Mario Delfino vor dem früheren Pfarrhaus von Ernst Sieber
Schweiz

Betroffener Mario Delfino: «1000 Missbrauchsfälle? Das ist ein Witz»

Mario Delfino wurde als Teenager von Mönchen sexuell missbraucht. Nur schon in der Erziehungsanstalt Bad Knutwil LU hätten 500 bis 1000 Buben dasselbe Schicksal gehabt, schätzt er. Es habe viel mehr Missbrauch gegeben, als die Vorstudie angab. Doch Akten seien vernichtet worden – auch in Bad Knutwil.

Regula Pfeifer

Laut der Vorstudie zum Missbrauch in der katholischen Kirche gibt es seit 1950 1002 Missbrauchsfälle, 510 Beschuldigte, 921 Betroffene. Was sagen Sie dazu?

Mario Delfino: Das ist ein totaler Witz. Ich war vier Jahre in der Arbeitserziehungsanstalt in Bad Knutwil LU. Mit mir lebten etwa 120 Burschen dort – und gut jeden Vierten haben die Mönche missbraucht. Zudem gab es bereits Missbräuche vor meiner Zeit dort. Allein in diesem einen Heim muss es schätzungsweise 500 bis 1000 missbrauchte Buben gegeben haben.

Akten in einem Archiv.
Akten in einem Archiv.

Ein Historiker bezeichnet die Zahlen als Spitze des Eisbergs. Und der Präventionsbeauftragte Stephan Loppacher geht von bis zu 15’000 Fällen aus. Sehen Sie das auch so?

Delfino: Ja, unbedingt. Von 1950 bis heute – das ist eine lange Zeit. Da muss noch viel mehr passiert sein, an vielen anderen Orten. Aber vieles kann man wohl nicht mehr herausfinden.

«Die Akten von Bad Knutwil sind meines Wissens 2006 alle vernichtet worden.»

Weshalb meinen Sie?

Delfino: Die Akten von Bad Knutwil sind meines Wissens 2006 alle vernichtet worden. Hätte ich das gewusst, wäre ich früher hingegangen und hätte meine Unterlagen abgeholt. Vielleicht hätte ich etwas erfahren über meine richtigen Eltern. Oder überhaupt über den Missbrauch. Ich habe nur mein Entlassungsschreiben und die Belege für die Krankenkassenzahlungen, die sie für mich leisteten.

Mehr wissen Sie nicht?

Delfino: Dank der Historikerin Loretta Seglias weiss ich, dass einer der Mönche wegen Missbrauchs verurteilt wurde. Das war ungefähr zur Zeit, als ich entlassen wurde, also 1972 oder 73. Danach haben die Mönche das Heim rasch geschlossen und sind abgehauen.

Schatten eines Mannes mit Kreuz.
Schatten eines Mannes mit Kreuz.

«Die Mönche nahmen sich jene Kinder vor, die keinerlei Besuche erhielten.»

Laut der Studie waren 74 Prozent der Fälle Minderjährige Opfer von Missbrauch. Das war auch bei Ihnen der Fall.

Delfino: Ja. Und ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. In Bad Knutwil wurden Buben von zehn bis vierzehn Jahren missbraucht, ältere nicht. Es kamen immer wieder neue Kinder. Die betreffenden Mönche nahmen sich jene Kinder vor, die keinerlei Besuche erhielten von ihren Eltern oder Beiständen.

«Der Staat hat auch eine Mitschuld.»

Auch mein Beistand kam nie vorbei. Dass ich einen hatte, erfuhr ich erst nachträglich aus den Akten. Da hat der Staat auch eine Mitschuld. Denn weil seine Vertretenden nicht einschritten, hat der Staat keine Verantwortung übernommen.

Und bei jenen Fällen, von denen die Bischöfe erfuhren, gab es keine kirchenstrafrechtlichen Untersuchungen – obwohl die Bischöfe seit 1912 dazu verpflichtet sind.

Delfino: Die Bischöfe, die einfach weggeschaut haben und die Täter versetzt haben, sind mitschuldig. Von mir aus könnten alle Bischöfe abtreten und die Kirche sich auflösen. Ich bin extrem enttäuscht. Dabei hat die Kirche den Job, Gutes zu tun, Seelsorge zu machen. Und das ist ganz einfach, dafür braucht es keine Ausbildung. Einfach lieb sein, anständig und respektvoll den Kindern gegenüber.

Missbrauch, Übergriff
Missbrauch, Übergriff

Was wäre zu tun?

Delfino: Die Verantwortlichen müssten hinstehen und sagen: Liebe Opfer, es tut uns leid. Ich glaube, die haben keine Ahnung, was diese Täter mit den Kindern gemacht haben. Und was das ausgelöst hat. Man stelle sich vor: Es haben sich Kinder erhängt. Und ein 80-jähriger Mitinsasse hat heute noch Alpträume davon. Als er mir das kürzlich erzählte, weinte er.

«Ein Bischof sagte sogar, man müsse den Tätern vergeben. Also geht’s noch?»

Wie finden Sie die Reaktion der Bischöfe auf die Pilotstudie?

Delfino: Sie reden um den heissen Brei herum. Etwa Bischof Bonnemain an der Medienkonferenz bei der Präsentation der Studie an der Uni Zürich. Und ein Bischof sagte sogar, man müsse den Tätern vergeben. Also geht’s noch? Das entrüstet mich und alle, mit denen ich gesprochen habe. Im Mittelpunkt steht jetzt sicher mal das Opfer und nicht der Täter. Mein Eindruck ist: Es gibt keine Konsequenzen. Die Bischöfe pflegen die Philosophie des Aussitzens. Haben Sie denn kein Herz? Würden sie es akzeptieren, wenn ihre Neffen oder Nichten so berührt würden?

Bischof Joseph Maria Bonnemain vor den Medien
Bischof Joseph Maria Bonnemain vor den Medien

«Man muss die Täter aus dem Verkehr ziehen.»

Was erwarten sie von den Bischöfen?

Delfino: Sie müssten den Mut haben zu sagen: Dieser und jener Priester haben jetzt nichts mehr zu suchen bei uns, wir entlassen ihn. Man muss die Täter nicht öffentlich an den Pranger stellen. Ich bin für ein korrektes Vorgehen. Man muss sie einfach aus dem Verkehr ziehen. Das wäre anderswo auch so.

Woran denken Sie?

Delfino: Ich bin ehemaliger Hauswart einer Schule und in Kontakt mit Lehrpersonen. Diese sagten mir kürzlich: Stell dir vor, wir würden nur annähernd so etwas mit unseren Kindern machen, wir wären sofort fristlos entlassen. Die Kinder brauchen auch heute Geborgenheit, und das ist ohne Berührung möglich. Wichtig ist, sich ihnen zuzuwenden, ihnen zuzuhören.

Papst Franziskus begrüsst Mario Delfino
Papst Franziskus begrüsst Mario Delfino

«Die Bischöfe und der Vatikan müssen klare Zeichen setzen.»

Ihr Aufruf an die Schweizer Bischöfe oder den Vatikan?

Delfino: Die Bischöfe und auch der Vatikan müssten an die Öffentlichkeit treten und sagen: Wir haben das und das gemacht, diese und jene Leute entlassen. Sie müssen klare Zeichen setzen für jene Leute, die jetzt in ein Altersheim gehen müssen – und für die sich so ein schrecklicher Kreis schliesst. Sie sollen wenigstens in Ruhe sterben können, weil sie wissen: Es ändert sich endlich etwas in diesen Institutionen. Bei all diesen Aussagen rede ich übrigens nicht nur für mich.

«Wir befürchten: Das versandet alles wieder, wie eh und je.»

Für wen sonst noch?

Delfino: Ich habe mehrere Telefonate erhalten – darunter fünf ehemalige Mitinsassen des Heims in Knutwil. Sie sagen alle: Es ist schlimm, wie die Bischöfe reagieren. Sie sind alle massiv enttäuscht. Wir befürchten: Das versandet alles wieder, wie eh und je.


Mario Delfino vor dem früheren Pfarrhaus von Ernst Sieber
25. September 2023 | 06:00
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