Michael Wüstenberg, ehemaliger Bischof von Aliwal in Südafrika
Story der Woche

Bischof Michael Wüstenberg: «Vielen Menschen könnte ich sofort die Hände auflegen»

Michael Wüstenberg ist emeritierter Bischof von Aliwal in Südafrika. Er vertraute seinen Gemeinden, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen. «Als Bischof bin ich das letzte Glied in der Kette.» Er sieht grossen Handlungsbedarf der Amtskirche – und hofft, dass sie auf die Urkirche blickt. Denn dort gab es Dynamik und Mut.

Jacqueline Straub

Warum haben Sie das Buch «Kompass Urkirche» geschrieben?

Michael Wüstenberg*: Weil ich dachte, dass es wichtig sei, mal etwas über die Dynamiken in den frühen Gemeinden zu schreiben. In der Apostelgeschichte und zuvor schon im Markusevangelium geht es zügig zu. Da passiert viel. Trägheit, Abwarten und das Abschieben auf später findet man da nicht. Da wird gehandelt. Daher kann die Apostelgeschichte auch für heute wieder relevanter denn je sein.

«Die neutestamentliche Lektüre kann für heute wichtige Prozesse anregen.»

Die Erfahrungsberichte aus der Apostelgeschichte können aber nicht eins zu eins in die heutigen Pfarreien übernommen werden.

Wüstenberg: Es muss nicht alles gleich umgesetzt und verändert werden. Das geht meist gar nicht. Dennoch kann die neutestamentliche Lektüre für heute wichtige Prozesse anregen.

"Kompass Urkirche" von Bischof Michael Wüstenberg
"Kompass Urkirche" von Bischof Michael Wüstenberg

Haben Sie dabei den synodalen Prozess im Blick?

Wüstenberg: Synodalität ist ja ein altes Wort der Kirche. Es geht darum, dass man sich zusammengefunden hat. Wenn es nicht nur um die kleine Gemeinde ging, sondern um grössere Settings, hat man sich gemeinsam an einem Ort getroffen und teilweise auch rabiat diskutiert.

«Es braucht Dynamik in der Kirche.»

Auch die Weltkirche trifft sich bald zum synodalen Prozess an einem Ort – in Rom. Reicht das Ihrer Meinung nach?

Wüstenberg: Die Zeit drängt. Es braucht Veränderungen. Es braucht Dynamik in der Kirche. Ich werde etwas nervös, wenn Menschen sagen, dass gewisse Reformen eben noch 40 oder 50 Jahre brauchen, bis sie umgesetzt werden können. Das darf nicht sein. Ich möchte ein Beispiel nennen.

«Hätte die frühe Kirche gehandelt wie wir heute, sässen die Skelette der Witwen noch heute an den Tischen.»

Sehr gerne.

Wüstenberg: In der Apostelgeschichte beklagen die griechisch-sprechenden Juden sich, dass ihre Witwen bei der täglichen Versorgung benachteiligt werden. Daraufhin rufen die Apostel die Gemeinde zusammen. Sie beschliessen, dass sieben Männer als sogenannte Diakone für den Dienst an den Tischen beauftragt werden. Hätte die frühe Kirche in dieser vollkommen ungewohnten, unbekannten und unvorbereiteten Situation so gehandelt, wie wir heute handeln, sässen die Skelette der griechischen Witwen noch heute an den Tischen und würden auf eine Lösung warten.

«Natürlich sind die Berichte der Bibel ein Stück weit idealisierte Darstellungen.»

Sie plädieren also dazu, mutige Entscheidungen zu treffen?

Wüstenberg: Die frühen Christinnen und Christen haben sich von der Tradition nicht irritieren lassen. Und im Jerusalemer Konzil haben sie gerade die Tradition der Beschneidung angepackt. Für die jüdisch-christlichen Gläubigen war sie sehr wichtig. Und nun sollten die Nicht-Juden etwa nicht beschnitten werden? Dies war schwer zu akzeptieren. Auf einmal galt das nicht mehr. Natürlich sind die Berichte der Bibel ein Stück weit idealisierte Darstellungen. Dennoch: Diese Dynamik und dieser Mut fehlen heute. Das ist eine schmerzhafte Erfahrung für mich.

Maria und die Apostel mit Feuerzungen, Glasfenster
Maria und die Apostel mit Feuerzungen, Glasfenster

Sie waren lange als Bischof in Südafrika tätig. Wie haben Sie dort die Dynamik in den Gemeinden wahrgenommen?

Wüstenberg: Seit Ende der 80er-Jahren haben Gemeindemitglieder in der Diözese Aliwal-Nord, in der ich bis 2017 Bischof war, sehr viel Verantwortung übernommen. Da es zu wenig Priester gibt, um das Gemeindeleben aufrecht zu erhalten, kümmern sich die «Leader» darum. Wenn ich Besuch aus der Schweiz und Deutschland hatte, waren sie immer ganz überrascht, wie weit wir in der Frage der Gemeindebildung sind. In den kleinen Gemeinschaften fängt alles an und hört alles auf, so sagen die Leute selbst. Da werden Sachen besprochen und beschlossen – ganz ohne das vorherige Einbeziehen des Priesters oder des Bischofs.

«Die Menschen in Südafrika wollen mitbestimmen.»

Eine Gemeinde kann doch nicht einfach so irgendwas entscheiden. Das ist ja willkürlich.

Wüstenberg:

[16:51] Jacqueline Straub

Besser: In meiner Zeit als Bischof in Südafrika habe ich – und vor mir schon mein Vorgänger – den Gemeinden viel zugetraut. Die Gemeinde konnte selbstständig Entscheidungen treffen. Die ändern ja keine Dogmen. Sie entscheiden zum Beispiel über Alltagsfragen wie Begräbnisse. Nach einer Beerdigung hat sich mal jemand beklagt über die Richtlinien des Bischofs. Da sagte einer der «Leader»: Das sind unsere Regeln, die haben wir gemeinsam erarbeitet und beschlossen. Die Menschen in Südafrika wollen mitbestimmen – das hängt mit der Apartheit-Zeit zusammen. Wenn ich als Bischof von oben diktiert hätte, wäre das nicht gut angekommen.

Auf dem letzten Weg
Auf dem letzten Weg

Und Sie haben das als Bischof den Gemeinden zugetraut, die richtige Entscheidungen zu treffen?

Wüstenberg: Ja, das habe ich. Sie haben für sich gute Entscheidungen getroffen. Ich habe immer gesagt: Als Bischof bin ich das letzte Glied in der Kette der Entscheidungen. Ich vertraue darauf, dass die Gemeinde die richtigen Menschen als sogenannte Leader einsetzt, die die Gemeinschaft leiten und führen. Während der alljährlichen Gemeindewoche segne und beauftrage ich sie vor der Gemeinde für diesen Dienst in der Kirche. Das war mit der wichtigste Gottesdienst für mich.

Michael Wüstenberg, emeritierter Bischof von Aliwal (Südafrika), am 26. April 2021 an Bord des Rettungsschiffs Sea Eye 4.
Michael Wüstenberg, emeritierter Bischof von Aliwal (Südafrika), am 26. April 2021 an Bord des Rettungsschiffs Sea Eye 4.

In anderen Ländern wäre das unvorstellbar.

Wüstenberg: In meiner Diözese wurde jede Gemeinde einmal im Monat sonntags von einem Priester für einen Gottesdienst besucht – mehr ging nicht. Das heisst: Die restliche Zeit konnte die Gemeinde mit ihren «Leadern» selbst Gottesdienste feiern und auch Entscheidungen treffen. Und das haben sie gut gemacht.

Gab es auch Probleme?

Wüstenberg: Ein grosses Problem ist, dass diese Gemeinden keine Eucharistie feiern können. Im Schnitt kommt zehn Mal im Jahr ein Priester vorbei, um mit ihnen gemeinsam Eucharistie zu feiern. Ich stelle mir seit Jahren die Frage nach der missionarischen Aufrichtigkeit. Das darf nicht sein, dass Menschen gesagt wird, wie wichtig die Eucharistie ist und sie jeden Sonntag diese empfangen sollen, es aber nicht können.

Für die Eucharistiefeier braucht es einen Priester.
Für die Eucharistiefeier braucht es einen Priester.

Was schlagen Sie vor?

Wüstenberg: Ich kenne in den Gemeinden meiner ehemaligen Diözese – aber auch in Deutschland – viele Menschen, denen man sofort die Hände auflegen könnte. Sie haben sich ja bereits oft über viele Jahre bewährt. Sie könnten dann priesterlich-sakramental wirken und die pastorale Not in den Gemeinden beheben.

Inwiefern bietet die Urkirche eine Vorlage für einen grösseren Spielraum in Bezug auf Ämter oder auch Aufgaben in den Gemeinden?

Wüstenberg: Es reicht zu schauen, was die ersten Christinnen und Christen gemacht haben. Ihr Handeln kann uns heute eine Anregung sein. Das Neue Testament zeigt, dass es nicht nur eine einzige Möglichkeit gibt. Verschiedene Kontexte brachten unterschiedliche Fragen und damit auch Antworten. Die Amazonassynode hat ja etwas in diese Richtung angestossen. Und die Menschen dort brauchen nicht nur im Blick auf das Klima andere Verhaltensweisen als zum Beispiel die Inuit im Norden Kanadas, sondern auch kirchlich. Die Apostelgeschichte zeigt uns, wie mit unerwarteten, ungewöhnlichen Situationen umgegangen wurde.

«Partizipation war das grosse Stichwort für uns.»

Sie plädieren also für eine Dezentralisierung?

Wüstenberg: Auf jeden Fall. Die frühen Christinnen und Christen haben nach dem gleichen Prinzip gehandelt. Sie haben sich zusammengesetzt und gemeinsam nach Lösungen gesucht. Und zwar zügig, inklusiv und intensiv. Eben unter Beiteiligung so vieler wie möglich. Partizipation war das grosse Stichwort für uns.  

*Michael Wüstenberg (69) wurde 2007 zum Bischof der südafrikanischen Diözese Aliwal ernannt. 2017 erklärte er Papst Franziskus aus gesundheitlichen Gründen den Rücktritt vom Bischofsamt. Seither lebt der emeritierte Diözesanbischof in Deutschland.

Sein Buch «Kompass Urkirche. Überraschendes aus der Apostelgeschichte für christliche Gemeinden heute» ist im Schwabenverlag erschienen.


Michael Wüstenberg, ehemaliger Bischof von Aliwal in Südafrika | © KNA
29. September 2023 | 06:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!