Papst Franziskus im RSI-Interview – im Hintergrund das Bild "Maria Knotenlöserin".
Analyse

«Vos estis lux mundi» – Warum Gesetz nicht zu Recht führt

Papst Franziskus hat die Gesetze zur Missbrauchsbekämpfung verschärft. «Vos estis lux mundi» heisst der Erlass aus dem Vatikan, der jetzt erneuert wurde. Aber: Ohne die Schaffung externer Kontrollinstanzen kann «Vos estis» die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen nicht sicherstellen.

Annalena Müller

Mit «Vos estis lux mundi» («Ihr seid das Licht der Welt») hat Papst Franziskus 2019 erstmals kirchenrechtliche Regeln zur Bekämpfung von Missbrauch erlassen. Der Erlass galt zunächst für drei Jahre. Nun hat Franziskus ihn erweitert und im Kirchenrecht verankert.  Allerdings: Instanzen, welche die Macht hätten, auch renitente Bischöfe zur Aufarbeitung zu zwingen, fehlen nach wie vor.

Annalena Müller
Annalena Müller

«Vos estis» ist normativ

Die Wirksamkeit von Gesetzen – egal ob in Kirche oder Staat – ist immer davon abhängig, ob sie angewandt werden. Eine Legislative ohne Judikative und Exekutive ist zunächst vor allem eines: normativ.

In der katholischen Kirche sind die ausführenden Institutionen die Bischöfe. Konkret heisst das: Wenn es in einer Gemeinschaft – klerikal oder laikal – zu Missbrauch kommt, dann landet der Fall beim zuständigen Bischof. «Vos estis» verpflichtet diesen Bischof zwar dazu, die notwendigen Schritte einzuleiten. Aber es kann ihn nicht zwingen, dies auch wirklich zu tun.

Rollenkonflikt der Bischöfe

Ein Bischof hat immer mehrere Rollen. In seinem Bistum ist er die Judikative und Exekutive, also die ausführende und richtende Macht. Darüber hinaus ist er auch Hirte. Und zwar der Menschen und der Priester. Dieser Rollenpluralismus erzeugt Spannungsfelder.

Im Kampf gegen Missbrauch braucht es Gewaltenteilung - das sieht auch die Weltsynode so.
Im Kampf gegen Missbrauch braucht es Gewaltenteilung - das sieht auch die Weltsynode so.

Eines dieser Spannungsfelder besteht darin, dass der Bischof einen vermeintlichen Täter meist kennt. In den Worten des Schweizer Kirchenrechtlers Nicolas Betticher (61): «Der Bischof ist der Vater aller Priester seines Bistums». Und hier liegt ein Kern des Rollenkonfliktes: «In der heutigen Kirche muss der Vater auch Richter sein.»

Keine bindende Kontrollinstanz

Konfrontiert mit der Entscheidung haben Bischöfe in der Vergangenheit die Rolle des Vaters vorgezogen. Ihre priesterlichen Söhne haben sie versetzt – in der Hoffnung, dass es anderenorts schon besser gehen, oder es zumindest nicht mehr ihr Problem sein würde. Auch wenn sich heute die Mentalität verändert hat: Es hängt weiterhin von jedem einzelnen Bischof ab, wie konsequent er die päpstlichen Gesetze in seinem Bistum umsetzt.

Die Allmacht der Kleriker ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts
Die Allmacht der Kleriker ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts

Bei den weltweit über 5300 Bischöfen ist es für den Vatikan unmöglich die Umsetzung des Kirchenrechts vor Ort zeitnah zu kontrollieren. Natürlich können örtliche Bischofskonferenzen versuchen, durch Gruppendruck Einfluss zu nehmen. Das dürfte aber eher zu zerstrittenen Bischofskonferenzen führen als zur konsequenten Anwendung des Kirchenrechts.

Externe Gremien sollen Druck erzeugen

Die Kirchenoberen sind sich des Problems bewusst. So richten zum Beispiel die deutschen Bischöfe zum Januar 2024 einen Expertenrat ein. Ihm sollen alle Diözesen Auskunft geben. Etwa über die Zahl möglicher Missbrauchsfälle und über Präventionsmassnahmen. Bischöfe dürfen keine im Expertenrat sitzen. Er ist als ein Gegenüber gedacht.

Helmut Dieser, Bischof von Aachen.
Helmut Dieser, Bischof von Aachen.

Allerdings: Die Weisungen des Expertenrates sind nicht bindend. Der durch den Rat generierte öffentliche Druck soll ausreichen. Dies sagte der Aachener Bischof Helmut Dieser Anfang März der Süddeutschen Zeitung.

Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, Bischöfe zum Handeln zu zwingen. Indem man weisungsbefugte Instanzen aus Klerikern und Laien schafft. Dies wäre theologisch leicht machbar. Und kirchenhistorisch verankert ist es ausserdem.

Blick in die Kirchengeschichte kann helfen

Die Frage, wie die Kirche mit straffälligen Klerikern und Laien umgehen soll, ist nicht neu. In der alten Kirche hat man in Streitfällen externe Instanzen eingesetzt. Diese bestanden – je nach Natur und Umfang des Konfliktes – aus einzelnen Leuten oder ganzen Konzilien. Wenn es «nur» darum ging, eine unliebsame Äbtissin abzusetzen oder einen Disput zwischen religiösen Gemeinschaften zu lösen: Dann setzten Päpste und Bischöfe auf Kommissionen aus regionalen Würdenträgern.

Kirchliche und weltliche Prälaten beim Konstanzer Konzil (1414-1418)
Kirchliche und weltliche Prälaten beim Konstanzer Konzil (1414-1418)

Für grössere Fragen rief man Synoden, für gesamtkirchliche, Konzilien ein. Das bekannteste Beispiel: das Konstanzer Konzil (1414-1418). Damals ging es primär um die Beendigung des Abendländischen Schismas (1378-1417). In der Spätphase des Schismas standen sich drei Päpste gegenüber. Die Kirche drohte auseinanderzubrechen.

Eine externe Gerichtsbarkeit

Zusammengerufen in Krisenfällen bildeten diese Instanzen eine externe Judikative. Die «externen Richter» umfassten neben Klerikern immer auch Laien: Könige und andere Adelige. In den Augen der Zeit waren sie die gottgewollten Autoritätsträger. Entsprechend waren ihre Entscheidungen bindend. Für alle. Auch den Papst. Und sie wurden notfalls mit Waffengewalt durchgesetzt.

Nun geht es bei der heutigen Bekämpfung von Missbrauch nicht darum, sich mit Waffengewalt durchzusetzen. Aber die Kirche kann sich trotzdem von ihrer Geschichte inspirieren lassen. Die Wiedereinführung «externer Richter» mit bindender Autorität würde eine konsequente Anwendung des Kirchengesetzes «Vos estis» gewährleisten.


Papst Franziskus im RSI-Interview – im Hintergrund das Bild «Maria Knotenlöserin». | © RSI
28. März 2023 | 12:04
Lesezeit: ca. 3 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!