Astrid Kaptijn
Schweiz

Astrid Kaptijn: «Es wäre richtig, die Rechte der Missbrauchsopfer zu präzisieren»

Es braucht einen besseren Opferschutz und eine verbesserte Transparenz, sagt die Freiburger Kirchenrechtsprofessorin Astrid Kaptijn. Auch Änderungen im Kirchenrecht seien notwendig. Dies als Reaktion auf die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche der Schweiz.

Laura Quadri, catt.ch / Adaption Regula Pfeifer

Kritiker sagen, die Missbrauchsstudie der Universität Zürich sei wissenschaftlich ungenügend. Wie haben Sie als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats mit den Forscherinnen zusammengearbeitet?

Astrid Kaptijn: Der wissenschaftliche Beirat für das Pilotprojekt zum Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz wurde von der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte einberufen. Diese engagierte dafür hauptsächlich Geschichtsprofessoren mit Erfahrung in der Archivrecherche.

«Der Beirat traf sich regelmässig mit den beiden Professorinnen.»

Der Beirat traf sich regelmässig mit den beiden Professorinnen, welche die Studienleitung innehatten, und deren Mitarbeitenden. Gemeinsam entschieden wir, welche Archive berücksichtigt würden, wir diskutierten vorgefundene Probleme und klärten Fragen zum Funktionieren der Kirche. Schlussendlich besprachen wir den Entwurf des Berichts.

Papst Franziskus bei einer Generalaudienz am 19. April 2023 auf dem Petersplatz im Vatikan.
Papst Franziskus bei einer Generalaudienz am 19. April 2023 auf dem Petersplatz im Vatikan.

Der letzte bedeutende Beitrag des Papstes zum Thema Missbrauch datiert vom letzten März. Was hat das Dekret «Vos estis lux mundi» gebracht?

Kaptijn: Das neue «Motu proprio» ersetzt das vorhergehende aus dem Jahr 2019. Inzwischen hat das Dikasterium für die Glaubenslehre im Jahr 2022 einen Leitfaden publiziert. Darin ist das Vorgehen beschrieben, das die Bischöfe auf lokaler Ebene im Umgang mit Missbrauchsfällen befolgen müssen. Dazu gehören unter anderem die Voruntersuchungen zum Missbrauchsfall, deren Etappen und die Übermittlung nach Rom.

«Das beweist den Willen des Vatikans, alle Aspekte der Missbrauchsfrage immer besser zu beleuchten.»

Wie schätzen Sie das Engagement des Vatikans in dieser Frage ein?

Kaptijn: Seit Johannes Paul II. im Jahr 2001 die ersten Vorgaben zu Missbrauch verabschiedete, sind 22 Jahre vergangen. Unterdessen ist der Vatikan zehn Mal auf die Missbrauchsfrage zurückgekommen – entweder der Papst selbst oder Kurienmitarbeitende. Das beweist den Willen, alle Aspekte dieser Frage immer besser zu beleuchten.

Schweizer Bischöfe bei der Vollversammlung im Kloster Einsiedeln, 2023
Schweizer Bischöfe bei der Vollversammlung im Kloster Einsiedeln, 2023

«Die Bischöfe sind verantwortlich für eine stete Erneuerung der Missbrauchs-Vorgaben.»

Wie lassen sich die Beschlüsse des Vatikans zum Missbrauch in den Kirchen tatsächlich umsetzen?

Kaptijn: Was die Zusammenarbeit von Vatikan, Weltkirche und Teilkirche anbelangt: Es liegt klar in der Verantwortung der Bischöfe, für eine stete Erneuerung der Missbrauch-Vorgaben zu sorgen. Das haben die Schweizer Bischöfe letztmals 2019 gemacht. Bislang fehlt eine neue Regelung, welche die in den letzten Jahren beschlossenen Vorschriften des Vatikans aufnimmt.

Im Kirchenrecht ist vorgeschrieben, dass man die Dokumente, welche Vergehen bezüglich Sittlichkeit betreffen, zerstört, wenn die Angeklagten gestorben sind. Oder wenn die entsprechenden Fälle zehn Jahre zuvor mit einer Verurteilung abgeschlossen wurden. Wie lässt sich so ein Gesetz rechtfertigen?

Kaptijn: Die Zürcher Studie hat sich sehr auf die Archive bezogen, weil sie einer Gruppe von Historikerinnen und Historikern anvertraut worden war. Das wird auch die künftige Perspektive sein. Die Bischöfe haben sehr darauf bestanden. Das ist eine gute Sache, aber die Angelegenheit ist kompliziert. Sogar eine Wissenschaftlerin des Forschungsteams hat bemerkt, dass es bei Archiven, die seit Jahrhunderten dokumentieren, nicht unüblich ist Material zu zerstören. Denn oft fehle es an Platz, um alles aufzubewahren.

«Wieso werden ausgerechnet die diözesanen Geheimarchive diesem Verfahren unterworfen?»

Die tatsächliche Frage ist eine andere: Wieso werden ausgerechnet die diözesanen Geheimarchive diesem Verfahren unterworfen? Und nicht die Archive anderer Bereiche? Das ist ein altes Problem, das auch in anderen Ländern bestand, in denen vergleichbare Forschungen gemacht wurden.

Das Kirchenrecht (Codex Iuris Canonici, Cic) hinter roten Buchdeckeln.
Das Kirchenrecht (Codex Iuris Canonici, Cic) hinter roten Buchdeckeln.

Die Schweizer Bischöfe sagten nach der Publikation der Missbrauchsstudie, sie würden das entsprechende Kirchenrecht nicht mehr befolgen.

Kaptijn: Der Gesetzestext stammt aus dem 18. Jahrhundert, ist also ziemlich veraltet. Er ist nicht mehr geeignet für die heutige Zeit. Wenn eine Vorgabe, wie in diesem Fall, nicht mehr den Bedürfnissen der Glaubensgemeinschaft entspricht, verfällt sie. Es ist logisch und offensichtlich, dass sie irgendwann nicht mehr angewandt wird. In der Kirchengeschichte ist das oft passiert.

«Das Recht folgt dem Leben und fördert es.»

Was aktuell in der Schweiz passiert, bedeutet nicht, dass die Bischöfe das Kirchenrecht nicht respektieren wollen. Vielmehr haben sie beschlossen, dass es bezüglich sexuellen Missbrauchs wichtigere Werte gibt, auf die man Bezug nehmen sollte. Und das ist logisch: Das Recht folgt dem Leben und fördert es.

Was halten Sie von der Einführung von Personaldossiers, dank denen der Informationsaustausch zwischen den Bistümern besser funktionieren sollte? Ist das juristisch machbar?

Kaptijn: Hier ist auch das zivile Datenschutzrecht betroffen. Deshalb weiss ich nicht, ob das genauso umsetzbar ist. Entscheidend ist, ob es das Einverständnis der betreffenden Person braucht oder nicht, von der Daten weitergegeben werden. Aber sicher bleibt die Möglichkeit, zumindest mündlich zu informieren.

«Sicher lässt sich bezüglich Transparenz einiges verbessern.»

Es gibt viele Fälle von Priester-Versetzungen, auch in der Schweiz. Der Bischof muss informiert sein, und es wäre gut, wenn er sich informieren würde, sofern er keine Informationen erhalten hat. Das wird wohl nicht immer so gehandhabt, und das ist problematisch. Wenn es tatsächlich möglich wäre, diese Dossiers einzuführen – oder auch ein nationales Register – und das in Abstimmung mit dem Zivilrecht, würde das die Kenntnisse über eine Person vereinfachen.

Karteikarten im Archiv
Karteikarten im Archiv

Die Zürcher Forschenden kritisierten, sie hätten keinen Zugang zu den Archiven im Vatikan und der Nuntiatur in Bern erhalten. Was sieht das Kirchenrecht hier vor?

Kaptijn: Alles, was in den Archiven der Dikasterien der römischen Kurie liegt, sind päpstliche Dokumente. Die Kurie arbeitet zur Unterstützung des Papstes. Und das gilt auch für die Nuntiatur: Ihre Archive unterstehen päpstlicher Geheimhaltung, weil sie Entscheide des Papstes selbst betreffen. Dieses Material wird schliesslich in die päpstlichen Geheimarchive gebracht, die als päpstliche Privatarchive gelten. Und diese werden erst 70 Jahre nach Ende des Pontifikats geöffnet.

«Es gibt Ausnahmen. 2020 sind Archive von Papst Pius XII. zur Besichtigung geöffnet worden.»

Gilt das immer?

Kaptijn: Es gibt Ausnahmen. 2020 sind Archive von Papst Pius XII. zur Besichtigung geöffnet worden, also auch für die Forschenden. Pius XII. ist 1958 gestorben, also ist die Zeitspanne von 70 Jahren hier nicht genau eingehalten worden. Jedenfalls habe ich mit Freude in der Zeitung gelesen, der apostolische Nuntius der Schweiz, Martin Krebs, beabsichtige, gemeinsam mit Rom die Öffnung der Archive zu beurteilen. Es besteht Hoffnung, dass sich etwas ändert.

Während die Welt 1942 zerbrach, weihte Pius XII. (1939-1958) sie der Gottesmutter. Zur Shoah schwieg er.
Während die Welt 1942 zerbrach, weihte Pius XII. (1939-1958) sie der Gottesmutter. Zur Shoah schwieg er.

Könnte das Kirchenrecht noch verbessert werden – im Hinblick auf eine verbesserte Transparenz bei Missbrauchsfällen?

Kaptijn: Sicher lässt sich bezüglich Transparenz einiges verbessern. Das wird sicher ein Diskussionsthema an der Bischofssynode sein. Auch die Synodalität betrifft im Grunde die Frage der Transparenz. Wenn die Kirche alle Gläubigen berücksichtigen und in aktiver Art einbeziehen will, heisst das eindeutig: Man muss die Gläubigen informieren. Wenn man hingegen meint, die Kommunikation solle ausschliesslich zwischen dem Papst, der römischen Kurie und den Bischöfen passieren, bedeutet das, dass die anderen immer davon ausgeschlossen sein werden. Die synodale Kirche hingegen will alle einbeziehen und mitverantwortlich machen.

Welche Verbesserungen wären für Missbrauchsopfer möglich?

Kaptijn: Es wäre sicher richtig, ihre Rechte im Kirchenrecht zu präzisieren. Dies vor allem im Abschnitt, der das Vorgehen beschreibt. Dort sind deren Rechte nicht ganz explizit benannt. Das kann zur Folge haben, dass ein Richter diese Rechte vollständig vergessen könnte. Auch die Anwälte können ohne eine rechtliche Basis, um die Rechte ihrer Kundschaft einzufordern, nicht davon ausgehen, dass ihre Intervention angehört wird.

«Opfer dürfen sich nicht im Strafprozess einbringen.»

Heute sieht das Kirchenrecht vor, dass die Opfer eine Wiedergutmachung fordern können. Aber sie dürfen sich im Strafprozess nicht einbringen. Sie dürfen keine Beweise erbringen, keine Zusatzuntersuchung fordern und haben keinen Zugang zu den Prozessakten. Das ist eine sehr einschränkende Bestimmung, die man besser ändern sollte.

Schatten eines Mannes mit Kreuz.
Schatten eines Mannes mit Kreuz.

Könnte das Vertuschen von Beweismitteln mit einem Gesetz strafbar werden?

Kaptijn: Nicht vertuschen bedeutet: Von Beginn an, wenn der Fall gemeldet wird, die ganze Frage im Blick haben. Das Vertuschen wird aktuell mit einer Disziplinarmassnahme bestraft. Bereits das 2019 vom Papst herausgegebene Dokument sieht vor, dass Bischöfe, die Missbrauchsfälle nicht gut angegangen sind – etwa indem sie Untersuchungen ausliessen oder verzögerten –, dem Erzbischof gemeldet werden müssen.

«Ein Strafgericht ermöglicht, eine Expertengruppe im Bereich Strafrecht aufzubauen.»

In der Schweiz gibt es keinen Erzbischof. Aktuell sind Untersuchungen und ähnliche Aufgaben Bischof Bonnemain anvertraut. In der Folge können die Kommunikation ans Dikasterium für die Bischöfe und eine Disziplinarmassnahme erfolgen. Die Vorgabe von 2019, die bereits in einem Dokument von 2016 formuliert wurde, ist nicht sehr bekannt. Aber es wird notwendig sein, darauf zu bestehen, denn sie ist zentral für eine gerechte Behandlung solcher Fälle.

Wie wichtig ist es für die Behandlung der Missbrauchsfälle, ein Strafgericht für alle Bistümer einzurichten, wie das die Bischöfe angekündigt haben?

Kaptijn: Das ist eine Neuheit für die Schweiz, aber nicht für andere Länder. Ein solches Gericht hat in Frankreich im letzten Dezember zu arbeiten begonnen. Ich denke, die Schweizer Bischöfe haben an dieses gedacht bei ihren Überlegungen. Ein nationales Gericht bedeutet, dass die Bischöfe nicht mehr verpflichtet wären, Prozesse zu führen und die Prozessverantwortung ans Diözesangericht weiterzuleiten. Diese Verschiebung erlaubt es, vermehrt unparteiische Urteile zu fällen. Also muss damit nicht beispielsweise ein Priester über einen Mitbruder urteilen, der vielleicht sogar sein Studienkollege war.

Justitia wird im Fall von Benedikt nicht mehr walten können.
Justitia wird im Fall von Benedikt nicht mehr walten können.

Andererseits ermöglicht das Strafgericht, eine Expertengruppe im Bereich Strafrecht aufzubauen. Nicht alle Mitarbeitenden von diözesanen Gerichten haben aktuell diese Kompetenzen, denn bislang beschäftigen sich die diözesanen Gerichte oft mit einem anderen Rechtsbereich, nämlich dem Eherecht und der Frage der Annullierung.

«Im Kollegium der Richtenden kann eine von drei Personen Laie sein.»

Und wie steht es mit der Beteiligung von Laien an diesem Strafgericht?

Kaptijn: Es wäre wichtig, im nationalen Gericht vermehrt auch Katholikinnen und Katholiken ohne Weihe einzubeziehen. Viele Funktionen in einem Gericht können von Laien besetzt werden. In einem Strafgericht braucht es immer ein Kollegium von drei Richtenden. Eine der drei Personen kann Laie sein. Ein Laie kann auch die Aufgabe als Gerichts-Bevollmächtigter des Prozesses übernehmen – oder ein Anwalt. Wenn die Schweizer Bischöfe diesen Aspekt berücksichtigen, kann das zu einer grösseren Transparenz und Unparteilichkeit führen. 

*Astrid Kaptijn ist Professorin für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Sie ist Mitglied im wissenschaftliche Beirat für das Pilotprojekt zur Geschichte sexueller Ausbeutung im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Dieser begleitete die Studie der Universität Zürich wissenschaftlich.


Astrid Kaptijn | © zVg
4. Oktober 2023 | 09:30
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