Indigener Mann am Gedenkstein für die Opfer einer Residential School in Thunder Bay, Ontario, Kanada. (2017).
Theologie konkret

Bussreise nach Kanada: «Nicht alle freuen sich auf Papst Franziskus»

Die katholischen Indigenen ersehnen die päpstliche Entschuldigung auf kanadischem Boden. Für andere Indigene sei der Besuch des Papstes traumatisch, sagt Manuel Menrath, der die Geschichte der Cree und Ojibway im nördlichen Ontario in Kanada erforscht hat.

Eva Meienberg

Papst Franziskus begibt sich am Sonntag auf eine Bussreise zu den Indigenen in Kanada. Gibt es bei den Indigenen die Vorstellung von Busse?

Manuel Menrath*: Im Weltverständnis der Indigenen ist alles in einer Balance. Die Tiere, die Menschen, die Pflanzen, alles bildet einen Kreis. Durch die Verbrechen in den Residential Schools ist dieser Kreis gebrochen. Der Kreis kann nur wieder hergestellt werden, wenn sich das Oberhaupt der Kirche, deren Vertreter die indianischen Kinder missbraucht und teils auch getötet haben, sich entschuldigt. Wichtig dabei ist, dass die Entschuldigung auf indigenem Land passiert.

Gedenken an die 215 getöteten Kinder, vor der ehemaligen Schule in Kamloops, Kanada
Gedenken an die 215 getöteten Kinder, vor der ehemaligen Schule in Kamloops, Kanada

Warum ist das wichtig?

Menrath: Das Land ist für die Indigenen von Kanada, was für uns die Bibel ist. Das Land ist das Buch der Natur. Und es ist der Ort der Ahnen, mit denen sie verbunden sind.

Genügt es, wenn Papst Franziskus seine Entschuldigung vom 1. April wiederholt?

Menrath: Nein, es wird erwartet, dass Papst Franziskus die Schuld der Institution katholische Kirche anerkennt, nicht nur die Schuld einzelner fehlbarer Priester.

Papst Franziskus spricht zu den Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Völker Kanadas.
Papst Franziskus spricht zu den Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Völker Kanadas.

Wie gehen kanadische Indigene mit Schuld, Strafe und Vergebung um?

Menrath: Im indianischen Rechtsverständnis sitzen zur Versöhnung alle Beteiligten auf gleicher Höhe in einem Kreis. Die Opfer haben Augenkontakt mit den Tätern. Es geht darum, dass die Täter ein Schamgefühl entwickeln, indem sie den Opfern zuhören. Die Täter können so ihre Schuld einsehen. In vielen Fällen auferlegen sie sich die Strafe dann selbst. Das ist der erste Schritt zur Heilung.

Haben Sie ein Beispiel dazu?

Menrath: Wenn etwa ein Mann einen anderen getötet hat, sieht er im Kreis die leidende Frau des Verstorbenen. Die Frau hat den Schutz ihres Mannes verloren, kann ihre Kinder nicht alleine ernähren. Der Täter sieht die Folgen seiner Tat und die Schuld, die er auf sich geladen hat. Als Folge davon, muss er nun auf der Jagd auch an die Kinder dieser Frau denken und seine Beute mit ihnen teilen. Und zwar so lange, bis die Kinder für sich selbst schauen können.

Papst Franziskus mit Mitgliedern der "First Nations" (Kanada) am 31. März 2022 im Vatikan.
Papst Franziskus mit Mitgliedern der "First Nations" (Kanada) am 31. März 2022 im Vatikan.

Die Entschuldigung des Papstes ist demnach nur ein erster Schritt?

Menrath: Genau. Im Verständnis der Indigenen ist die Entschuldigung erst der Beginn eines gemeinsamen Weges, der zur Heilung des Ethnozides führen kann.

Ein Vertreter der Indigenen hat nach dem Besuch beim Papst im März folgenden Vergleich gemacht: «Wir sind auf der Jagd. Nun haben wir in der Ferne die Fährte des Tieres entdeckt. Aber wir sind noch weit davon entfernt, das Tier erlegt zu haben.» Der Papst hat die gemeinsame Jagd mit den Indigenen gerade erst begonnen.

Welches sind die nächsten Schritte?

Menrath: Die katholische Kirche muss die Verbrechen weiter aufarbeiten. Sie muss die Akten der Opfer zugänglich machen. Die noch lebenden fehlbaren Priester muss sie anzeigen. Denkbar wäre auch ein Gedenktag einzurichten oder Lehrmittel zu erarbeiten, um den Konflikt in den Schulen zu bearbeiten. Das sind alles Wege zur Versöhnung, die gegangen werden müssen.

Friedhof im Standing Rock Reservat, Norddakota, USA (2012).
Friedhof im Standing Rock Reservat, Norddakota, USA (2012).

Papst Franziskus wird an einem Ritual teilnehmen, bei dem die vier Himmelsrichtungen mit Rauch inzensiert werden. Kennen Sie dieses Ritual?

Menrath: Die kanadischen Indigenen reinigen sich vor jeder Zeremonie. Meistens geschieht das mit den heiligen Medizinpflanzen: Salbei, Zeder, Süssgrass und Tabak. Mit dem Rauch werden die vier Himmelsrichtungen verbunden und zu einem Kreis geschlossen. Der Mensch ordnet sich mit dem Ritual ins Gefüge ein und macht sich frei für die weiteren Zeremonien. Vielleicht können wir das Ritual vergleichen mit dem Kreuz, das wir beim Betreten einer Kirche mit Weihwasser machen.

«Einerseits verbinden die kanadischen Indigenen den Katholizismus mit den Verbrechen in den Residential Schools. Andererseits ist er ihre neue geistige Heimat.»

Sie haben über hundert Interviews mit kanadischen Indigenen geführt. Entspricht es überhaupt einem Wunsch dieser Menschen, dass Papst Franziskus sich entschuldigt?

Menrath: Absolut. Es gibt sehr viele katholische Indigene in Kanada. Viele Cree etwa oder die Ojibwe in Ontario sind heute noch katholisch. Sie haben ein ambivalentes Verhältnis zum Katholizismus. Einerseits verbinden sie den Katholizismus mit den Verbrechen in den Residential Schools. Andererseits ist er ihre neue geistige Heimat. Trotz der Verbrechen schaffen es die Indigenen zu differenzieren zwischen der Botschaft und den Botschaftern. Aber der katholischen Kirche in Kanada laufen Menschen weg, weil sich der Papst nicht entschuldigt hat.

Was bedeutet der Papstbesuch für die Indigenen, die nicht katholisch sind?

Menrath: Nicht alle freuen sich auf Papst Franziskus, wie das behauptet wurde. Die Organisatorinnen und Organisatoren des Besuches haben deshalb spirituelle Heiler der Indigenen, psychologische Fachleute und Elders aufgeboten, um die Überlebenden zu betreuen. Für viele der Indigenen ist der Besuch eine traumatische Erfahrung.

Manuel Menrath (Mitte) in einem Reservat in Ontario, zusammen mit Chief Bart Meekis (l.) und Deputy-Chief Robert Kakegamic.
Manuel Menrath (Mitte) in einem Reservat in Ontario, zusammen mit Chief Bart Meekis (l.) und Deputy-Chief Robert Kakegamic.

Seit wann warten die kanadischen Indigenen auf eine Entschuldigung?

Menrath: Die kanadische Wahrheits- und Versöhnungskommission hat während 2008 und 2015 die Geschichte der Indian Residential Schools und ihre Auswirkungen auf die indianischen Einwohnerinnen und Einwohner erforscht. In ihrem Abschlussbericht hat die Kommission 94 Handlungsaufforderungen formuliert. Die 58. Aufforderung betrifft die Entschuldigung des Papstes. Während sich der kanadische Staat, die anglikanische und presbyterianische Kirche entschuldigt haben, kam von der katholischen Kirche bis am 1. April diesen Jahres kein Schuldeingeständnis.

58. Handlungsaufforderung

«Wir fordern den Papst auf, sich bei den Überlebenden, ihren Familien und Gemeinden zu entschuldigen für die Rolle, welche die römisch-katholischen Kirche beim spirituellen, kulturellen, emotionalen, körperlichen und sexuellen Missbrauch von First Nations, Inuit und Métis-Kindern in katholisch geführten Internatsschulen gespielt hat. Wir fordern, dass diese Entschuldigung, ähnlich wie die Entschuldigung von 2010 die an irische Missbrauchsopfer gerichtet wurde, innerhalb eines Jahres nach der Veröffentlichung dieses Berichts vom Papst in Kanada erfolgt.»

*Manuel Menrath (1973) ist Lehr- und Forschungsbeauftragter des Historischen Seminars an der Universität Luzern. Er promovierte 2014 mit der Dissertationsstudie «Martin Marty O.S.B. (1834–1896) – Vom Einsiedler Mönch zum Indianermissionar und Bischof in Amerika». Menrath forschte zudem zur Geschichte der Cree und Ojibway im nördlichen Ontario in Kanada. Menrath leitet das «Haus zum Dolder» in Beromünster.


Indigener Mann am Gedenkstein für die Opfer einer Residential School in Thunder Bay, Ontario, Kanada. (2017). | © zVg / Manuel Menrath
24. Juli 2022 | 05:00
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