Die Schwarze Madonna von Einsiedeln
Theologie konkret

Benediktiner in Bethlehem: «Die Schwarze Madonna ist der beste Impfstoff gegen Rassismus»

Der Benediktiner Nikodemus Schnabel (44) feiert in Bethlehem Weihnachten. Ein Gespräch über Karin Keller-Sutters eindrückliche Bethlehem-Erfahrung, die Schwarze Madonna von Einsiedeln, Probleme mit jüdischen Nationalisten – und den Liturgie-Streit in der syro-malabarischen Kirche.

Raphael Rauch 

Die Schweizer Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagte über ihren Besuch in der Geburtskirche in Bethlehem: «Ich hatte nie im Leben so eine starke körperliche Empfindung wie in Bethlehem.» Und: «Es hat mich durchgeschüttelt und berührt mich jetzt wieder.» Überrascht Sie dieses Bekenntnis?

Pater Nikodemus Schnabel*: Es freut mich, dass eine führende Politikerin so offen über ein religiöses Erlebnis spricht. Die Aussage zeigt, dass Orte wie die Geburtskirche eine Wirkung haben, die wir manchmal gerne unterschätzen. Stattdessen führen wir Scheindebatten wie: Ist das jetzt wirklich die Geburtsstätte? Ist Jesus nicht in Nazareth geboren? Eine exakte Antwort werden wir nie herausfinden. Es steht aber fest, dass die Geburtskirche seit über 1700 Jahren eine grosse Faszination ausübt. Ich finde den Gedanken schön, dass an dem Ort, wo Inkarnation stattfindet, wo also das Wort Fleisch wird, Menschen körperlich etwas spüren.

Der Benediktiner Nikodemus Schnabel.
Der Benediktiner Nikodemus Schnabel.

Löst die Geburtskirche bei Ihnen körperlich etwas aus?

Schnabel: Es kommt darauf an. Wenn ich die Geburtskirche in Stille und Intimität erlebe, dann ja. Wenn aber Touristenmassen durchgejagt werden, finde ich Pilgerstätten sehr anstrengend. Am 17. Dezember habe ich mit einer kleinen Gruppe von 20 meiner Gujarati-sprachigen Indern die Messe in der Josephsgrotte gefeiert, direkt neben der Geburtsgrotte. Das ist ein winzig kleiner Ort. Das war sehr, sehr bewegend. Und ich weiss, dass es ein Privileg ist, mit Patriarch Pizzaballa in Bethlehem Weihnachten zu feiern.

Die Geburtsgrotte unterhalb der Geburtskirche in Bethlehem. Auf dem silbernen Stern steht: «Hier wurde von der Jungfrau Maria Jesus Christus geboren».
Die Geburtsgrotte unterhalb der Geburtskirche in Bethlehem. Auf dem silbernen Stern steht: «Hier wurde von der Jungfrau Maria Jesus Christus geboren».

Konnten Sie sich gut auf Weihnachten einstimmen – oder war es eher eine XS-Adventszeit?

Schnabel: Die Adventszeit könnte doch immer länger ausfallen, weil viel zu viele Termine anstehen (lacht). Ich bin sehr dankbar über die Erfahrungen, die ich mit Migrantinnen und Asylsuchenden machen darf. Dank der Philippinerinnen bin ich jetzt total in «Simbang Gabi»-Stimmung. Ich sage Philippinerinnen, weil 90 Prozent hier tatsächlich Frauen sind. 

Philippinische Katholiken feiern mit Papst Franziskus "Simbang Gabi"
Philippinische Katholiken feiern mit Papst Franziskus "Simbang Gabi"

Was ist «Simbang Gabi»?

Schnabel: Wir kennen in unserer Liturgie die O-Antiphonen – spezielle Gebete in den letzten acht Tagen vor Weihnachten. Einen ähnlichen Countdown, aber mit ganz anderer Bedeutung gibt’s auf den Philippinen. Der Brauch heisst «Simbang Gabi». Das sind insgesamt neun Messen mitten in der Nacht – vom 16. bis zum 24. Dezember. Das Besondere: offiziell ist noch Adventszeit, tagsüber gilt die liturgische Farbe violett. Aber nachts ist schon Weihnachten: Die liturgische Farbe ist dann weiss. Es gibt das grosse Gloria und zum Essen Spanferkel. Dieses Fest ist der totale Wahnsinn und hat nichts mit unserem Christbaum-Lametta-Weihnachten zu tun.

Eine Krippenszene zeigt das Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf dem Petersplatz im Vatikan.
Eine Krippenszene zeigt das Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf dem Petersplatz im Vatikan.

Das Weihnachts-Evangelium verspricht uns «Frieden auf Erden». Ist das zynisch, wenn wir in die Ukraine, nach Syrien oder ins Heilige Land blicken?

Schnabel: Das Weihnachtsevangelium ist kein leeres Versprechen. Wir hatten am 23. Dezember die Lesung vom Propheten Maleachi. Er beklagt: Alles ist im Eimer, alle sind korrupt und verkommen. Klar wird: Kein Mensch kann uns aus dieser Misere retten. Das kann nur Gott. Und genau das feiern wir an Weihnachten. Wir Menschen können unser Bestes geben. Aber letztendlich ist Frieden ein Geschenk – denn Frieden ist mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Von daher heisst Weihnachten auch: sich demütig an der Krippe zu versammeln und zu sagen: Hier stehe ich mit meinen Sehnsüchten, mit meinen Abgründen – bitte, erneuere mein Herz. Das grösste Problem der heutigen Zeit ist, dass wir diese Sehnsucht verlernt haben.

Weihnachtsbeleuchtung in Zürich
Weihnachtsbeleuchtung in Zürich

Warum ist das ein Problem?

Schnabel: Die Sehnsucht wird mit Placebos befriedigt: Konsum, Anerkennung und materieller Besitz. Dabei wartet auf uns ein echtes Leben in Fülle!

Wenn es keinen «Frieden auf Erden» gibt, mir aber dennoch ein «Leben in Fülle» versprochen wird: Ist Religion doch nichts anderes als Kontingenzbewältigung?

Schnabel: Nein! Ich habe mit vielen Menschen zu tun, die nur deshalb morgens aufstehen, weil sie von einer tiefen Hoffnung, von einer tiefen Sehnsucht getragen sind. Der Glaube ist für viele meiner Migrantinnen der einzige Grund, warum sie ihrem irdischen Leben kein vorzeitiges Ende bereiten.

Auch David stammte aus Bethlehem. Hier ein Gemälde von Marc Chagall in der Knesset in Jerusalem.
Auch David stammte aus Bethlehem. Hier ein Gemälde von Marc Chagall in der Knesset in Jerusalem.

Sie sind auch für Geflüchtete zuständig, die zum Teil keine Papiere haben. Können diese an Weihnachten nach Bethlehem?

Schnabel: Dafür gibt es keine Garantie. Aber es gibt eine Tradition, wonach die Checkpoints am 24. und 25. Dezember etwas durchlässiger sind, damit die Christinnen und Christen zur Geburtsstadt Jesu pilgern können.

Die Jerusalemer Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg
Die Jerusalemer Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg

Ihre Dormitio-Abtei ist immer wieder Zielscheibe von jüdischen Nationalisten. Gelten für Weihnachten erhöhte Sicherheitsmassnahmen?

Schnabel: Leider gibt es nationalistische Kreise, die ein ausschliesslich jüdisches Jerusalem wollen und Christen und Muslime als Störenfriede empfinden. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass nach dem Schabbat, also am Samstagabend, gegen uns Stimmung gemacht wird. Mal werden wir beschimpft, mal bespuckt, mal wird randaliert. Da der Heilige Abend dieses Jahr auf einen Samstagabend fällt, sind wir besonders wachsam.

Die Hoffnung auf das himmlische Jerusalem – gemalt von Marc Chagall in der Knesset von Jerusalem.
Die Hoffnung auf das himmlische Jerusalem – gemalt von Marc Chagall in der Knesset von Jerusalem.

Warum gibt’s vom rechtsnationalen Flügel immer wieder antichristliche Polemik? Christliche Pilgerinnen und Pilger sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Schnabel: Das verstehe ich auch nicht. Ökonomisch betrachtet profitiert Israel von den Christinnen und Christen stark – und auch von den Musliminnen und Muslimen. Jerusalem lebt vom Image, Stadt der drei Weltreligionen zu sein. Doch mit Feindbildern lässt sich nun einmal auch Politik machen. Rechtsnationale Parteien behaupten, der jüdische Charakter Jerusalems sei in Gefahr.

Chanukka-Leuchter
Chanukka-Leuchter

Dieses Jahr fallen Weihnachten und Chanukka zusammen. Die letzte Chanukka-Kerze wird am Stephanstag entzündet, am 26. Dezember. Gibt es in Jerusalem «Weihnukka», also Mischformen aus beiden Festen?

Schnabel: Ich kenne kein «Weihnukka» in Jerusalem. Für mich klingt das nach einem Sehnsuchtsort der Jeckes, also der deutschsprachigen liberalen Juden, die vor oder nach dem Holocaust nach Israel kamen. Deren Stimme ist leider verstummt. Stattdessen macht sich der Rechtsruck der israelischen Regierung immer mehr bemerkbar. Ich habe dieses Jahr in Jerusalem keinen einzigen Christbaum gesehen – früher gab’s einen am Jaffator. Das ist aber politisch nicht mehr erwünscht. Und bei einem städtisch organisierten Weihnachtsmarkt gibt es alles zu kaufen – aber nichts Christliches. Es gibt Weihnachtsmänner und ganz viel Kitsch – aber keine Krippe, keinen Stern, keinen Weihnachtsbaum. Für mich hat das «Väterchen Frost»-Stimmung. Man hört da auch viel Russisch.

«Hier gibt es keine Verrenkungen einer sich selbst säkularisierenden Gesellschaft.»

In den USA wünscht man sich oft «Season’s Greetings». Was wünscht man sich in Israel?

Schnabel: Das ist zum Glück ganz unkompliziert. Hier gibt es keine Verrenkungen einer sich selbst säkularisierenden Gesellschaft. Deutsche Stiftungen in Jerusalem verschicken manchmal verklemmte «Season’s Greetings». Aber so wie ich Muslimen zum Opferfest gratuliere und Juden zu Chanukka, so sagen viele Nicht-Christen zu uns: «Merry Christmas». Religiöse Wünsche sind hier alltäglich.

Jerusalem
Jerusalem

Sie werden zu einem späteren Zeitpunkt Weihnachten mit syro-malabarischen Christinnen und Christen feiern. In Indien tobt ein Liturgie-Streit: Sollen die syro-malabarischen Priester mit dem Rücken zum Volk zelebrieren oder nicht? Spüren Sie etwas von diesem Liturgie-Streit?

Schnabel: Diesen Streit gibt es zum Glück nur in einer Diözese in Indien – und nicht bei uns. Ich war zum Papst-Besuch in Bahrain und hatte das Glück, im selben Bus wie der wunderbare Kardinal Mar George Alencherry zu sitzen. Wir konnten ausführlich über diesen Liturgie-Streit sprechen und ich habe ihm versichert: Wir halten uns an die Regeln.

Papst Benedikt XVI. hat George Alencherry (r.) 2012 in den Kardinalstand erhoben.
Papst Benedikt XVI. hat George Alencherry (r.) 2012 in den Kardinalstand erhoben.

Und wie sehen die aus?

Schnabel: Es gibt einen offiziellen Kompromiss: Der Wortgottesdienst wird so wie im lateinischen Ritus gefeiert, also der Priester ist der Gemeinde zugewandt. Die Eucharistiefeier feiert er ad orientem. Und zum Schlusssegen wendet sich der Priester wieder der Gemeinde zu. Bei uns im Heiligen Land ist das wirklich kein Problem. Ich sage zu meinen Leuten: Seid stolz auf euren Ritus! Bleibt ihm treu! Macht nicht das, was ihr in Rom gelernt habt: dass man eine Messe auch in 35 Minuten runternudeln kann. Meine Gottesdienste dauern mindestens eine Stunde.

Äthiopien im Berner Haus der Religionen
Äthiopien im Berner Haus der Religionen

Stellen sich auch in anderen unierten Kirchen liturgische Fragen?

Schnabel: Ja, zum Beispiel bei meinen Eritreern und Äthiopiern. Da kann ein Gottesdienst schon mal vier Stunden dauern. Am Anfang war es so: Der Priester wollte mir etwas Gutes tun – und hat die Liturgie zusammengekürzt. Ich habe ihn dann gefragt: Warum machst du das? Dann meinte er, er will mir keinen langen Gottesdienst zumuten. Dann habe ich gesagt, dass ich auch gerne stundenlang Gottesdienst feiere und er doch bitte seiner schönen Liturgie treu bleiben soll. Wir müssen die eigene Tradition neu entdecken und wertschätzen. Das ist für mich echte Ökumene: Wenn sich die katholischen Ostkirchen nicht latinisieren, sondern authentisch bleiben und so auch eine echte Brückenbauer-Funktion zur Orthodoxie einnehmen. Von der Orthodoxie bekommen wir ja oft genug zu hören, dass die katholischen Ostkirchen gar keine richtigen Ostkirchen seien, sondern eine lateinische Kirche mit östlicher Verkleidung. 

Markt auf den Philippinen
Markt auf den Philippinen

Wir hatten’s vorhin von Weihnachten als Sehnsucht. Wovon träumt eine typische Philippinerin, um die sie sich kümmern?

Schnabel: Die meisten machen einen Deal mit der eigenen Biographie: Ich lasse mich fünf Jahre ausbeuten – und kehre dann auf die Philippinen zurück, wo ich mir eine Wohnung oder ein Haus kaufen kann. 80 Prozent des Gehalts wird meistens sofort in die Heimat geschickt. Aus den fünf Jahren werden oft mehr Jahre, weil die Rechnung nicht so leicht aufgeht.

Kerze für die Opfer des Ukraine-Krieges in Einsiedeln im April 2022.
Kerze für die Opfer des Ukraine-Krieges in Einsiedeln im April 2022.

Vor drei Jahren haben Sie eine Auszeit genommen und in Einsiedeln Weihnachten gefeiert. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Schnabel: Das war wunderschön. Ich erzähle ja immer wieder, dass ich ein grosser Fan von Einsiedeln bin. Wenn mich ein junger Mann fragt, wo er im deutschsprachigen Raum Benediktiner werden soll, dann empfehle ich Einsiedeln. Das Gemeinschaftsleben ist gesund, die Liturgie wunderbar, die Altersstruktur stimmt, die Gastfreundschaft ist gross, der Pilgerort und die Internatsschule halten die Mönche im positiven Sinn auf Trab. In Einsiedeln ist immer was los! Das habe ich auch während der Weihnachtstage 2019 gespürt. Die Liturgie wird wunderbar gefeiert – und die Gespräche, die ich führen konnte, waren tiefsinnig.

Sie gilt als die bestangezogene aller Marien – die Schwarze Madonna von Einsiedeln.
Sie gilt als die bestangezogene aller Marien – die Schwarze Madonna von Einsiedeln.

Welche Weihnachtsbotschaft geht von der Schwarzen Madonna von Einsiedeln aus?

Schnabel: Mich fasziniert, dass mitten in der ländlichen Schweiz eine dunkelhäutige Madonna der Sehnsuchtsort schlechthin ist. Die Schwarze Madonna ist der beste Impfstoff gegen Rassismus und menschengemachte Einteilungen in Klassen. Dies ist zugleich eine Aufforderung an die Kirche, ihren eigenen strukturellen Rassismus zu reflektieren. Schauen wir uns die Menschen in den Gremien in Deutschland und in der Schweiz an: Wie viele davon haben einen Migrationshintergrund? Wo sind die modernen Sklaven, die auch in Deutschland und der Schweiz tätig sind? Die Reinigungsfrau aus Indien, die Pflegekraft aus den Philippinen, der Tellerwäscher aus Afrika? Welche Ängste, Sorgen und Nöte haben sie? Mit «Frieden auf Erden» ist nicht nur der Frieden in der Ukraine, in Syrien oder im Jemen gemeint. Sondern auch der soziale Frieden bei uns. Auch bei uns sollen alle Menschen glücklich werden. Dazu gehört auch Teilhabe.

* Der Benediktiner Nikodemus Schnabel (44) ist Mönch der Dormitio-Abtei in Jerusalem, promovierter Liturgiewissenschaftler und Ostkirchenkundler. 

Der Patriarch von Jerusalem, Pierbattista Pizzaballa, hat Nikodemus Schnabel 2021 zum Patriarchalvikar für Migranten und Asylsuchende in Israel ernannt. Er ist damit für mehr als 100000 katholische Migrantinnen und Migranten verantwortlich. Sie stammen vor allem aus den Philippinen, Sri Lanka und Indien. Hinzu kommen viele Asylsuchende, etwa aus Eritrea, Äthiopien und dem Sudan.

Zuletzt ist von ihm erschienen: «#FragEinenMönch: 100 Fragen (und unzensierte Antworten)» (Adeo-Verlag).


Die Schwarze Madonna von Einsiedeln | © Christian Merz
25. Dezember 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 8 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!