Barbara Lehner, freischaffende Theologin.
Theologie konkret

Barbara Lehner: «Eine Spiritualität ohne Körper ist nur die halbe Sache»

Das neue Jahr beginnt oft mit Neujahrsvorsätzen: abnehmen, Achtsamkeit, mehr Sport. Barbara Lehner (55) stammt aus dem Wallis. Dort hat sie als Kind einen sinnlichen Katholizismus erlebt, der sie bis heute prägt. Sie ist überzeugt: Der Priester, die Ritualbegleiterin muss präsent sein – mit Leib und Seele. Und darf ein Gebet nicht wie ein Küchenrezept vortragen.

Barbara Ludwig

Warmes Kerzenlicht leuchtet in dunklen Kirchen, besonders intensiv in Rorate-Feiern oder in der Osternacht. Weihrauch steigt auf, wenn der Priester den Altar inzensiert. Barbara Lehner (55) kennt das aus ihrer Kindheit und Jugend im Wallis. «In der katholischen Tradition und Liturgie gibt es – Gott sei Dank – eine gewisse Sinnlichkeit», sagt sie.

Licht im Dunkeln: Rorate-Gottesdienst.
Licht im Dunkeln: Rorate-Gottesdienst.

Wir sind am Sitz der Firma «Lebensgrund GmbH», die sie zusammen mit Antoinette Brem führt. Zum Gespräch hat die freischaffende Theologin Kaffee und Guetzli angeboten – auch etwas für die Sinne, wie sie mit einem Augenzwinkern meint.

«Der Priester war körperlich nicht spürbar»

Die sinnliche Dimension werde nun auch von den Reformierten gesucht, stellt Barbara Lehner fest: «Der Mensch will als ganzer angesprochen werden, nicht nur geistig, sondern auch über die Sinne.» Das erfordere eine körperliche Präsenz der Menschen, die die Gottesdienste oder Rituale leiten und gestalten.

Barbara Lehner bei einer Shibashi-Qigong-Übung.
Barbara Lehner bei einer Shibashi-Qigong-Übung.

Kürzlich habe sie eine Trauerfeier mit einem Priester erlebt, die sie mitgestaltet habe: «Das war ein ganz offener und toller Typ. Aber als er die Urne mit den formellen Worten segnete, war er nicht in Kontakt mit dem, was er tat. Er war körperlich nicht spürbar. Er hätte ebenso gut ein Küchenrezept ablesen können.»

Die Erde in die Hand nehmen

Ein anderes Mal habe sie erlebt, wie der Pfarrer bei einer Beerdigung die Erde in seine Hände nahm und auf den Sarg rieseln liess – und die kleine Schaufel, die andere dafür benutzen, links liegen liess. «Das macht einen Unterschied», stellt Barbara Lehner fest. Durch die sinnliche Berührung mit der Erde entstehe ein innerer Bezug zum vollzogenen Ritual.

Seelsorgende, Liturginnen und Liturgen sollten lernen, mit Leib und Seele präsent zu sein. Bereits im Theologiestudium, spätestens aber in der Berufseinführung sollte das ein Thema sein, sagt Lehner.

Im Alltag verwurzelt

Eine Spiritualität ohne Körper ist aus Sicht der Theologin «nur die halbe Sache». Eine Spiritualität, die nur Geistiges sucht, sei nicht verwurzelt im Hier und Jetzt, im ganz konkreten Alltag. «Gerade im Alltag aber muss sie sich bewähren.»

Barbara Lehner (vorne) unterrichtet Shibashi-Qigong.
Barbara Lehner (vorne) unterrichtet Shibashi-Qigong.

Barbara Lehner hat sich mit spirituellen Traditionen Asiens befasst, auch mit westlicher Mystik und Ritualen. Seit 30 Jahren praktiziert sie Shibashi-Qigong. Die Bewegungsmeditation umfasst als Teil der chinesischen Heilskunst 18 Gesundheitsübungen des Qigong. Sie sei seit jeher mehr in einer mystischen Tradition zuhause als in einer institutionellen, bekennt die Walliserin. «Die unmittelbare Erfahrung ist mir wichtiger als das Gebäude rundherum.»

Was ist denn nun Körperspiritualität? Körperspiritualität bedeute, über den Körper Zugang zum Ganzen zu suchen, den Leib als ein Instrument der Seele zu betrachten und ihn als unser Daheim auf Erden zu würdigen, sagt die Theologin.

Mit der Schöpfung verbunden

«Wenn ich mit meinem Körper verbunden und mit meinen Sinnen in der Welt präsent bin, bin ich auch mit der Schöpfung verbunden. Und das ist auch ein Zugang zu Gott.»

Shibashi-Qigong ist eine Bewegungsmeditation.
Shibashi-Qigong ist eine Bewegungsmeditation.

Zu diesem Präsent-sein-in-der-Welt kann die Praxis des Qigong beitragen. Im Qigong sei die Verbindung zur Erde wichtig, die Verbindung zum Himmel und die Verbindung zum Herzen. Barbara Lehner streckt einen Arm in die Höhe, um die Vertikale und «die innere Achse zwischen Himmel und Erde» anzudeuten.

«Vom Herzen aus leben wir die Verbindung zu den Mitmenschen.»

«Und vom Herzen aus leben wir horizontal die Verbindung zu den Mitmenschen. Beide Ausrichtungen ergeben ein Kreuz. Und ihr Treffpunkt ist die Herzmitte», sagt Lehner. Dass die Grundhaltung des Qigong mit dem Kreuz zusammenfällt, ist für sie kein Zufall. «Wir glauben, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist. Wie unser menschliches Herz ist er ein Zentrum des Seins und leuchtet in seiner innigen Verbundenheit von Himmel und Erde, Gott und Mensch. Das ist für mich die Essenz des christlichen Symbols.»

Abwertung des Leibes

Barbara Lehner weiss jedoch um die leibfeindliche Seite des abendländischen, vom Hellenismus geprägten Christentums. Der Dualismus sei verbunden gewesen mit einer Abwertung der Erde, des Leibes und der Frau zugunsten des Himmels, des Geistes, des Mannes. «Man hat Geist und Leib auseinandergerissen und das eine als edler angeschaut als das andere.»

Heiligenschein um das Haupt des Heiligen Azor, Details eines Mosaiks in der Geburtskirche in Bethlehem.
Heiligenschein um das Haupt des Heiligen Azor, Details eines Mosaiks in der Geburtskirche in Bethlehem.

Die Theologin hat in der christlichen Ikonografie eine interessante Entdeckung gemacht: Der Heiligenschein umstrahle bei den meisten Darstellungen von Heiligen bloss den Kopf – weil der Körper in Verruf geraten sei. Das sei eine zwiespältige Sache, findet sie. «Wenn wir nur mit dem Geist unterwegs sind, verpassen wir das Zentrum der christlichen Botschaft: Gott wird Mensch, das Wort wird Fleisch.» Also just das, was Christinnen und Christen an Weihnachten feiern.

Gebetshaltungen des Dominikus

Barbara Lehner weiss jedoch: Trotz allem – auch in der christlichen Tradition – finden sich ganzheitliche Praktiken. Zum Beispiel die Gebetshaltungen des 1221 verstorbenen Heiligen Dominikus. Sie zeigt ein Buch aus ihrer Bibliothek: Dominikus hat mit ausgebreiteten Armen gebetet, hat im Gebet die Arme zum Himmel erhoben. «Das ist eine alte Sache. Schon Dominikus sagte, es sei wichtig, den Körper mit ins Gebet zu nehmen.»

Barbara Lehner bietet Shibashi-Qigong-Kurse an, führt Trauerrituale durch und bietet Ausbildungen in diesem Bereich an. Sie arbeitet aber nicht in der katholischen Kirche. Der Rahmen sei ihr zu eng geworden, gibt sie offen zu. Doch die Verbundenheit mit der Tradition, die Liebe zu den vielen Schätzen dieser Tradition und die Begeisterung für Jesus von Nazareth sind geblieben. Das wird spürbar in der Begegnung mit dieser Frau.

«Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach»

Diesen Bibelvers bürstet Barbara Lehner gegen den Strich. Einerseits gebe es die Erfahrung des Alltags. «Man nimmt sich vieles vor, und setzt wenig davon um.» Aber man könne den Vers auch als Einladung betrachten, barmherziger mit sich selbst zu sein, statt den Geist über den Leib zu stellen. «Wir sind körperliche Wesen, die geistige Erfahrungen machen. Man kann auch sagen: Wir sind geistliche Wesen, die körperliche Erfahrungen machen.» Körper sein heisse auch, die Begrenztheit und die Verletzlichkeit anzunehmen. So wie Gott das gemacht habe, als er Mensch wurde. «Ein Kind friert in der Krippe. Es ist nicht klinisch sauber und als Kopfgeburt zur Welt gekommen.» (bal)


Barbara Lehner, freischaffende Theologin. | © zVg
1. Januar 2023 | 05:00
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