Gläubige beim Novenengebet in der Pfarrkirche St. Calixtus, vorne im Chor steht der Flügelaltar.
Schweiz

Berner Professorin: «Hoffe, den Altar möglichst bald den Brienzern zurückbringen zu können»

Der drohende Felssturz in Brienz hält aktuell die ganze Schweiz in Atem. Dorfbewohner und Vieh sind in Sicherheit. Nun ist auch das Juwel des Dorfes, der goldene Brienzer Flügelaltar aus der katholischen Kirche gerettet worden. Wo das nationale Kulturgut untergebracht wurde, weiss nur Karolina Soppa von der Hochschule der Künste Bern.

Wolfgang Holz

Es ist absolut top secret. Nicht einmal «007» alias James Bond weiss, wo der Brienzer Flügelalter sich nach seiner Evakuierung derzeit befindet. Karolina Soppa, ihres Zeichens Professorin für Konservierung und Restaurierung an der Berner Fachschule und Hochschule der Künste, will aus Sicherheitsgründen nicht sagen, wo sich das sakrale Schmuckstück des Bünder Bergdorfs momentan befindet. Es gibt Gerüchte, dass der Altar in einem Bunker eingelagert wurde.

Irgendwo im Albula-Tal

«Das Retabel ist auf jeden Fall in Sicherheit und wurde an einem geeigneten Ort im Albula-Tal in mehr als 20 Kisten und Paletten eingelagert», berichtet Karolina Soppa.

Evakuierung  des Altars in Brienz
Evakuierung des Altars in Brienz

Die 45-jährige Dozentin ist schon seit 13 Jahren in Bern tätig. So eine Evakuierung eines wertvollen Kunstwerks in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege, dem Kulturgüterschutz, der Gerüstfirma Luzi und der Kirch- sowie Dorfgemeinde führt sie aber zum ersten Mal durch. «Besonders wichtig war es, einen Ort mit einem günstigen Raumklima zu finden, denn die Kirche in Brienz ist relativ feucht.»

Im Schritttempo abtransportiert

Zweieinhalb Tage waren Karolina Soppa und ihr Team aus acht Studierenden, zwei Dozierenden und fünf Männern vom Graubündner Kulturgüterschutz damit beschäftigt, den goldenen Flügelaltar abzubauen. In Einzelteile sorgsam zu zerlegen und in Kisten zu verpacken. Um ihn dann wie ein rohes Ei quasi mittels zweier Kleinlastwagen «im Schritttempo» abzutransportieren. Dabei wurden Teile des mittelalterlichen Altars von anno 1519 auch entsprechend beschriftet und dokumentiert.

Oberhalb des Dorfes Brienz (Brinzauls) GR bewegt sich der Fels.
Oberhalb des Dorfes Brienz (Brinzauls) GR bewegt sich der Fels.

Zu auffälligen Schäden an dem kostbaren Flügelalter sei es bei dieser Evakuation nicht gekommen, versichert Soppa. «Allerdings mussten permanent im Akkord kleinere Dinge notkonsolidiert werden, um sie transportfähig zu machen», so die Konservatorin.

«Da gibt es Teile, die angeschraubt oder ineinandergesteckt sind.»

Karolina Soppa, Professorin für Konservierung und Restaurierung an der Berner Fachschule

Aber wie baut man so einen Flügelaltar überhaupt ab? Schliesslich verfügt das 5,60 Meter hohe und mit aufgeklappten Flügeln rund vier Meter breite Retabel (ohne den steinernen Opfertisch, der in der Kirche zurückgelassen wurde) ja über keinen Ikea-Beipackzettel mit Imben und Schraubenziehern.

Der spätgotische Flügelaltar in der Pfarrkirche St. Calixtus in Brienz GR.
Der spätgotische Flügelaltar in der Pfarrkirche St. Calixtus in Brienz GR.

«Das ist eine gute Frage», antwortet Karolina Soppa. Man müsse zum einen sehr flexibel sein. Zum anderen wisse man aus dem Umgang mit anderen mittelalterlichen Altären, wie diese aufgebaut seien. «Da gibt es Teile, die angeschraubt oder ineinandergesteckt sind. Einige Teile konnte man allerdings nicht mehr auseinanderbauen, weil sie geklebt wurden», berichtet sie.

Absoluter Hochkaräter

Wobei so manche Schrauben teilweise eingerostet und nicht zu öffnen gewesen seien. Insgesamt habe sich der 500 Jahre alte Altar mit seinem doppelstöckigen goldenen Gesprenge-Aufbau aus Lindenholz in einem guten Zustand befunden. Auch die Farben aus ölgemischten Temperafarben würden das Könnertum der Altarbauer unterstreichen.

Apropos. Bei dem Brienzer Flügelaltar handelt es sich um einen absoluten Hochkaräter. Das Retabel wird laut Soppa nämlich dem legendären Yvo Strigel aus Memmingen zugeschrieben. Der Bildhauer war eine Koryphäe des mittelalterlichen Flügelaltarbaus, der es schaffte, seine Kunstwerke in klerikale Exportschlager zu verwandeln.

Blick in die Kirche von Brienz mit dem Pfarrer und den Gläubigen: in Hintergrund der Flügelaltar
Blick in die Kirche von Brienz mit dem Pfarrer und den Gläubigen: in Hintergrund der Flügelaltar

Künstlerwerkstatt von Yvo Strigel

Yvo Strigel (1430 bis 1516) entstammte der gleichnamigen süddeutschen Künstlerfamilie. Er leitete seit etwa 1480 eine Künstler-Werkstatt in Memmingen, die zahlreiche Altäre herstellte und diese in Süddeutschland, Tirol, Graubünden und bis ins Tessin vertrieb.

Warum sich gerade das kleine bünderische Dorf Brienz so eine Kostbarkeit leisten konnte, kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur vermuten, Urkunden liegen nicht vor. Viele Retabel wurden  als  Sammelspende finanziert, das ist typisch in Graubünden. «Zum anderen lag der Ort auf einer Handelsroute über die Alpen.»

Karolina Soppa bei der Arbeit am Flügelaltar
Karolina Soppa bei der Arbeit am Flügelaltar

Der Flügelaltar sei in der Kirche früher übrigens an herkömmlichen Sonntagen nicht immer geöffnet und in der Fastenzeit immer geschlossen gewesen. Auf jeden Fall an hohen kirchlichen Feiertagen wurde das «sakrale Sesam-Öffne-Dich» aufgeklappt, und die Gläubigen konnten dann über das göttliche Gold staunen.

Dem Heiligen Calixtus gewidmet

Dass der Altar in Brienz dem heiligen Calixtus gewidmet ist, einem Märtyrer-Papst, den man im dritten Jahrhundert der Legende nach in den Brunnen warf, muss ebenfalls als aussergewöhnlich bezeichnet werden. «Häufig wurden Flügelaltäre Maria oder dem heiligen Johannes dem Täufer gewidmet», sagt Soppa. Der Altar sei auf jeden Fall von unschätzbarem Wert.

«Ich hoffe für die Brienzer, dass der bevorstehende Felssturz sich nur in kleinen Schüben vollzieht.»

Karolina Soppa

Im Juli/August soll der Altar von der Hochschule der Künste Bern nun konserviert und restauriert werden. «Ich hoffe für die Brienzer, dass der bevorstehende Felssturz sich nur in kleinen Schüben vollzieht, und die Kirche erhalten bleibt», sagt die Restauratorin. «Unser grösster Wunsch ist es jedenfalls, den Brienzern ihren Flügelaltar so bald wie möglich wieder zurückzubringen.»

Er bleibt vorerst, wohin er evakuiert wurde: Ganz vorsichtig wurden die Einzelteile des Flügelaltars in Brienz abgebaut.
Er bleibt vorerst, wohin er evakuiert wurde: Ganz vorsichtig wurden die Einzelteile des Flügelaltars in Brienz abgebaut.

Dass der Flügelaltar, das kostbarste Stück im Dorf, den Brienzern sehr viel bedeutet, haben Karolina Soppa und die bündnerische Denkmalpfleger, Simon Berger, bereits erfahren. «Als wir den Altar schon im Vorfeld der Evakuation des Dorfes holen wollten, bestanden die Brienzer darauf, den Altar vorerst noch im Dorf zurückzubehalten.» Aber damals verlangsamte sich die Dorf- und Bergrutschung stetig und diese dramatische Entwicklung war bei Weitem nicht vorherzusehen.


Gläubige beim Novenengebet in der Pfarrkirche St. Calixtus, vorne im Chor steht der Flügelaltar. | © zVg
17. Mai 2023 | 14:45
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