatte. Dieser beginnt an der Feerstrasse bei der Missione Cattolica Italiana.

Auf den Spuren der Care-Arbeit in der Stadt Aarau
Auf den Spuren der Care-Arbeit in der Stadt Aarau

Da kümmerten sich ab den 1960er-Jahren zumeist italienische Ordensfrauen um die Kinder der Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Italien. Im sogenannten Asilo – einer Kindertagesstätte – oder der Dopposcuola, in der die Kinder nach der Schule Hausaufgaben machten, wurden die Kinder betreut, bis die Eltern von der Arbeit nach Hause kamen.

Denn anders als in vielen Schweizer Familien, wo meist der Mann einer Erwerbsarbeit nachging und die Frau zu Hause die unbezahlte Care-Arbeit erledigte, arbeiteten in den Migrationsfamilien Vater und Mutter, um finanziell über die Runden zu kommen.

Stadtspital Aarau

Viel weiter zurück in der Geschichte der Stadt Aarau liegt die Stiftung des Stadtspitals Aarau durch Gertrud Wagner im Jahr 1344. Der Stadtrundgang macht dazu beim Saxerhaus halt, das am Ende des 17. Jahrhunderts auf dem Gelände des ehemaligen Spitals gebaut wurde. Gertrud Wagner gehörte einer Schwesterngemeinschaft an, den sogenannten Beginen.

Traditionelle Rollenbilder wirken bis heute
Traditionelle Rollenbilder wirken bis heute

Das mittelalterliche Spitel war eine Fürsorgeeinrichtung für Arme, Waisen, Alte und Kranke. Hier schlagen die Stadtführerinnen den Bogen zur heutigen Situation im Pflege-Sektor, der trotz der Pflegeinitiative, die das Stimmvolk 2021 beschlossen hat, noch immer prekäre Arbeitsverhältnisse aufweist.

Care-Rundgang

Eine weitere Station auf dem Care-Rundgang ist das Pflegeheim Golatti. Wo heute Menschen gepflegt werden, lebten zwischen dem 13. bis 16. Jahrhundert die besagten Beginen in der Stadt Aarau. Die geweihten Frauen lebten dort in loser Gemeinschaft. Die Stadt unterstützte die Frauen grosszügig. Im Gegenzug arbeiteten die frommen Frauen in der Pflege Kranker und beteten für das Seelenheil der Stadtbürger, die sich das auch etwas kosten liessen.

Als Profi für spirituelle Sorgearbeit kommt auf dem Stadtrundgang auch Priorin Irene aus dem Kloster Fahr zu Wort. Die Benediktinerin macht sich dabei für eine lebensnahe und praktische Seelsorgearbeit stark und für die Selbstermächtigung aller Getauften.

Sakramentenspende

Denn traditionell ist in der katholischen Kirche die Sakramentenspende den geweihten Männern vorbehalten. Aber davon lässt sich die Kämpferin für eine gleichwürdige Kirche nicht abschrecken und erinnert daran, wie wertvoll es sei, wenn eine Person –unabhängig von Geschlecht und Stand – an einen denke, im Gebet oder einfach so.

Spiritual Care machen derzeit rund 170 Personen im Kanton Aargau. Die Freiwilligen begleiten Sterbende zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen. Die Aargauer Landeskirchen bieten dazu seit 2010 eine Ausbildung in Palliative Care und Begleitung an, um diese Freiwilligen zu schulen. Dank dem unentgeltlichen Engagement der Freiwilligen kommt das kostenlose Angebot allen zugute.

An der Stelle des Saxerhauses in Aarau stand ein Spital
An der Stelle des Saxerhauses in Aarau stand ein Spital

Diese Sterbebegleitung gehört zu den vier Fünftel der unbezahlten Care-Arbeit in der Schweiz. Die Care-Arbeit ist nicht nur unbezahlt, sondern wird von der Gesellschaft kaum wahrgenommen. Dass diese Arbeiten grossmehrheitlich von Frauen gemacht werden, komme nicht von ungefähr.

Lohnarbeit ausser Haus

Die Historikerinnen und Geschlechterforscherinnen, Selina Summermatter und Sophie Bürgi, erklären die Rollenteilung mit den veränderten Arbeitsbedingungen während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Damals verlagerte sich die Lohnarbeit ausser Haus in die Fabriken. Während in der Arbeiterschicht Frauen und Männer der Lohnarbeit nachgehen mussten, teilte sich in der bürgerlichen Oberschicht die Arbeit in die ausserhäusliche Lohnarbeit und die unbezahlte häusliche Arbeit auf.

Caroline Krüger sieht die Trennung der Lohnarbeit und der Care-Arbeit schon in der Antike verortet. Während nämlich die freien Männer zusammenkamen und über die Lehre des guten Haushaltens – die Ökonomie – philosophierten, erledigten zu Hause die unfreien Frauen, Sklavinnen und Sklaven die Hausarbeit. Das sei für die freien Männer so selbstverständlich gewesen, dass die Care-Arbeit in der Ökonomie vergessen ging. Die daraus folgende Arbeitsteilung wurde zur Natur der Männer und Frauen erklärt und wirkt bis in die heutige Zeit.

Weitere Care-Rundgänge

«Unsichtbar und unterbezahlt – Who cares?» Rundgang des Vereins Frauenstadtrundgang Basel

«Wer kümmert sich ums Baselbiet. Ein Spaziergang zur Sorge-Arbeit des Baselbiets» Rundgang der Gruppe 14. Juni in Liestal

Care-Spaziergang der Frauen*Synode

(ergänzt am 2.10.23)


Sophie Bürgi und Selina Summermatter als Ordensfrauen: Diese leisten seit Jahrhunderten unverzichtbare Care-Arbeit | © Roger Wehrli
1. Oktober 2023 | 07:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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Stadtrundgang Aarau: «Kümmern, kochen, pflegen – who cares?»

Der Rundgang wurde in Zusammenarbeit des OK Care Rundgang Aargau und dem Verein Frauenstadtrundgang Basel entwickelt. Ziel des Verein Frauenstadtrundgang Basel ist es, Geschlechtergeschichte einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Teil des OKs sind die Fachstelle Frauen, Männer, Gender der reformierten Kirche Aargau und die Fachstelle Bildung und Propstei der römisch-katholischen Kirche im Aargau. Deren Ziel ist es, die Geschichte aber auch die heutigen Herausforderungen der Care-Arbeit sichtbar zu machen.

Der Verein «Wirtschaft ist Care»

In einem feministischen theologischen Milieu arbeiteten Anfang der 1990er Jahre Theologinnen in der «Projektgruppe Ethik im Feminismus» zusammen. Nach dreissig Jahren mündete die denkerische und politische Arbeit in unterschiedlichen personellen Zusammensetzungen mit der siebten Schweizer Frauen*synode zum Thema «Wirtschaft ist Care». Bis heute besteht der gleichnamige Verein, weil die Gründerinnen überzeugt sind, dass es im Sinne eines guten Lebens einen Paradigmenwechsel in der Ökonomie braucht. Dabei spielt die Orientierung an Care eine wichtige Rolle.