Armut steigt stark an: Caritas kritisiert Seco

Corona stürzt viele Menschen in Armut. Noch nie hatte die Caritas so viel zu tun wie dieses Jahr. Der scheidende Caritas-Direktor Hugo Fasel kritisiert das Seco: Dieses solle mit Sofort-Zahlungen helfen, statt Menschen zu vertrösten.

Georges Scherrer

Das Schicksal von Alicia ist erfunden. Es ist aber tägliche Realität. So wie dieser Frau ergeht es vielen, die von der Corona-Pandemie betroffen sind: In Gaststätten ist wenig los, Alicia wird nicht eingeteilt, sie erhält kein Geld.

Zum zweiten Mal in diesem Jahr ist Alicia Opfer eines Lockdowns. Die Lokale sind leer. Sie braucht Geld. Sie braucht Hilfe. Die Reserven sind aufgebraucht. Die Miete muss bezahlt werden, auch die Krankenkasse. Rechnungen für verschiedene Fixkosten sind nicht bezahlt.

Der schwierige Gang zur Sozialhilfe

Dann kommt noch das Kind. Auch dieses verursacht Kosten. Sie musste einen Computer für den Sohn besorgen. In dem Fall half die Schule aus. Doch Alicia hat keine Ahnung, wie so ein Ding richtig bedient wird. Sie arbeitet als Kellnerin, kennt sich nicht aus in Informatik und ist jetzt auch noch knapp bei Kasse.

Corona-Kirse: Leeres Restaurant - leere Kasse
Corona-Kirse: Leeres Restaurant - leere Kasse

Sie könnte Sozialhilfe beantragen oder sich bei der Caritas melden, damit diese ihr mit Überbrückungsgeldern aushilft. Doch sie schämt sich, Hilfe zu holen.

Hilfswerke organisieren sich

Alicia ist Schweizerin. Schwieriger hat es ihre Freundin Irma. Sie ist Ausländerin, arbeitet schwarz als Putzfrau. Auch Irmas Schicksal ist frei erfunden – und doch traurige Realität. Irma hat seit Corona weniger Aufträge. Ihre Aufenthaltsbewilligung wird nicht verlängert, wenn sie Sozialhilfe beantragt.

Hier könnten Hilfswerke weiterhelfen. Gleich mehrmals kassieren könne sie aber nicht, sagt Jean-Noël Maillard, Geschäftsleiter der Caritas Jura.

Langfristig denken

Als die Corona-Pandemie ausbrach, haben sich die drei Hilfswerke im Kanton abgesprochen. Jedes Werk war für einen bestimmten Bezirk verantwortlich. Auf diese Weise verhindern sie, dass Hilfebezüger bei verschiedenen Stellen mehrmals abkassieren.

Caritas-Pressekonferenz in Corona-Zeit
Caritas-Pressekonferenz in Corona-Zeit

Corona trifft Frauen härter als Männer, sagt die Caritas. Das Hilfswerk will verhindern, dass Menschen langfristig in die Armut absinken.

Überforderte Sozialhilfesuchende

Finanzielle Einbussen wegen Corona und ungenügende staatliche Unterstützung sind Faktoren, die das Abgleiten in die Armut möglich machen, sagt Marianne Hochuli, Leiterin Bereich Grundlagen bei Caritas Schweiz.

Marianne Hochuli, Leiterin Bereich Grundlagen Caritas Schweiz
Marianne Hochuli, Leiterin Bereich Grundlagen Caritas Schweiz

Besonders gefährdet seien Menschen, die sich – wie Alicia – mit ihrem Budget knapp über der Armutsgrenze bewegen. Der Gang zur Sozialhilfe sei nicht überall einfach. Manchmal liegt es auch an zu komplizierten Formularen. Viele seien überfordert, diese auszufüllen.

Langwierige Verfahren

Der Amtsschimmel ist überall zu Hause. Zuweilen kann es der Caritas-Mitarbeiterin «sehr lange» gehen, bis die Ämter das Geld für die Hilfesuchenden freigeben. Je nach Kanton und Gemeinde gibt es zudem eine «Rückzahlpflicht der Sozialhilfe».

Wer wenig Geld hat, schreckt vor solch einer Vorschrift zurück, sagt Hochuli. Die Person meidet den Gang zur Sozialstelle der Gemeindestelle und sucht irgendwie über die Runden zu kommen. Zu einem späteren Zeitpunkt riskiert sie dabei, zum Sozialfall für die Gemeinde zu werden.

Seco: Worte statt Geld

Hugo Fasel, Ex-Direktor Caritas Schweiz.
Hugo Fasel, Ex-Direktor Caritas Schweiz.

Eine Breitseite gegen das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco schoss Hugo Fasel, scheidender Direktor von Caritas Schweiz. Dieses würde in seinen Arbeitsvermittlungszentren Hilfesuchende all zu oft mit schönen Worten auf eine spätere, bessere Zukunft vertrösten, sagt Fasel am Montag in Bern. Er geht in den Ruhestand. Es ist seine letzte Pressekonferenz für Caritas Schweiz.

Das Seco müsse mit Direktzahlungen helfen, fordert Fasel – «auch wenn die Not der Armen in der Schweiz nicht derartige Schlagzeilen auslöst wie leere Fussballstadien». Ihm schwebt ein Modell wie Hilfszahlungen für die Landwirtschaft oder die Sportvereine vor.


30. November 2020 | 18:03
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«Grösste Hilfsaktion» in der Caritas-Geschichte

Caritas Schweiz und seine 16 regionalen Organisationen haben seit Beginn der Corona-Krise im März 14’000 in Not geratene Personen mit fünf Millionen Franken Direkthilfe unterstützt. Die Gesamthilfe beläuft sich auf 12,2 Millionen Franken und erreicht unter anderem über die Caritas-Läden 100’000 Personen.

Neben Geld gab es auch zahlreiche Beratungen, sagt Bruno Bertschy, Leiter Bereich Projekte bei Caritas Schweiz. Seit März wurden fast 10’000 Beratungen für hilfesuchende Menschen durchgeführt und damit rund doppelt so viel wie in «normalen Jahren».

Stiftungen und Firmen

Darum spricht Bertschy von der «grössten Hilfsaktion» der Caritas in der Schweiz. Das war nur möglich aufgrund grosser Unterstützung von auswärts. 9,7 Millionen Franken kamen aus der Kasse der Glückskette. Ferner machten für das Hilfswerk viele Einzelpersonen, Stiftungen und auch Firmen Geld locker.

Einzelne Kantone vertrauten zudem der Caritas Aufgaben im Sozialhilfebereich an, was auch mit Geldzahlungen verbunden ist.

500’000 Masken

Zulieferer der 21 Caritas-Läden kamen zudem dem Hilfswerk entgegen und gaben ihre Produkte billiger ab. Die Kunden der Läden erhielten bei ihren Besuch jeweils eine Maske. Bis Ende Jahr sollen auf diese Weise eine halbe Millionen Masken verteilt werden.

Ein Ende der Hilfe ist nicht absehbar, sagt Bruno Bertschy. Das Hilfswerk ist auf weitere Hilfe angewiesen. (gs)